Ausblicke

Die „Positivgesellschaft“ bei Byung-Chul Han und die Geschichte von Elke T., einer Kindheit unter der Herrschaft des Positiven
6.01.17Birgit v. Criegern

Vor wenigen Jahren entdeckte ich die Bücher von Byung-Chul Han und fand glücklich die Formulierungen für manches in der gesellschaftlichen Gegenwart, das ich seit langer Zeit nur unbehaglich, ohne Erörterung empfunden hatte. Offenbar ist der Philosoph Han, der in Freiburg und in Berlin an den Universitäten lehrt, einer der GeisteswissenschaftlerInnen, die über sehr interessante und relevante Dinge schreiben, nämlich die Ereignisse in der gegenwärtigen Kultur präzise benennen, die „uns“ täglich beeinträchtigen- uns als Menschen mit grundlegenden seelischen Bedürfnissen und Problemen- und „uns“ als EinwohnerInnen der kapitalistisch eingefahrenen Kultur, mit Gewohnheiten im Ablauf von Arbeiten-Produzieren-Konsumieren und entsprechenden Mediengewohnheiten.

Kritischer Exkurs: Byung-Chul Han, geistvoll-präzise Kulturbeobachtung mit einer großen Lücke im Weltbezug

Nach der Lektüre von einigen Büchern – „Hyperkulturalität“, „Transparenzgesellschaft“, „Müdigkeitsgesellschaft“ und „Zen-Buddhismus“ will ich vielleicht unvollständig aber für mich wesentlich, von diesem Philosophen zusammenfassen: Er beschreibt maßgebliche Entwicklungen in der westlichen kapitalistischen Lebenskultur unter den allpräsenten Sachzwängen und den total umfassend gewordenen Vermarktungsprozessen, und wenn er die Transformierung des Menschenbildes und die Einwirkung auf die Psyche- mit teils kulturpsychologischen Betrachtungen- schildert, wird die Bedeutung des Erörterten für die LeserIn spürbar. Darin ähnelt er, für mich, den wenigen zeitgenössischen DenkerInnen, die die menschliche oder soziale Misere unter dem Kapitalismus konkret formulierten wie Jean Ziegler, Noam Chomsky oder Judith Butler. Jedoch muss ich auch eine Kritik vorausschicken. Denn anders als diese DenkerInnen, will Han offenbar eine Distanzierung zum Marxismus – er bezieht sich zwar auf Foucault, scheint jedoch eine sonderbare Bruchlinie gegenüber dem Marxismus in seiner kulturhistorischen Arbeit zu wünschen. Und das funktioniert letztlich nicht, wie wir unten zeigen werden. Und selbst wenn Foucault sich nicht immer deutlich zum Marxismus äußerte, schien er doch eine gewisse Konsequenz auf der marxistischen Basis nicht zu leugnen; auch Foucault in seinen oft vagen Ausführungen über „das Spiel“ der Macht in der gesellschaftlichen Entwicklung bezog sich zeitweise auf Marx, mußte ihn für wichtig erachten ( z.B. in den Interviews „Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin“ , Merve Verlag 1976. Hier erörtert er u.a. den Marxismus als grundlegend für sein historisches Wirken, auch wenn er sich nicht immer ausdrücklich auf ihn beziehe: „Ich aber zitiere Marx, ohne es zu sagen oder in Anführungszeichen zu setzen…verspürt denn ein Physiker das Bedürfnis, ausdrücklich Einstein oder Newton zu zitieren?“ S.39. In diesem Interview sehe ich zumindest einige deutlich marxistische Äußerungen gegeben, denn hier erörtert Foucault sein historisches Forschen in Hinblick auf die Strafjustiz und Psychiatrie u.a. :“Die Mechanismen der Macht sind in der Geschichte niemals gründlich analysiert worden. Man hat nur die Leute studiert, die Macht ausüben“, S.37.) Offenbar wünscht Han eine Distanzierung zu einem vermeint überholten Marxismus, und hierin liegt die einzige Schwäche des Philosophen. Wie oft muss mensch noch betonen, dass nur die sozialistischen Regierungen mit ihrem Machtzentralismus überholt und gescheitert sind, aber dass das marxistische Denksystem bis heute hochaktuell ist und das wichtigste historische Ereignis bis heute darlegte als Basis für unsere menschheitliche Verantwortlichkeit: die Eroberung des Sozialen und des Menschenbildes durch den Materialismus, und die Diktatur von Mehrwert und Markt in der modernen Zeit.

Hans Schriften schildern Überfälliges und alarmieren- sie erinnern an menschliches Empfinden und Handeln unter der absoluten Funktionalität, die uns heute durch das entgrenzte Arbeiten und das totale Wachstumsgebot auferlegt wird. Und so trifft er mit seinen Büchern zu zeitgemäßen Tendenzen, zu Burnout und Erschöpfung, zu Transparenz und „Ausstellungszwang“ im Internet-Zeitalter oder zum Tod des Eros bei der allpräsenten Pornographie, einen Nerv nach dem anderen in der gesellschaftlichen Entwicklung. Jedoch, er schildert und belegt, er führt aus und beweist. Und in den Schilderungen bleibt er. Vielleicht führt sein Weg, wenn er denn einen kennt, dann doch nur in die Religiosität und Kontemplativität- denn seine Ausführungen zum Zen-Buddhismus im gleichnamigen Buch sind sehr lesenswert und auf ihre Art nachvollziehbar. Doch in den weltlichen Dingen geht sein Denken nur bis an eine gewisse Grenze. Da ist er ein Kulturphilosoph, der uns offenbar gar kein Handeln mehr nahe legt. Da liegt leider eine Beschränktheit der Kulturerörterungen- und ein Unterschied zu anderen wichtigen Philosophen wie Noam Chomsky oder (dem verstorbenen) Günther Anders, die die Bedeutung des Marxismus anerkennen.

Es geht mir nicht um Utopien oder Handlungsempfehlungen, damit unsere Zeit weniger trostlos wäre – nein, in Hans Erörterungen liegt eine einzige Inkonsequenz. Wie mir aus der Lektüre von „Hyperkulturalität“ oder auch „Müdigkeitsgesellschaft“ scheint, will der Kulturphilosoph Han hier die westliche geläufige Kultur wie einen unfraglich fortgeschrittenen Kulturprozess schildern. Ja, der Wahnsinn des ewigen Wachstums, der heute so augenfällig irrational ist scheint noch nicht mal für Han eine Entwicklung des Wahnsinns, der Ideologie, zu sein. Diese Beschränktheit muss sich schmerzlich auswirken, wenn mensch erwartet, dass die PhilosophIn ein Denksystem zur Welt herstellt, mit dem Bestreben, die Welt ganz zu erfassen.
Doch wenn Han tatsächlich die Konsumkultur dermaßen ernst nimmt, und sie als Kultur schlechthin begreift, (post-post-modern, oder wie modern auch immer, jedoch als unabhängige Kultur), dann fehlt etwas Wichtiges in seinem Weltbild. Und mensch fragt sich dann auch, wie er die Geschichte wahrnimmt. Da bleibt Han dem älteren kleinbürgerlichen Glauben an die fortgeschrittene kapitalistische Kultur noch angehaftet. Er blendet das Andere und den Anderen, der von der Markttotalität immer noch täglich zerstört oder verknechtet wird, einfach aus! Und dieses Andere einfach zu verschweigen, so als sei es schon nicht mehr da, ja als habe es nie existiert, das ist dann schon eine leichtsinnige philosophische Handlung.
Kommen wir darum auch auf Hans Schwachstelle zu sprechen: Er sieht den kapitalistischen Wahnsinn heute als offenbar menschlich-kulturell gegeben, und will das Chaos, das heute herrscht, offenbar von innen her reparieren? An einer Stelle im Buch muss er sich denn selbst erklären, wieso sich denn diese westliche Kultur heute so unbehaglich entwickelt hat: „Dem gesellschaftlich Unbewußten wohnt offenbar das Bestreben inne, die Produktion zu maximieren“. („Müdigkeitsgesellschaft“, S. 20, Hervorhebung vom Autor!) Mit diesem Satz, der das Diktat des Mehrwerts leugnen, es vom politischen Diktat wegverlegen will in ein Unbewußtes (!) nach all den beobachteten innenpolitischen Kämpfen seit Stuttgart 21 und abgeriegelten Gipfeltreffen der Mächtigen, und den weltweiten gewaltsamen Prozessen mit Land grab und Umweltzerstörung gegenüber einfachen Landbevölkerungen in den armen Staaten des Südens – ja, mit diesem Satz ist eine Distanz zum Marxismus sicherlich glatt erfolgt, aber dies läßt das Weltgefüge des Philosophen doch sehr wanken. Als Ersatz einer Erklärung versucht er hier, einen neuen Begriff einzuführen, „das gesellschaftlich Unbewußte“, das hier doch nur schwächlich, unverdeutlicht im Raum steht! Und das ist unangenehm, weil Han hier die zahlreichen Opfer der alltäglichen Kämpfe noch mal verschweigt- die Opfer der ausgeweiteten Weltmarktpolitik, die unter der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen leiden, oder die heute zu tausenden an den europäischen Außengrenzen sterben. Wir haben heute so unzählige Gelegenheiten, uns selbständig über die schöne Umsetzung der „Wachstums“-Träume in der Welt zu informieren – und von den Opfern unter der Naturzerstörung, unter Klimawandel und neuen Landkonflikten kann zur Genüge lesen, wen es interessiert, bei „La Via Campesina“, bei „Rettet den Regenwald“ oder „medico-international“ oder „Pro Asyl“. All dies Andere unter einem vermeinten „gesellschaftlich Unbewußten“ zu begraben, heißt einfach, die Nebelmaschine anzuwerfen…. Insofern ist auch Han nicht zeitgemäß. Gerade die DenkerInnen sollten befähigt sein, das Andere und den Anderen noch wahrzunehmen, wenn diese uns von Politik und Medien vorenthalten werden. Deshalb können wir nicht anders, als zwischen westlicher Konsumkultur und Kultur zu differenzieren. Deshalb sollten wir nicht die Prozesse einfach unterschlagen, die den Menschen, abseits der medialen Aufmerksamkeit, in tausendfachen täglichen Ereignissen, unter das Mehrwertdiktat zwingen, in Abhängigkeitsverhältnisse zwingen.
Und der Marxismus bleibt die wichtige Vervollkommnung, um das Weltgeschehen zu begreifen. Etwa in Band 1 des „Kapitals“ wird erinnert, womit „Arbeit“ zu definieren ist: Als ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, der immer wieder mit menschlichen Mühen mit Händen und Kopf erfolgen muss. Und von dieser Gewissheit her können wir den realen Weltbezug herstellen, den wir überhaupt brauchen, um uns über menschliche Lebensgrundlagen oder so etwas wie „Kultur“ zu verständigen. Ich denke, es ist das Wichtigste für den Menschen, und das Schwierigste in der heutigen Zeit überhaupt: In der Welt zu bleiben und Realitätsbezug zu behalten.

Psychisch Krankhaftes in mehreren Eigenschaften der kapitalistischen Gegenwartskultur: Der Positivzwang

Wichtige Begriffe in der Kulturschilderung von Byung-Chul Han lese ich heute, um die Krankheit der Gesellschaft unter der Konsumkultur zu erkennen und in Begriffe zu bringen.
Ein wichtiger Begriff ist die „Positivgesellschaft“, die in mehreren seiner Bücher erörtert wird neben anderen Begriffen. Neuerdings hat Han ihr auch ein gleichnamiges Buch gewidmet.
„Die Positivgesellschaft läßt auch keine Negativgefühle zu. So verlernt man mit Leiden und Schmerz umzugehen, ihm Form zu geben.“ (Han, Transparenzgesellschaft, Verlag Matthes und Seitz, 2012, S. 12. Hervorhebung vom Autor). Und ebd. S. 13: „Die Positivgesellschaft ist dabei, die menschliche Seele ganz neu zu organisieren. Im Zuge ihrer Positivisierung verflacht auch die Liebe zu einem Arrangement angenehmer Gefühle und komplexitäts- und folgenloser Erregungen.“
Seit Jahrzehnten hatte ich dieses Ereignis im gesellschaftlichen Umfeld samt dem gesellschaftlichen, allgemeinen Sprachgebrauch wahrgenommen. Negative Ereignisse und Gefühle waren unter einem Tabu gestanden, durften kaum ausgedrückt werden. War das nicht die herrschende Formel der Älteren seit meiner Jugend? Sei positiv! Rede konstruktiv, anstatt nur zu maulen! „Klage nicht über das Dunkel, sondern zünde ein Licht an.“ Der Positiv-Sprech war besonders stark in den neunziger Jahren, als noch kurz nach dem Mauerfall Versprechungen offen waren und Kritik so wenig Wind in den Segeln hatte, wie vielleicht noch nie.

Was Han als „Positivgesellschaft“ erörtert, ist kulturelle Eigenschaft und zugleich auch ökonomisch, arbeitsmäßig begründet. Während er in „Transparenzgesellschaft“ vor allen Dingen die Entwicklung im Zusammenhang mit der digitalen Kommunikation und mit der Selbstdarstellung und –ausstellung im Internet erörtert, geht es in „Müdigkeitsgesellschaft“ um den Positivzwang für den/ die SelbstausbeuterIn und UnternehmerIn bei der liberalisierten und flexibilisierten Arbeitsform. Freilich sind beide Motive miteinander verwoben, da ja das Kulturelle und das Geld-Erwerbende einander beeinträchtigen, und das digitale Vorgehen bei alldem ohnehin prägend ist, z.B. beim freiberuflichen Arbeiten: „Die kapitalistische Ökonomie unterwirft alles dem Ausstellungszwang. Allein die ausstellende Inszenierung generiert den Wert, jede Eigenwüchsigkeit der Dinge wird aufgegeben.“ („Transparenzgesellschaft“,S. 22, Hervorhebung vom Autor)… „In der ausgestellten Gesellschaft ist jedes Subjekt sein eigenes Werbe-Objekt. Alles bemisst sich an seinem Ausstellungswert. Die ausgestellte Gesellschaft ist eine pornographische Gesellschaft.“ So würde Eros und Lust vernichtet. (ebd.) Dies alles passt als Schlüsselwort zu dem, was mensch schon vor zwanzig Jahren anhören mußte: „Man muss sich verkaufen lernen“, eine übliche Parole damals als meine Generation eben das Abitur gemacht hatte, die „Freiheits“-Euphorie der Wendezeit noch nicht ausgeklungen, und die neoliberale Umstrukturierung noch in den Anfängen steckte und sich mit vielen Versprechen schmückte. Das „Positive“ war sehr verbreitet, solange nicht die Ernüchterung folgte. Sollte die „Globalisierung“ nicht die Welt erneuern mit mehr und besseren Arbeitsstellen, und auch soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz sollten drin sein in dem Paket der „neuen Möglichkeiten“. Warum also meckern und motzen, damals in den neunziger Jahren? Und auch „Selbstverwirklichung“ lag als eine von vielen Suggestionen in der neu eröffneten Weltmarktpolitik. Es war eine sonderbare Zwischenzeit. Mit zwanzig Jahren suchte ich damals noch meine Orientierung, währenddessen wurde die Anpassung an den liberalen Optimismus abverlangt. Das politische und gesellschaftliche Umfeld wurde dominiert von zahlreichenStrohfeuern, wie sich zeigen sollte. Die „Freiheit“ der Wendezeit war nur Konsumfreiheit. Der „Frieden“ in der Welt hielt nicht lange, sondern in 1999 behauptete der grüne Außenminister bei der Jugoslawien-Bombardierung, dass es eine „humanitäre Kriegführung“ geben könne.
Die „neuen Möglichkeiten“ der „Globalisierung“ erwiesen sich als kurzlebige Jobs und Praktika, vor allem für Verkaufsstrategien und Werbung, für neue Absatzmärkte westlicher Produkte in den armen Staaten des Südens.
Jedoch der Genderwissenschaftszweig für die neuen KapitalismuskritikerInnen existierte noch nicht.
Ich selbst empfand damals ein gewisses Unbehagen, das ich mit einem vermeintlichen Individualismus begründen wollte- aber später sah ich auch, dass mancher Grund zum Unbehagen gegeben war. Langsam suchte ich nach möglichen Protestformen gegen die Verwertungsmoral und Sozialfeindliches. Damit galt dann meinesgleichen als „negativ eingestellte“ oder „streitlustige“ Person…
Das war vielleicht die neue zeitgemäße Form von bürgerlicher Beschimpfung: „Negative“, anstatt „Arbeitsscheue/ Hippie-Gesocks“ in früheren Zeiten….

Später wurde zunehmend in Politik und Gesellschaft für die Selbstverwertung geworben. Nachdem Arbeitsstellen in großer Zahl wegrationalisiert waren und das Arbeiten dereguliert zugunsten der Flexibilität und der schnelleren Profite, wurde das selbständige Arbeiten mit EinzelunternehmerInnentum zur neuen zeitgemäßen Erwerbsform erklärt. Also verabsolutierte „Positivsprache“, damit die Einzelne und der Einzelne hofft, sich weiter auf dem Markt zu behaupten, und die Ordnung weiter erhalten bleibt mit der „Agenda 2010“ und den Hartzreformen in der Politik.
In „Transparenzgesellschaft“ und in „Müdigkeitsgesellschaft“ wird auch klar, wie im Menschenbild heute auf Persönliches verzichtet wird aufgrund von Marktgeschehen plus digitaler Verwaltung des menschlichen und ökonomischen Geschehens. Im Ausstellungszwang gibt es die Selbstdarstellung oder das Bild nur „in eindeutiger Form“ oder als „einförmige Fotografie“, „glatt, transparent und ohne Brüche“ ( „Transparenzgesellschaft“,S. 45). Bei der „Notwendigkeit, einen Marktwert durch den Ausstellungswert zu erzielen“ (ebd.), verzichte das Menschenbild auf jedes Mehrdeutige, Persönliche, Opake. Und zugleich mit dieser Eindeutigkeit sei auch ein „Ende des Eros“ erreicht (S. 28). Zugleich liege das „Positive“ im Tun heute auch schon in der bloßen Handlung in und mit dem digitalen Geschehen, das keine Distanz und keinen Entzug kennt.
So eigne das Positive dem „Leistungssubjekt“ im gesellschaftlichen Leben und Arbeiten an, schreibt Han in „Müdigkeitsgesellschaft“ (Matthes und Seitz 2010, S. 39). Auch hier wirkt die Distanzlosigkeit in der allgemeinen Arbeitsform der Selbstausbeutung, im freien Unternehmertum. Das Positive deute ich hier wiederum in Form mehrerer Eigenschaften: positiv in sich selbst bewegt sich der Prozeß der „Beschleunigung“, und diesem Prozeß muss das unternehmerische Selbst sich fügen. „Hyperaktivität und Hysterie“ (ebd.) regieren, ein Übermaß an Reizen und Impulsen wirkt heute in der digitalen und medialen Übermittlung. Keine Grenzen, keine Entzugsmöglichkeit: In der Selbstausbeutung des einzelnen Individuums heute sei die Trennung von Herr und Knecht, Ausbeuter und Ausgebeutetem aufgehoben (S.24.). Wenn „Freiheit und Zwang zusammenfallen“ (S.24) ( welch unerträgliches Paradox!), kommt es zu dem heute verbreiteten Erschöpfungssyndrom. Denn „Selbstverwirklichung“ sei eben nicht mehr drin, sei nicht mehr möglich, sondern werde heute überschritten. Denn in der heutigen Beschleunigung muss man sich selbst ständig überfordern, und übrigens: Zu einer Selbstverwirklichung müsste ja eine Grenze gehören zwischen Selbst und Welt, zwischen Innen und Außen, doch die Grenzen sind ja aufgehoben zugunsten der bloßen (Hyper-)Aktivität! So kommt es zur Ausgebranntheit, zur Auslieferung an das totale äußerliche Geschehen. Wenn aber Subjekte heute scheiterten, träten nicht mehr gesellschaftlich „Verbrecher oder Verrückte“ auf den Plan, wie früher in Foucaults Disziplinargesellschaft, sondern „Depressive und Versager“ (Ebd. S. 19f.).

Auch in der Gefühlswelt ist aber offenbar das Positive allgemein durchgesetzt während dem Exzeß der Arbeit und Leistung. Nein, nicht explizit als sprachförmige Doktrin, aber als Folge, da kein Innehalten und „Sehen“, und auch kein Empfinden mehr (zeitlich) ermöglicht sind, schreibt Han konkret auf S. 43 f. „Im Zuge einer allgemeinen Beschleunigung und Hyperaktivität verlernen wir auch die Wut. Die Wut hat eine besondere Temporalität, die sich mit der allgemeinen Beschleunigung und Hyperaktivitä nicht verträgt. Diese läßt keine temporale Weite zu. Die Zukunft verkürzt sich zur verlängerten Gegenwart. Ihr fehlt jede Negativität, die den Blick auf das Andere zuließe. Die Wut stellt dagegen die Gegenwart ganz in Frage. Sie setzt ein unterbrechendes Innehalten in der Gegenwart voraus.( …) (Einen Absatz weiter: ) Die zunehmende Positivisierung der Gesellschaft schwächt auch Gefühle wie Angst und Trauer ab, die auf einer Negativität beruhen, d.h. Negativgefühle sind. Wäre das Denken selbst ein “ Netz aus Antikörpern und natürlichem Immunschutz“, so würde die Abwesenheit der Negativität das Denken in ein Rechnen verwandeln. Der Computer rechnet womöglich deshalb schneller als das menschliche Gehirn und nimmt ohne Abstoßung Unmengen von Daten auf, weil er frei von jeder Andersheit ist. Er ist eine Positivmaschine. Gerade wegen seines autistischen Selbstbezugs, wegen der fehlenden Negativität bringt der idiot savant jene Leistungen hervor, zu denen nur eine Rechenmaschine fähig wäre. Im Zuge jener allgemeinen Positivisierung der Welt verwandeln sich sowohl der Mensch als auch die Gesellschaft in eine autistische Leistungsmaschine.“ (Hervorhebung vom Autor)

Keine Wut, kein Negatives… Auch wenn Han hier nicht das moralische Sprechen erörtert, oder die Doktrin des Positiven, so seh ich das „positive Sprechen“ und Moralisieren als direkte Folge der Leistungssteigerung mit ihrer Positivität. Schlüsselworte sind „Entzug“, „Distanz“, „Grenze“, welche heute wegfallen. Empfinden, beobachten können wir das überall. Und wenn die völlige Indifferenz die Folge ist, so scheint mir das politisch und konformistisch erwünscht. Bei dem Wegfall von Grenzen kann mensch sich keinen eigenen Standpunkt mehr machen!
In der Schule sollen Kinder und Jugendliche das „pro-soziale Verhalten“ üben, wo es sehr viel um Anpassung an autoritäre Anforderungen geht. In heutigen schulischen Lehrplänen gibt es doch wirklich Rollenspiele für Kinder oder Teens als kleine PolitikerInnen, um sich positiv auf die bestehende Ordnung beziehen und Reformvorschläge zu formulieren! Vereinnahmend, glitschig, werden Grenzen überschritten und wird den Teens schon früh mal ausgetrieben, unabhängig zu denken. Ich bin für Differenzen! Worum geht es denn, bitte? Soll für eine Gesellschaft wirklich gelten, sozialen „Frieden“ zu erwirken, indem die Unterschiede vernebelt werden, oder eher, dass wir die Realität genau ansehen und beschreiben lernen? Differenzen sind heute eines der größten Tabus. Allein schon von ihnen zu sprechen, gilt als Potential für soziale Delinquenz und Chaos!

Positivzwang wurde nach meinem Empfinden etwa ausgeübt, als in Dresden in 2014 jenes Rockkonzert „Dresden bleibt bunt“ stattfand mit BAP und Grönemeyer…Wenige Wochen zuvor war ein afrikanischer Geflüchteter auf der Straße erstochen worden, erst auf Nachdruck von antirassistischen Organisationen hatte die sächsische Polizei eingestanden, dass ein rassistisches Motiv vermutet werden müsse und nicht eine „gewalttätige Auseinandersetzung“, wie anfangs behauptet. Der Bier- und Wurstgeruch jenes Rockkonzerts drang mir aus den Medien in die Nase, unangemessen fand ich es, gut nur fürs Tourismusbüro und fürs Rathaus: Kommerzielles Auftrumpfen mit Musik und Selbstinszenierung . Ehrlich wäre gewesen, hier einzugestehen: Dresden ist derzeit No-Go-Area für Geflüchtete, Schwarze, Asylsuchende. Und das müssen wir anprangern und ändern. Und dem Opfer soll Gedenken gelten. Und auch diese Form der Reaktion gab es ja von mutigen AntirassistInnen nichtstaatlicher Einrichtungen, die hier am Ort demonstrierten, und die vor dem AsylbewerberInnen-Lager dauerhaft ihren mutigen Wachtposten gegen rechte Bedrohung hielten. „Innehalten“ liegt, nach Han, auch in der Wut, um des Geschehenen gewahr zu werden und darauf zu reagieren.

Ein Beispiel von Herrschaft des Positiven- der Fall Elke T., Kindheit in Unterdrückung
Wir sind doch in eine ganz neue Epoche eingetreten! Ich sehe heute im Rückblick auf die neunziger Jahre eine neue Herrschaftsform, es war die Positiv-Sprache. Unvermerkt wurde die glitschige Sprache zur raffinierten Methode, um andere Standpunkte auszuschalten. Ich kannte diese Sprache ein tolerantes Geschwätz, bei dem das Andersdenken der jungen Leute übertönt werden sollte. „Wir lassen keine Differenzen zu, wir diskutieren nicht mehr, sondern machen den anderen fertig“, so könnte das Motto dieser Sprache lauten. Und so will ich folgenden Erfahrungsbericht einer Zeitgenossin, deren Kindheit sich in den achtziger Jahren ereignete, hier in den Raum stellen. Sie heißt Elke T., und sie ist zeitlich und persönlich in großer Nähe zu meinen eigenen Erfahrungen aufgewachsen.

Elke T. erzählte mir, dass sie sich “ von Positiven Worten erstickt fühlte- bis ins Erwachsenenalter“. Und ich konnte dies, in derselben Zeit großgeworden, gut nachvollziehen- vielleicht, weil mir das Zeittypische und manche Mechanismen in der Erziehung in mein eigenes Fleisch übergegangen waren: Druckausübung zu erleben, nicht mit Geboten wie: Du sollst und du musst. Aber mit Kalendersprüchen, positiven Reden, wortreich und perfektioniert, bis zur Erstickung, die vereinnahmen und übertönen: Eine Rede, die bei dem Schwächeren (wie gewöhnlich das kInd, der Teenager immer die schwächere, noch ungeübt redende Person ist) nur verstummen und kleinwerden bewirkt. Eine psychische, quasi „weltkluge“ Rede, die bei dem Heranwachsenden jedes unkontrollierte, emotionale Aufbegeheren erstickt. Eine Rede, die dazu führt, dass der junge Mensch „Lernt“, sich selbst zu relativieren angesichts von so viel Weisheit und quasi Menschenfreundlichkeit. Eine Rede voll Verlogenheit, wo Routine anstelle von Erfahrung regiert, und wo nicht der Wunsch regiert, dass man einander mitteilt, sondern dass der junge Menshc, das Kind, der Teenager zum Funktionieren gemahnt wird.

Ich behaupte heute, die psychologische Sprache der Herrschaft war völlig neu. Ich erlebte ebenfalls, mit persönlichem Erleben oder Beobachten, wie jugendliches Unbehagen mit glitschigen Worten ausgeräumt wurde. Konfliktfall XY, wenn z.B. die junge Tochter erwägt, das Studium zu wechseln, weil die Bedingungen zu schwierig sind mit Studiengebühren, unerreichbaren Professoren oder überfüllten Seminarräumen. Spruch von den Eltern: „Du musst noch zwischen Wunsch, Wahn und Wirklichkeit unterscheiden.“ Noch druckausübender, unfairer: Der junge Schüler Franz (10) kann die Hausaufgaben nicht bewältigen, weil ihn Abneigung gegen den unfreundlichen Lehrer, Streß im Elternhaus mit dem ewigen Ehekrach, oder Angst von MitschülerInnen nervös machen. Spruch von den Eltern: „Kennst du Viktor Frankl, Junge? Er war im KZ, aber er hat nie aufgegeben, und er lehrte uns, dass der Mensch jede Situation bewältigen kann.“ Bequemer, und doch höchst unfairer Trick von ErzieherInnen: Wir zwingen die jungen Leute in ihre Funktion, indem wir ihnen Lebensweisheiten entgegenhalten, und was wäre stärker als obengenanntes Beispiel? Der Hintergrund ist totale Gleichgültigkeit. Der belehrte Jugne lernt nur, sich selbst zu relativieren- selbst wenn er berechtigten Zorn verspürt über den Ehekrach der Eltern, über brutale Schulschläger oder über den hochmütigen Lehrer. Anstatt dass die Eltern also die Mitteilung des Jungen ermutigen, um seine Verhältnisse zu erfahren, und seine konkrete Realität zu bewältigen, und dem Jungen zu helfen- stattdessen wird ein Spruch eingesetzt, um in Minutenschnelle wieder Stillschweigen und Funktionieren einzuführen.

Manches Desinteresse und erzieherische Faulheit versteckte sich hinter solchen schönen Sprüchen aus der Psycho-Lektüre. Es war eine glitschige Sprache. Ganz anders war es doch zuvor, wenn Elterngenerationen der fünfziger Jahre die jungen Leute barsch zu „Ordnung und Gehorsam“, „für Staat und Vaterland“ anhielten.
Was die heute fast 40-jährige Elke im Folgenden erzählt, hat mit Manipulation und Verdrehung zu tun. Hier ist Autorität nicht mehr offen, aber doch allpräsent.

„Wir lebten in einem perfekten Haushalt im Wohlstand der Kohl-Ära. Materiell und auch mit dem Redegebrauch sahen die Verhältnisse bei uns positiv und glücksverheißend aus. In unserer Familie wurde immer der offene Ton im Miteinander hervorgekehrt, die Eltern befassten sich mit Psychologie, gingen in Therapie und Selbsterfahrungsgruppen, und redeten auch in einem psychologischen Sprachgebrauch: Es waren Sprüche wie `Ich bin OK, du bist OK`oder: `Beklage dich nicht über das Dunkel, sondern zünde ein Licht an!`. Solch schöne Sprache regierte unser tägliches Tun und Reden, wobei natürlich nur die redegewandten Eltern die Sprüche führten, und wir Kinder nur reagieren konnten. Zudem lebten wir im schönsten Wohlstand mit viel Spielzeug und Freizeitspaß. So wurde uns Kindern, wir waren drei Geschwister, immer vorgehalten, dass wir eine glückliche Kindheit hätten. Wir genossen die materiellen Vergnügungen, die sich anhäuften- doch wir wurden zunhemend Objekt. Wir Kidner hatten bei den Freizeiterlebensissen nie mitzubestimmen, alles wurde vom Vater organisiert-. Und während der Urlaube und Vergnügungen wurden einfache Erlebnisse, wie Geschwisterstreit, Konflikte, Neid oder Angst, immer übergangen und ignoriert. Was wir Kidner fühlten, wurde uninteressant erachtet. Alles, was zählte, war unser behauptetes „Glück“, erwiesen ausschließlich im materiellen Wohlstand und in den Dingen, die wir passiv entgegenzunehmen hatten. Dieses „Glück“, diese Urlaube wurden uns bis ins Erwachsenenalter vorgehalten. Was wir Kinder selbst über jene Zeit dachten, wollten die Eltzern nicht wissen- nein, unsere Meinung wurde geradezu übertötn und niedergeredet bei den Glücksbeteuerungen der Eltern. Bisd heute weigerten sich beide Eltern, meine Meinung zur Kenntnis zu nehmen, aj eine Auseinandersetzung mit mir zu führen. Immer wieder wurde Kritik auf schleimige Weise abgewehrt, mit
schönen Sätzen oder mit gekränkter Miene seitens der „guten, immer bemühten“ Eltern.
So hatten wir nie einen Grund zur Auseinandersetzung. Erst später erkannte ich, dass wir Kinder regelrecht erstickt wurden von den Ansprüchen der Großen, denn die Eltern waren keine einfachen Personen: Früh verheiratet, hatten sie von Anfang an Probleme miteinander, und es gab schon, seit ich geboren wurde, keinerlei Liebe mehr zwischen ihnen. Ja, sie bekämpften einander geradezu- während die Mutter von meinem Vater allzuviel verlangte, nämlich totale Geborgenheit und Fürsorge und Geldverdienen mit dem gewohnten hohen Einkommen, wollte er von Beginn an nur noch flüchten. Er war viel abwesend in der Großstadt und versuchte stets auszubrechen, neue Abenteur zu erleben. In einem unaufhörlichen Ehekrieg lebten sie weiter miteianander, ohne die Scheidung zu wagen- das kam erst spät zustande, als ich schon 23 Jahre alt war. Meine Kindheit hieß Ausharren unter Spannung und Kälte in ständigem Ehekonflikt.
Um manche ihrer Emotionalen Probleme zu regeln, gingen die Eltern in Therapie- er nur kurzzeitig, sie jedoch für immer. Die Selbsttherapierung mit Gruppen und Gesprächen gefiel ihr so gut, dass sie davon nie mehr loskam. Künftig benötigte sie viel Raum und Wortführung für ihre Gefühle, und sie erörterte auch mit usn Kindern, ganz besodners mit mir, ihre Kindheitserlebenisse, ihre Jugendzeit, ihre Verlobungszeit und ihre Ehe, in der sie sich so unfair behandelt fühlte.
Bei alldem, so möchte ich es heute im Rückbl.ick beurteilen, bekam ich selbst immer weniger Interesse und Zuneigung. Hauptsächlich erfuhr ich Wärme, wenn ich der Mutter tröstend beistand, wenn sie ihre Ehe, oder die Umstände ihrer Jugend analysierte.
Was aber die Rede anging, so praktizierten die Eltern ihren „offenen“, psychologisch geschulten Tonfall immer nur in den ruhigen, ausgeglichenn Momenten. Und die Mutter reflektierte gerne ihre Besprechungen aus der Therapie, indem sie mir das Gelernte wiedererzählte, mir die Sätze von Selbstakzeptanz und Frustrationstoleranz sagte, und mir damit- so vermeinte sie- auch eine „offene, gute“ Erziehung zuteil werden ließ. Und wir Kinder wurden mit der positiven Rede natürlich auch dosziplioniert, um weniger zu meckern, wenn wir in der Schule, im Alltag Probleme hatten.
Doch bei den Eltern sah es mit der Umsetzung des Positiven weniger gut aus. Der Vater ahndete es uns auch mal mit Prügeln, wenn wir, die Kinder, „quengelten“, meckerten oder Eigensinn zeigten. Denn eigentlich war er ein sehr autoritätsgerichteter Charakter, und ich lernte eine recht altmodische, patriarchalische Ausrichtung auf das männliche Gebot bei usn zuhaus, im Elternhaus .
Und auch, um ihre Eheprobleme zu meistern, gingen die Eltenr nicht immer sanft zuwege. Da wurde hemmungslos geschrieen und getobt, und da warfen sie Geschirr oder Obst. Das galt dann natürlich als „menschlich“, und als „Ausrutscher“, und wurde mit schiefem Lächeln hinterher kommentiert. Im Grunde regierte die Doppelmoral. Wir Kinder konnten bei alldem immer nur passiv, angepaßt bleiben und abwarten, wie die Stimmung im nächsten Moment sein würde.

Ich muss auch sagen, dass wir Töchter recht oft für seelische, ja therapeutische Hilfe für unsere Mutter eingespannt wurden, die immer im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Der Wohlstand und die Urlaube wurden zu einem Druckmittel, so dass wir uns immer angepasst verhielten. Es wurde eine Manipulation, damit wir Kinder nie aufbegehrten sondern immer vor den Bedürfnissen der Eltern zurücktraten. Im Grunde wurde ich vom Positiven meiner Eltern erstickt. Das Positive wurde Instrument, um alle Differenzen im Keim zu ersticken.“
Infolgedessen , so sagt meine Bekannte in diesem Bericht, habe sie im späteren Leben ein Problem mit Grenzziehung und mit persönlichem Ausdruck bekommen- recht elementare Dinge für eine menschliche Persönlichkeit. Das habe ihr später zwischenmenschlich sehr geschade,t weil sie stets der anderen Person den Raum und das Wort überließ, und dabei in schwierige, ja gefährliche Situationen geriet.
„Wenn ich daran denke, welch eine verschüchterte Person ich noch als Studentin war“, sagt Ele T. „ so kann ich die Rede meiner Eltern nur als verdreht und pervertiert bezeichnen. Die Mutter stellte mich als robuste, anspruchsvoll-fordernde Tochter hin und sagte mir, sie müsse sich endlich vor uns Kindern schützen und einmal an sich denken. Ich wagte nicht, wenigstens ein Widerwort gegen diese Rabulsitik einzuwenden- hatte ich ihr doch seit dem Alter von sieben Jahren Trost und Bekräftigung gegeben, wenn sie sich unzählige Male bei mir ausweinte. Verlogen war es auch, wenn man damals, als Teenager oder junger Mensch, wie eine verwöhnte, schwierige Kreatur dargestellt wurde- während niemand reflektierte, wie viel Raum diese Elterngeneration mit ihrer Selbstbespiegelung, ihren Therapieen, ihren narzißtischen Lebensübungen beansprucht hatte. Ich lebte in völlig verdrehten Verhältnissen, und versuche erst heute, im vorgeschrittenen Erwachsenenalter, meine eigene Sprache zu gewinnen. Dabei muss ich noch gegen den Konsens ankämpfen, wenn mir die Gesellschaft auch heute noch ausschließlioch `Positives`abverlangt, aber Regungen wie Zorn und Eigensinn dämonisiert und unmöglich macht. „

Und unterliegen nicht viele Menschen heute einer solchen Doppelmoral? Werden heute nicht ganz menschliche Regungen, die sogar unabdingbar sind für fruchtbares Sprechen, für Erkenntnisgewinn, wie Wut oder eigenwilliges Fragen, Reflektieren, dämonisiert und abgewehrt? So glaube ich zu erkennen, dass ganz neue Druckmittel und neue Herrschaftsformen in der positiven Rede, etwa seit jener Elterngeneration der achtziger Jahre lagen und liegen. Ich denke durchaus, dass der Positivzwang eine neue Erpressungsform werden kann. Und wieder geht es, als letzte Zielsetzung, darum dass die jungen Leute selbstbeherrscht großwerden und reibungslos funktionieren. Auch bei dieser Herrschaft der Autoritäten geht es ,wie stets, darum, den jungen bLeuten jeden Eigensinn abzutrainieren. Und sie sollen keinen eigenen Standpunkt suchen oder formulieren…auch das Sucherische, Unklare, Experimenteirende wird ja damit sogleich unterschlagen und unmöglich gemacht, obwohl es höchst wichtig wäre, für jeden Elbensprozeß und Erkenntnisprozeß, für das Unersetzbare, das uns innewohnen kann: unseren einzigartigen Charakter, unseren Eigenwillen, mit dem wir uns auf die Welt beziehen, und Beziehungen zu FreundInnen, Familien, NachbarInnen errichten… Die neue Sprache ist glitschig geworden in ihrer Raffiniertheit. Wird es menschlichem Eigensinn, menschlicher Kreativität noch möglich sein, sich da herauszufinden und dem Verlogenen die Stirn zu bieten? Um Leben zu formulieren und zu entdecken- jenseits von Positiv und Negativ.

Abschluss. Lao-tse, Das „Negative“ und „Positive“ als lebensimmanente Bezüglichkeiten
Das „Negative“ wirkt nach meiner Ansicht etwa im Konzept der Energieen im Buch Tao Te King von Lao-tse. Hier warnte der Philosoph vor der Überbetonung des Guten, Sittlichen, Ordentlichen- besonders beim angegriffenen Konfuzianismus. Mit solcher Überbetonung, so lese ich aus diesem Buch, würde nur das Gegenteil mit größerer Macht hervorgerufen. „Wenn die Menschen der Erde alle die Schönheit als Schönheit erkennen, entsteht die (Erkenntnis der) Hässlichkeit.“ ( Lao-tse, Tao-Te-King, Herausgegeben von Lin Yutang, Fischer Verlag 1956, S.40) Natürliches Wirken werde somit gestört und Menschenleben verstört. Es geht vielmehr um Ausgleich, Balance und Ergänzung.
Lao-tses Buch steckt, so passend zu Lebenserfahrungen, die mensch selbst machen kann, voller Ambivalenz-Erklärungen und voll von der Erkenntnis der unkontrollierbaren Lebensenergieen. Hier herrscht keine Angst, und hier kann der Mensch nur infolge von Ehrgeiz, Streben oder Selbsterhöhung zu Fall kommen. „Sein und Nichtsein hängen im Werden voneinander ab; Schwierig und Leicht hängen in der Durchführung voneinander ab; Lang und Kurz hängen im Gegensatz voneinander ab; Hoch und Niedrig hängen in der Lage voneinander ab.“ (S.41) „Wer sich des Männlichen bewusst ist, sich aber an das Weibliche hält, wird zur Schlucht der Welt. Da er die Schlucht der Welt ist, hat der den Urcharakter, der nicht zerschnitten ist, und kehrt wieder zur Unschuld zurück. Wer sich des Weißen bewusst ist, sich aber an das Schwarze hält, wird zum Vorbild der Welt.“ (S.111) „Dem, dessen Macht geschmälert werden soll, muss man vorerst gestatten, sich auszudehnen. Wer geschwächt werden soll, muss vorerst gestärkt werden….Wo genommen werden soll, muss vorerst gegeben werden. “ (S. 132)
Letztlich lese ich Lao-tse als verdeutlichtes Naturgesetz, dem zu folgen für den Menschen immer nur anzuraten sei, wenn es um gutes Zusammenleben und Wohlbefinden geht. Die einzigen Verhaltensformen, die hier im Buch überhaupt angeraten werden, sind schützen, helfen, verzichten und bewahren. Sicherlich wären sie für ein sozialfreundliches und naturverträgliches Leben die besten Regeln überhaupt, und für die zerstörerische „Wachstums“-Formel des Kapitalismus müssen sie untergrabend wirken. Ich wünsche mir mehr kämpferische Zen-Buddhisten oder NaturschützerInnen in Lao-tses Fußspuren…

 

 Klimaschutz im Wohnzimmer  

Ossietzky, Dezember 2013

Für die Energie-Effizienz sollen stromfressende Staubsauger mit mehr als 1600 Watt untersagt werden. Denn nach der Glühbirne hat die Europäische Union dieses Jahr auch den Staubsaugergebrauch und die Kaffeemaschine mit konkreten Richtlinien fürs Energiesparen ins Visier genommen.

Das Gesetz allerdings, das den CO2-Ausstoß von Autos bei Neuwagen begrenzen sollte, wurde nach monatelangen Verhandlungen schließlich von deutscher Seite verhindert. Ein niedrigerer CO2-Ausstoß-Grenzwert bei Neuwagen, der von durchschnittlich 130 Gramm pro Kilometer auf 95 Gramm gesenkt werden sollte, kann nun frühestens wieder in zwei Jahren verhandelt werden. Die deutsche Regierung mit Kanzlerin Merkel wollte die Autoindustrie vor dem Aufwand einer Umrüstung bewahren. Und so sieht das Energiesparen in Europa doch sehr schildbürgerlich aus, und bei den Reduktionszielen wird viel auf die Gerätewirtschaft in Erna Normalverbrauchers Wohnung gesetzt: Geschont werden weiterhin die Mobilitäts- und Verkehrsindustrie sowie die ressourcenausbeutenden multinationalen Konzerne mit ihrem Energiehunger.

Gerade dem Autosektor haftet hierzulande der alte, abgelebte Nimbus von standortnationalem Stolz und Konjunkturstärke an. Ein beliebtes Argument, um den Status quo der westlichen Wirtschaft zu erhalten, lautet dann noch, daß Arbeitsplätze geschützt werden müssen. Das Wachstumsdenken mit Billigproduktion, mit Ressourcenausbeutung und globalen Transportrouten für Produkte, nur um Arbeitskosten zu sparen, bleibt ungebrochen. Für jedes Umdenken beim produktkapitalistischen Prinzip malt die Mehrheitspolitik Katastrophe und Quasi-Zusammenbruch des Landes an die Wand. Zugleich wüten reale Taifune und Rekordfluten über die Erde. Daß deren Ursache bei der Klimaerwärmung liegt, kann kaum noch von einem Meteorologen geleugnet werden.

Weil es weiterhin um Gewinnsteigerung geht, bleibt die sogenannte internationale Gemeinschaft so etwas wie eine Feiertagsgemeinde. Wie jetzt auf der Weltklimakonferenz in Warschau tritt sie zusammen und tauscht gute Worte aus, läßt aber den Großteil der Alltagsgeschäfte beiseite. Kurz darauf – wenn der feierliche Anlaß vorbei ist – verwandelt sich die internationale Gemeinschaft wieder in das Konkurrenzpersonal auf dem globalen Markt, fiebert nach Export- und Absatzstärke und Kostensenkung: Alles wie gehabt im alten Geldsystem. Und wer »den Anschluß« an die Globalisierung nicht verlieren will, muß eben mehr von eigenen Naturreservaten – samt der Unabhängigkeit und umweltschonenden Lebensweise der EinwohnerInnen – preisgeben. In diesem Jahr versagte die internationale Gemeinschaft bei dem versprochenen Treuhandfonds für den Yasuní-Nationalpark in Ecuador. 2008 hatten Staaten zugesagt, an das Land 3,6 Milliarden US-Dollar zu zahlen. Das Geld sollte Ecuadors Regierung Armutsprogramme ermöglichen, wenn die Regierung im Gegenzug dafür auf Ölförderungen im UNESCO-Biosphärenreservat verzichtet. Das Regenwaldgebiet von Yasuní mit einzigartiger Vielfalt würde durch Ölgewinnung erheblich beeinträchtigt. Weil aber bis heute nicht mal ein Prozent der versprochenen Summe zusammenkam, hat das Parlament auf Antrag von Präsident Rafael Correa den Erdölbohrungen im Nationalpark zugestimmt. Auch Deutschland kann in dieser Staatengemeinschaft nicht durch gutes Vorbild punkten, der Minister für Entwicklungszusammenarbeit Dirk Niebel hatte einen Rückzieher bei den schon in Aussicht gestellten 50 Millionen Euro jährlich gemacht, berichtete Le Monde Diplomatique im Oktober.

Regenwälder wie der Amazonasdschungel im Nordosten Ecuadors bieten Schutz gegen Stürme und Erosion, haben wichtige Funktionen für das Klima auf der Erde. Und sie sind Lebensraum von Menschen, die sich nicht zum schlechten Leben in einem Großstadtghetto zwingen lassen wollen. Dieses Jahr wurde durch die Erwärmung des Weltmeeres der Taifun »Hayan« verursacht, der eine Katastrophe über die Philippinen brachte. Rekordunwetter verwüsten global immer mehr bewohnte Strukturen – und treffen die Armen zuerst. Aber wirkliche Konsequenzen bei der Ausbeutung der Natur wollen die reichen Staaten des Nordens in ihrem Wachstumsdenken nicht ziehen.

Als Sozialträumer wird verdammt, wer einen Konsumrückbau und die Stärkung souveräner Bedarfswirtschaft – zum Beispiel von ländlichen ProduzentInnen unabhängig vom Weltmarkt – verlangt. Die Wirtschaftsverhandlungen der reichsten »G8-Staaten« bleiben weiterhin eine elitäre Veranstaltung. Die Politik will Vereinigungen von BäuerInnen wie »La Via Campesina« nicht ernstnehmen und auf ihre Souveränitätsforderungen nicht eingehen. Während der Westen viel Hokuspokus um »Nachhaltigkeits«-Kampagnen macht, wird gleichzeitig das »nachhaltige«, weil konsumunabhängige Leben vieler Kleinbäuerinnen oder Waldbewohner, die sich gegen Landgrabbing wehren, bedrängt.

Die Tagesgeschäfte des wirtschaftshegemonialen Westens gehen derweil weiter, es geht um Wachstum (nicht der Natur, sondern der Gewinne und Zinsen). Etwa, wenn Konzerne Regenwälder abholzen und Ölpalmen oder Sojabohnen in Monokultur anbauen – gestützt von europäischen Krediten und wachsendem europäischen Absatz. »Gigantische Mengen Kohlenstoff entweichen aus der gerodeten Vegetation und den Böden in die Erdatmosphäre«, schreibt Rettet den Regenwald. Das Palmöl wandert seit einigen Jahren in Lebensmittel und Seifen im Supermarktangebot; es ersetzt preisgünstig frühere Pflanzenfette. Alles für die Produktionssteigerung und billige Massenwirtschaft. Auch wird seit der EU-Verordnung von 2009 Palmöl als »Agrosprit« Benzin und Diesel beigemischt. Womit wir wieder beim Thema Auto, individuelle Mobilität und deren Folgen für den Klimaschutz wären.

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Flüchtlingslager in Deutschland: Die Ausgrenzung und der lange Weg zur Änderung

Februar 2014

B.v.Criegern

Lager gehören abgeschafft! Während die deutsche Asylpolitik und die Flüchtlingsverwaltung immer noch eine Normalität praktiziert, in der Asylsuchende in Sammelunterkünften in Wäldern und an Stadträndern, in elende Baracken und Kasernen verortet werden, muss diese Normalität aufgesucht und benannt werden.

Die große Regierungskoalition hat bislang noch keine Verbesserung für die Situation von Asylsuchenden zu bieten: Weder beim Recht auf Wohnungen, noch beim Stopp für Residenzpflicht und Abschiebungen. Ebenso wie die Brüsseler Wirtschaftsexperten schmiedet die Regierungspolitik an einem EU-bürgerlichen Menschenbild, in dem man nützlich und angepasst sein soll an Markt und Konjunktur, und das Dasein eingeengt wird von Sparkurs und Sicherheitspolitik. Euro-Stärke und Mehrwert bleiben Ideal, und Arme bleiben suspekt. Flüchtlinge jedoch, die alltäglich in der deutschen Gesellschaft für ihren Aufenthalt kämpfen müssen, Menschen aus Somalia und Subsahara, sowie aus Russland, aus Nahost und Afghanistan, bleiben bei den politischen Diskursen ins Schweigen verbannt, wenn sie hier eine Lebenswirklichkeit erfahren, in der sie von der Verwaltung vor Hürden gestellt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.

  Von der Lebenswirklichkeit, die nichts mit dem allgemeinen europäischen Leitbild von Karriere, Jobsicherheit oder Euro-Stärke zu tun hat, sprechen Geflüchtete in den Initiativen seit langer Zeit, und in der Bewegung des „Asyl-Streik“ seit 2012. Diese Wirklichkeit trifft uns heftig, sie rüttelt auf oder sollte aufrütteln. Da geht es nicht um „Mobilität“, sondern um Bewegungsfreiheit, es geht um den Anspruch auf medizinische Versorgung und um

kilometerweite Fußwege zum Bahnhof, wenn die Unterkunft mitten in der Einöde liegt. Es geht um Isolation und um die Gefahr, depressiv zu werden, wenn Menschen, die ein Fluchttrauma erlitten haben oder aus einem Kriegsgebiet in Tschetschenien oder Somalia kommen, in der deutschen Flüchtlingsunterkunft alleingelassen und mit Abschiebung bedroht werden.

 Die Realität, die aus den Sammelunterkünften berichtet wird, mischt unsere Vorstellungswelt auf und kontrastiert mit dem gepflegten Menschenbild im EU-Ideal, unter Mehrwert-Regime und Euro-Diskutiererei. Während Geflüchtete von der Ausgrenzungssituation berichten, liegt es bei uns, die Realität aufzugreifen und zu verändern. Die erste Öffnung zur Realität ist der größte Schritt zur Änderung. Und in getrennten Welten leben wir weiter, solange institutioneller Rassismus Geflüchtete aus dem deutschen Alltag des Wohnens und der Mobilität ausgrenzt  und Barrieren vor traumatisierten Flüchtlingen aufgebaut werden, die keine psychologische Betreuung und umfassende Versorgung erhalten.

 Während im Bundesland Bayern für Geflüchtete gesetzliche Lagerpflicht gilt, ist auch in  anderen Bundesländern die Situation für sie nicht viel besser: Nach dem verpflichtenden Aufenthalt in einer Erstaufnahmeeinrichtung in einer Sammelunterkunft werden sie oftmals auch anschließend daran gehindert, in eine Wohnung zu wechseln: Die Verfahren für einen Wohnungsantrag sind aufreibend, und oftmals erlaubt es die Ausländerbehörde nicht, eine Wohnung zu suchen. In den Heimen, oft von miserablem Standard, haben sie selten einen Anspruch auf Mitwirkung. Und wenn sie eine psychologische Betreuung wollen, müssen sie meist Zuflucht bei den wenigen zivilen Initiativen suchen, die am besten noch in den großen Städten zu finden sind , z.B. beim Zentrum für Folteropfer und beim Büro für medizinische Flüchtlingshilfe in Berlin.

Asylsuchende und die rund 80 000 „Duldungsflüchtlinge“, deren Asylantrag abgelehnt wurde, werden außerdem mit zahlreichen Hindernissen konfrontiert, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, wie dem Arbeitsverbot. Politisch und gesellschaftlich erwünscht gilt: Der Blick soll an ihnen vorbei gehen und das Denken soll sie ausschließen, das Soziale soll ohne sie laufen. Die Asylheime werden wiederkehrend als provisorische Orte außerhalb der bewohnten Gegenden beschrieben. „Die, die das sagen haben/ sagen, es sei ein heim./ es ist/ nichtmal ein haus“, schrieb schon 1996 May Ayim in dem Gedicht „die unterkunft“ („Nachtgesang“, Orlanda-Verlag 1997).

 Frauen aus dem Lager Breitenworbis, Thüringen, schrieben im November 2012 einen Offenen Brief an den Landrat: „Wir leben in einem alleinstehenden Wohnhaus, 2 km von dem Ort Breitenworbis entfernt. Nebenan befindet sich eine stinkende Kläranlage sowie eine Mastanlage, was das Wohnen besonders im Sommer unerträglich macht. …Eine Bushaltestelle gibt es nur im Ort. … In unserem Heim gibt es zu wenige Sanitäreinrichtungen. Diese Verhältnisse bringen für uns noch zusätzliche Sorgen um unsere Gesundheit. Katastrophal ist die ärztliche Versorgung. Es steht uns nur ein Arzt zur Verfügung, der alles mit denselben Medikamenten behandelt – Paracetamol, Magenmittel und Beruhigungsmittel….

Viele von uns brauchen auch dringend psychologische Hilfe, wegen dem , was wir schon im Heimatland erlebt haben, und jetzt kommt die Isolation hier noch dazu. Wir bekommen in dieser Hinsicht aber keinerlei Unterstützung und wir können uns auch nicht selbst informieren, weil alles zu weit weg ist. „Quelle: The Voice Forum,   www.thevoiceforum.org

Mit einer Demonstration hatten die Geflüchteten bereits am 11. September in Heiligenstadt demonstriert; erneut kamen vierzig Flüchtlinge und UnterstützerInnen im Januar 2013 vor dem Landratsamt in Heiligenstadt zusammen. Sie forderten die Schließung der Unterkunft in Breitenworbis und wollten den Offenen Brief der Frauen überreichen, doch der CDU-Landrat Henning und sein Stellvertreter waren ausgegangen „zu wichtigen Terminen“. Die Demonstration wurde vom Ordnungsamt der Stadt und von der Polizei beobachtet. Das Lager wurde nicht geschlossen, doch das entschiedene Auftreten der Demonstrierenden und ihr Brief wurden von der Presse wahrgenommen ( siehe Thüringer Landzeitung , 13.9.12, Flüchtlinge fordern in Breitenworbis Heimschließungssung-2081015364.)

 Flüchtlinge aus dem Lager Friedersdorf, Sachsen-Anhalt, demonstrierten im November 2012 für die Schließung ihres Heims, eine DDR-Barackensiedlung, die sich in einer abgelegenen Gegend befindet. Sie kritisierten: „Fünf bis sieben Personen leben in einem Raum. Wir dürfen nicht arbeiten. Langsam, langsam macht einen das Dasein in diesem Ort kaputt. Das Wasser ist sehr schlecht, es gibt kein Trinkwasser. Von 23 bis sechs Uhr morgens macht der Hausmeister die Heizung aus, auch bei minus zwanzig Grad im Winter. Wir sind im Lager sehr isoliert. Wir wollen eine bessere Gesundheitsversorgung. Lager müssen geschlossen werden, die Residenzpflicht muss abgeschafft werden.“ Quelle: Refugeeinitiativewittenberg.blogspot.de.

Zur Demonstration mit etwa hundert Teilnehmer/innen fuhren UnterstützerInnen von „No Lager Halle“ und von der „Karawane für das Recht der Flüchtlinge und MigrantiINnnen“ und AktivistInnen der Asylstrike-Bewegung aus Berlin, um den isolierten Ort in Sachsen-Anhalt aufzusuchen.

 Sie zogen vor die Ausländerbehörde der Kreisstadt Bitterfeld. Dort angekommen, konfrontierten die Geflüchteten die Behörde während der Arbeitszeit mit einem Redebeitrag vom Megaphon. Der Sprecher Salomon Wantchoucou von „The Voice Refugee Forum“ verdeutlichte, dass die Flüchtlinge ihr Recht auf gesellschaftliche Teilhabe fordern und dass sie die verordnete Ausgrenzung nicht akzeptieren würden. Ein Redebeitrag handelte außerdem von den Fluchtursachen, für die der reiche Westen die Verantwortung trägt, von der Ausbeutung der Länder in den afrikanischen Staaten durch die Wirtschaftsmacht Europa und ihre Landraub-Politik in Zusammenhang mit Investment und Ressourcenförderung für den reichen Norden. Auf dieser Demonstration war auch ich und sah hinter den Fenstern der Behörde die Gesichter unmutiger Beamt/innen, die in diesem Moment zu keiner anderen Abwehrgeste befähigt waren, als, hier und dort Rolleaus herunterzulassen. Da dominierte das Wort der Geflüchteten, die normalerweise von dieser Behörde mundtot gemacht und marginalisiert werden, da war ein Bruch mit dem Ausnahmezustand, der über Flüchtlinge verhängt wird. Vor der Eingangstüre wachten Polizeibeamt/innen, und nur wenige Demonstrierende konnten sich Zugang verschaffen mit dem Versuch, Flugblätter an das Personal zu verteilen.  Zu diesem Zeitpunkt waren es noch vorwiegend libertäre Medien wie der „Corax-Sender“ bei „Freie-Radios.net“, die über die Verhältnisse berichteten.

 Die menschenunwürdigen Verhältnisse in Friedersdorf wurden hierbei dokumentiert, aber bei einem bewegungslosen Landrat und einer Ausländerbehörde, die die Verhältnisse in der Ordnung fand, mußten die BewohnerInnen des Lagers weiterhin ihren harten Kampf gegen die Isolation führen.

In den nächsten Monaten wurde zusätzlich zu ihren Protesten Aufmerksamkeit in den Medien erweckt, weil zwei Todesopfer in dem Heim unter sonderbaren Umständen starben. Am 25.04.13 starb der Heimbewohner Cosmo Saizon im Krankenhaus Bitterfeld, nachdem seine gesundheitlichen Beschwerden offenbar zunächst nicht ernst genommen wurden. Schon Wochen vorher hatte sich der Mann aus Benin über Schmerzen und Beschwerden beklagt, aber keine ausführliche Untersuchung bekommen. Tage vorher hatte Saizon darum gebeten, in ein Krankenhaus gebracht zu werden, er habe aber nur ein Antibiotikum von einem gerufenen Arzt bekommen. Am 25.4. brachten ihn Heimbewohner ins Krankenhaus, wo er kurz darauf starb (wo er kurz darauf starb. Dies war unter anderem auch zu lesen in der Mitteldeutsche Zeitung untzer dem Titel „Obduktion nach Tod eines Flüchtlings in Friedersdorf“Obduktion nach Tod eines Flüchtlings in Friedersdorf.

 Ein weiterer Todesfall eines Flüchtlings in Sachsen-Anhalt ereignete sich am 30.5.2013 in Bernburg. Adams Bagna aus Nigeria erlitt akute Atemnot, verließ sein Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft und brach auf dem Flur zusammen. Er hatte an chronischem Asthma gelitten. Der Tod Bagnas erhärtete die massive Kritik der Organisationen „Karawane“ und „Antirassistisches Netzwerk“ an der gesundheitsgefährdenden Unterbringung sowie der mangelhaften Gesundheitsversorgung in Gemeinschaftsunterkünften des Landes.

 Die Flüchtlinge aus dem miserablen Barackenlager von Friedersdorf führten ihren Protest fort und organisierten im August ein Camp auf dem Rathausplatz in Bitterfeld. Mehrere von ihnen traten in den Hungerstreik und forderten: „Lager Friedersdorf muss geschlossen werden! Alle Flüchtlinge fordern Bewegungsfreiheit und Wohnungen!“

Zu diesem Zeitpunkt berichteten größere Medien über die Verhältnisse: „Flüchtlinge in Bitterfeld im Hungerstreik!“. „Wir sind wie Geister”- berichtete der MDR-Nachrichtensender des Landes am 9. August.

Der mehrere Wochen andauernde Hungerstreik und das Camp führten dazu, die schlimmen Verhältnisse am Ort in die Öffentlichkeit zu bringen über die regionalen Medien hinaus. Die Proteste der „We will Rise“- Bewegung der Flüchtlinge in Würzburg, Passau, München, Dortmund, Berlin und anderen Städten hatte einen großen Anschub erwirkt, mit dem Details über Lager und Abschiebungen in die Presse gerieten.

So kam es auch kaum aus dem Stand, dass dann am 14.10. 13 der „Spiegel“ seine Ausgabe „Die Menschenfalle“ über das deutsche Asylsystem brachte, und schon eingangs im Artikel die unwürdigen Verhältnisse in Friedersdorf anprangert: „Asyl, ein Trauerspiel, erste Szene: Friedersdorf in Sachsen-Anhalt. Dass sie ihn wirklich hierhergeschickt haben, Sina Alinia, 27 Jahre alt. Hat er nicht Hände zum Arbeiten? Einen Kopf zum Denken? Einen Beruf, Bauingenieur, der zu den angesehenen Berufen hierzulande zählt? Solche brauchen sie doch, wollen sie doch, suchen sie doch in Deutschland. Und trotzdem sitzt er hier herum. In einem Asylheim am Ende der Straße, am Ende aller Straßen, sechs Kilometer bis Bitterfeld, und dazwischen leere Dörfer. Es ist ein Leben, als hätten sie ihn ins Regal gestellt, ordentlich verpackt, dann vergessen, seit zweieinhalb Jahren.“ Wenn die großen Medien wichtige Themen aus den eigentlich marginalisierten gesellschaftlichen Bereichen entdecken, dann ist das selten das Signal einer unmittelbaren Basisnähe, sondern einer schon seit längerem  angewachsenen Protestkultur, die ihre Sichtbarkeit erstritt und Sprecherrollen im breiten bürgerlichen Mediensektor antastete.

Die Protestbewegung aus der sachsen-anhaltinischen Provinz fuhr jedoch fort mit ihren Kundgebungen und demonstrierte auch am 6. November 2013 erneut unter dem Thema „Raus aus der Isolation!“.

 Gleichfalls in Sachsenanhalt, im Kreis Wittenberg, dokumentierte die Flüchtlingsinitiative Wittenberg laufend die neuesten Ereignisse, die die Schließung des Elendslagers Möhlau und die zwangsmäßige Umsiedlung von 150 Geflüchteten in das Dorf Vockerode begleiteten.

 Es war ein Kämpfen von mehreren Jahren Dauer gewesen, in dem die Aktiven der Flüchtlingsinitiative Wittenberg, unter ihnen der politisch Verfolgte Wantchoucou, für die Schließung von Möhlau stritten, indem sie beharrlich an Kreissitzungen teilnahmen und Öffentlichkeitsarbeiten und Kundgebungen durchführten. Von 2000 bis 2012 war das frühere Lager Möhlau, eine baufällige Sowjetkaserne im Wald, als Asylheim für zweihundert Menschen genutzt worden. Als die Geflüchteten begannen, sich mit einem Internetblog und mit Unterstützer/innnen-Kontakten zur weitab gelegenen größeren Stadt Halle bemerkbar zu machen, stieg die Aufmerksamkeit für dieses Lager. Ich habe es selbst besucht: Eine marode Kaserne mit schimmligen Wänden, uralten Fußbodenbelägen, Sperrmüll-Mobiliar in den Wohnungen. Hier liefen die zahlreichen Kinder aus dem Treppenflur heraus, spielten auf der Wiese oder im Waldbestand der Umgebung, in der kein bewohntes Haus deutscher Staatsbürger/innen auszumachen war. Möhlau lag vier Kilometer entfernt vom nächsten Dorf, und dreißig Kilometer entfernt von der Kreisstadt Wittenberg mit den zuständigen Ämtern. Die LagerbewohnerInnen erzählten von der diskriminierenden Gutschein-Praxis, mit der sie ihre Lebensmittel in bestimmten Läden erwerben mussten, von abgelehnten Reise-Anträgen, wenn sie in einen anderen Landkreis fahren wollten, um sich in die Stadt zu begeben. Ein sechzehnjähriges Mädchen erzählte, sie wollte ein Praktikum als Krankenschwester machen, wurde aber abgelehnt, weil sie dazu einen anderen Landkreis aufsuchen müsste. Der Flüchtlingsaktivist Touré aus Guinea lebte hier schon seit neun Jahren, ihm hatten die Behörden immer wieder die „Reiseerlaubnis“, die Befreiung von der Residenzpflicht, verweigert, um in einer größeren Stadt einen Deutschkurs zu besuchen.

Nach der Protestbewegung der Geflüchteten wurde Möhlau schließlich geschlossen. Einige Familien erhielten Wohnungen im Umkreis. 150 von den Geflüchteten aus Möhlau wurden überwiesen in eine neue Sammelunterkunft in das Dorf Vockerode. Ein anderer Ort im Niemandsland, ohne Laden und Bahnhof. Die schlechte Verkehrsanbindung brachte weiterhin Probleme. „Die Kosten für den Bus sind zu hoch, weil es für uns ja Arbeitsverbot gibt“, schrieb die Flüchtlingsinitiative Wittenberg auf ihrer Homepage. 2,50 Euro für einen Busfahrschein zu bezahlen, sei für sie nicht möglich. Die Einweisung hierher nach Vockerode wurde von ihnen als „neue Diskriminierung durch die Behörden in Wittenberg“ angeprangert. „Am 31. Dezember 2012, mehrere Tage nach dem Umzug, gibt es noch keinen Müllplatz, die Plastiksäcke voller Müll werden vor dem Gebäude abgelegt. Wir prangern außerdem die Praxis des Sozialamts an. Das Amt weiß um die labile psychische Verfassung einiger Flüchtlinge, die bereits in Möhlau sehr schlechte Erfahrungen machten. Ein Flüchtling wollte sich dort schon einmal aus dem dritten Stock stürzen und findet sich heute im fünften Stock in einem erregten Zustand.“ Der betreffende Mann aus Somalia erkletterte wenige Tage nach der Einweisung in das neue Heim eine Balkonbrüstung des Heims in offenkundig verwirrtem Zustand. Er hatte ein Messer bei sich und begann mit lauter Stimme zu deklamieren. Die Polizei wurde gerufen und der Mann bei diesem mutmaßlichen Selbstverletzungs- oder Selbstmordversuch in Gewahrsam genommen und dann vorübergehend medizinisch versorgt.

 In dem Ort Vockerode machten von Beginn an Rassist/innen Stimmung gegen die neu Zugezogenen. Eine Bürgerinitiative formierte sich und hetzte gegen den Zuzug der Flüchtlinge. Die NPD suchte den Kontakt mit den rassistischen AnwohnerInnenprotesten, und stieß Drohungen gegen die Flüchtlinge aus. Diese fühlten sich, wie bereits vorher in Möhlau, täglich in Gefahr. Dennoch ging der Landkreis nicht auf ihre schon längst geäußerten Argumente ein, dass nur Wohnungen in der Stadt – Wittenberg, Halle oder Gräfenhainichen- für das Sicherheitsgefühl aller Flüchtlinge notwendig seien.

Am Oster-Wochenende im März kam es dann zur rassistischen Eskalation. Drei Nazis verfolgten zwei Bewohner von der Straße bis ins Heim. „Nachdem die drei Täter sie rassistsich beleidigt und mit Flaschen beworfen hatten, verfolgten sie die Flüchtlinge bis ins Treppenhaus eines der Wohnblöcke. Trotz Wachschutz konnten die Täter versuchen, in eine der Wohnungen einzudringen. All dies passierte in Vockerode direkt unter den Augen der Nachbarn.“ (Flüchtlingsinitiative Wittenberg). Die Täter flüchteten, einer der beiden angegriffenen Flüchtlinge blieb verletzt zurück. Die gerufene Polizei traf erst spät ein und nahm keine Details vom Vorfall zu Protokoll. Erst einige Tage später befragte die Polizei einige Flüchtlinge, hatte aber ihre eigene Pressemitteilung schon vorher bekanntgemacht. Darin hieß es im Gegenteil, die Flüchtlinge selbst hätten die Täter mit Flaschen angegriffen. „Dadurch werden die Tatsachen verdreht und ein rassistischer Übergriff, bei dem Flüchtlinge bis in ihren Wohnraum verfolgt und dort angegriffen wurden, wird als ´Auseinandersetzung`dargestellt.“ (Flüchtlingsinitaitve Wittenberg)

Auch nach dem Vorfall wurden die Flüchtlinge genötigt, weiterhin am Ort wohnhaft zu bleiben, der Landkreis sah sich nicht in der Pflicht, für die Sicherheit der Asylsuchenden hier einzuschreiten.

Dennoch hatte die Öffentlichkeitskampagne der Flüchtlingsinitiative über Jahre hinweg die regionale Politik beeinflußt. Mit mehreren Kundgebungen, einem Offenen Brief ( April 2009) und dauernder Teilnahme an den Kreissitzungen hatten sie erreicht, dass der Kreistag Wittenberg ( angeführt von der Linken) zu einer versäumten  „AG Flüchtlingsunterkunft“ zurückkehrte. Diese war lange zuvor im Kreistag vorgeschlagen, aber nicht weiterverfolgt worden, und sollte sich eigentlich mit den Betreuungs-und Wohnfragen befassen. Mit den Teilnahmen an Kreissitzungen forcierten die Möhlauer Flüchtlinge, dass ihre Ansprüche auf bessere Wohnverhältnisse ein Thema blieben. Sie riefen unter anderem auch die diskriminierende und erschwerende Praxis der Gutschein-Vergabe auf den Plan. In 2010 wurde vom Landkreis Wittenberg schrittweise die Gutscheinpolitik für Flüchtlinge in Wittenberg eingestellt, und Bargeld ausgezahlt. Seit der Kampagne der Initiative mit drei Demonstrationen in Wittenberg und Halle in 2009 berichtete auch die überregionale  Tagespresse ( Neues Deutschland, „Taz“-Tageszeitung) über die Zustände im Lager.  Ist es abwegig, zu meinen, dass nach diesen berichten auch die Kreispolitik mehr sensibilisiert wurde und wahrnehmen mußte, dass ihre asylpolitischen Beschlüsse künftig deutlicher  öffentliche Resonanz finden könnten? Mehrere Familien von den zweihundert Geflüchteten erhielten Wohnungen. Dennoch gingen die zermürbenden Verhältnisse für die verbleibenden Geflüchteten in der Unterkunft in Vockerode weiter.

  In Kämpfen, deren Härte für mich kaum zu ermessen ist, erstreiten die Geflüchteten das Sprechen über ihre Ausgrenzungssituation. Vielleicht kann das auch damit umschrieben werden, dass der hierarchische Diskurs ernsthaft angetastet wird, ein öffentliches Sprechen als „Wahrheit“ geändert wird. Solche „Wahrheit“ ist z.B. in einer Definition von Michel Foucault „ein Ensemble von geregelten Verfahren für Produktion, Gesetz, Verteilung, Zirkulation und Wirkungsweise der Aussagen“. ( Interview zu „Wahrheit und Macht“ in „Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit“.  Berlin 1978, S.53)

Der Aktivist Patrick vom Refugee-Camp am Oranienplatz formulierte es in einer Diskussion über „Globale Welt und Zivilgesellschaft“ im November folgendermaßen: „Flüchtlinge werden hier isoliert, das ist der augenblickliche Zustand. Die deutsche Gesellschaft kann ihren Anteil übernehmen, um zu handeln. Die Räume müssen zuerst erstritten werden, und danach kann die Legalisierung kommen.“

Verhärtet ist das öffentliche Sprechen heute jedoch,(sicher anders als zu Foucaults Zeiten) von wiederaufkommendem faschistischem Auftrumpfen, vielleicht auch von den kommunikativen Verkürzungen und Verwischungen der medialen Maschinerie. Es bleibt ein großes Ringen, wenn die Lebenswirklichkeit mitgeteilt werden muss und ihren Weg gegen plakativen Unsinn bahnen muss, gegen nationale Scheinidentitäten oder Leitbilder.

 Das Sprechen der Armen und das Sprechen von Flüchtlingen wird im Ablauf der europäischen Ordnung normalerweise ins Abseits gedrängt. Eine zunehmend rassistische Diffamierung in öffentlichen Diskursen über vermeinte „Kriminelle“ oder über „Asylmissbrauch“ leistet dazu noch einen weiteren Beitrag. Das Sprechen von Geflüchteten, besonders, wenn sie über keinen Aufenthaltsstatus verfügen, wird zunächst im deutschen Alltag  verunmöglicht, marginalisiert. Das erklärt zum Beispiel, weshalb die Offenen Schreiben, in denen Geflüchtete ihre unerträgliche Situation im Heim selbst benennen, von der Verwaltung oder vom Kreistag anfangs kleingeredet oder ignoriert werden. So haben sie sicherlich an der Verwaltung die härtesten Kämpfe auszufechten. Zugleich läuft aber mit ihren Öffentlichkeitskampagnen auch ein gesellschaftlicher Prozeß in den Köpfen an. Dieser Prozeß erfährt sicherlich eine Bewegung. Was zum Beispiel heranwachsende junge staatsbürgerliche Leute in der Gesellschaft sich denken mögen, die die Berichte von Suiziden und  Überlebenskämpfen hören, und die mit den Break-Isolation-Demonstrierenden an vielen Orten ins Gespräch kommen können, lässt sich nicht abmessen. Von den unwürdigen Lebensverhältnissen für Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt, in Vockerode oder in Breitenworbis können jene Heranwachsenden am meisten im Gespräch mit FlüchtlingsaktivistInnen erfahren- mehr ,als jedes Filter einer Fernsehberichterstattung oder eines anderen Mediums zuläßt. Es geht um Wirklichkeit und Wirkung. Die Demonstrationen der „Break-Isolation“-Bewegung haben ihre Wirkung entfaltet in einer Weise, die eine mentale Änderung bringen kann.

In Berlin erreichten die Asylstreikenden, was ihnen vorher kaum eine vorsichtige Person prognostiziert hätte: Mit ihrem Protestcamp am Oranienplatz in Kreuzberg überstanden sie nicht nur den ganzen Winter 2012/2013, sondern auch noch das ganze folgende Jahr entgegen ersten Räumungswünschen von Bürgermeister Wowereit (Juli 2013) und von Innensenator Henkel (November 2013), sicherlich durch politische grüne Unterstützung der Kommune ebenso wie durch merkliche Unterstützung bei der anwohnenden Bevölkerung.

Weiterhin mag eine mögliche Wirkmächtigkeit der Proteste in der Öffentlichkeit darin abgezeichnet sein, dass in Berliner Bezirken viele Initiativen von NachbarInnen für die Unterstützung von Geflüchteten in Erscheinung traten. Die neuen Initiativen für ankommende Flüchtlinge in Berliner Bezirken treten dem zeitgleichen Rassismus anderer AnwohnerInnen und GegnerInnen von Flüchtlingen in der Nachbarschaft entgegen. Und schließlich erwirkten  Nachbarschaftsinitiativen auch seit dem November 2013, dass die Transparenz bei der Unterbringungs- und Betreuungssituation in Flüchtlingsheimen erstmals ein öffentliches Thema wurde. Nachdem z.B. ehrenamtliche HelferInnen für Deutschkurse und Kinderbetreuung in Flüchtlingsheimen in Treptow-Köpenick und in Moabit tätig geworden waren, brachten sie hier einige deutliche Verbesserungsvorschläge vor. Ihre Vorschläge trafen offenbar auf  kommunikative Hürden der Heimleitung, und führten sogar zu Hausverboten gegenüber einigen der Ehrenamtlichen. So gingen die betreffenden Initiativen mit Kritik an mehreren Eigenschaften bei Ausstattung und Betreuung an die Öffentlichkeit und stellten die Frage nach der Transparenz. Das führte dazu, dass das Landesamt für Gesundheit und Soziales eingestand, dass mehr Kontrollen der Standards in Heimen notwendig seien. Und die Presse thematisierte unter anderem auch „Das unkontrollierte Geschäft mit den Flüchtlingen“, so z. B. der RBB-Sender am 16.11.13.

 Die Wirklichkeit will erkannt werden, und die Verhältnisse für Geflüchtete hierzulande verlangen uns ( den Privilegierteren) ab, den Tatsachen ins Auge zu sehen, um an dieser Wirklichkeit zu wirken, wirkmächtig zu werden. Viele sind bereit dazu. Die Bereitschaft dazu, solidarisch tätig zu werden, um die Forderung nach einem guten Leben für alle aufzustellen, macht sich bemerkbar. Sie ist nur schwerlich abzulesen an Darstellungen und Maßstäben der großen Blätter oder Fernsehkanäle. Auf die Medien kann nicht gewartet werden, im Gegenteil ist es nur ein Abglanz, den man von der Realität in die Medien hinüber verfrachten kann.

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 EU-Abschottung und die verkehrte Welt von Schengen.

Trend-Infopartisan, November 2013

Das Mittelmeer wurde der Friedhof für Flüchtlinge vor der Festung Europa seit den 90-er Jahren. Immer mehr Geflüchtete, die auf dem Seeweg nach Europa gelangen wollten, starben hier. Bei dem erneuten dramatischen Massensterben vor Lampedusa kamen 360 Menschen ums Leben, als ihr Boot in Flammen aufging. Es soll von der libyschen Küstenwache beschossen worden sein- kriegerisches Szenario gegen hilflose Asylsuchende. Und eine Woche später kamen Meldungen von der maltesischen Küstenwache, dass erneut ein Boot vor Malta kenterte. Zuerst ging die Zahl von 40 Toten durch die Presse, später hieß es, es seien vermutlich viel mehr, wer weiß: Vielleicht bis zu 200 Menschen. Niemand wüßte, wieviele sich zu Anfang auf dem Boot befunden hätten. Sprunghaft steigende Totennachrichten, Meldungen wie von der Kriegsfront: Nachrichten in einem hochmodern ausgerichteten Europa.

Dass die Regierungsschefs neulich bei den Europaratssitzungen am 24. und 25. Oktober über die Flüchtlingspolitik nur mit dem Ergebnis aufwarteten, Frontex auszuweiten und sich an das technischologische Überwachungsprogramm Eurosur und die Mobilitätspartnerschaften, zu halten, die schon seit längerem unter Dach und Fach sind – das hat wohl kaum jemanden gewundert. Schließlich gehören alle diese Instrumente, zum Abschottungsvorhaben, und dieses Vorhaben knüpfte sich an Schengen seit vielen Jahren. Schengen wurde zementiert, und Ignoranz und Flüchtlingsabwehr für die Grenzsituation wurden vorangebracht.

Schäbig-dumm erscheinen einem die Schlüsse, die führende EU-PolitikerInnen dabei vor der augenscheinlichen Schande für Europa zogen: Sowohl EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström wie auch der bundesdeutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich wollen Menschenschleppern mit mehr Überwachung das Handwerk legen. Wie dreist wischen sie eine Verantwortung des europäischen gigantischen Projekts der Grenzabschottung weg! Es scheint, dass die Konservativen der EU schon reflexartig nach kriminellen Elementen ausspähen, und schließlich: die Überwachungstechniken der Festung, Großaufträge für die europäische Rüstung und Konjunkturantrieb, sollen ja auch angewendet werden. Hören wir bloß diese Neuigkeit vom 13. Oktober (Stuttgarter Zeitung): „Die EU-Innenminister sagten bei ihrem Treffen in der vorigen Woche zu, Italien mit europäischen Grenzschützern zur Rettung von Flüchtlingen aus Seenot zu unterstützen.“ So wird jetzt, in 2013 eingestanden, dass solche Rettungsaktionen vor Italien für Frontex noch gar nicht ausreichend vorhanden waren. Jahrelang streuten die Minister die halbherzige Behauptung, mit Frontex würden doch auch maßgeblich Leben gerettet. Und nie zwang sich die EU-Politik selbst zum Umdenken, als zahlreiche Frontex-Manöver, gefährlich für Leib und Leben der Flüchtlinge auf hoher See, bekannt wurden: Etwa in 2008, als Pro Asyl unter dem Titel „Abdrängen und Zurückweisen“ Frontex-Tätigkeiten dokumentierte: Seemanöver, bei denen die kleinen Cayucos der Geflüchteten weit zurück gedrängt wurden in die Gewässer, aus denen sie kamen. Alleine schon die hohen Bugwellen bei solchen Zurückdrängungen sind lebensgefährlich. Oder aber die Menschenrechtsverletzungen durch die griechischen Küstenwachen in 2008. Damals schien es für diese Küstenwachen üblich geworden zu sein, die Hilflosen auf offenen Steininseln auszusetzen, ihre Wasser- und Lebensmittelvorräte zu vernichten und ihre Boote zu zerstören.

Und als, wie im Krieg, immer mehr Zugangswege strategisch für die Asylsuchenden abgeriegelt wurden, wurden die genötigt, immer weitere Wege zurückzulegen. Vermehrt starteten sie in den letzten Jahren auch schon von Guinea-Bissau aus.

Zu diesen Aufrüstungen an den Seegrenzen und an den Außengrenzen in Nordafrika, Nahost und Osteuropa drängte man immer in Verbindung mit Schengen.

Kontinuierlich hatte Schengen mit der Abriegelung zu tun. Das wurde zum Beispiel vermerkt, als die NGO-Arbeitenden der Malischen Vereinigung für die Zurückgeschobenen (AME) zu einem Vortrag im Dezember 2012 nach Berlin kamen. Alassane Dicko referierte hierbei: „Die Folgen von Schengen konnten die EinwohnerInnen Afrikas direkt mitverfolgen: Europa öffnete seine Binnengrenzen und drängte gleichzeitig darauf, dass Nordafrika die eigenen Binnengrenzen überwacht. Die europäische Reisefreiheit nahm zu, und unsere Reisefreiheit wurde uns genommen.“

Letztlich zeigt sich Schengen inhaltlich auch als Konstruktion eines selbstbespiegelnden Europa, das sich über Wirstolz und Profitkurven definiert, so wie es die Konservativen der Festung voranbrachten.

2007: Im Oktober wurde gemeldet, dass 17 Flüchtlinge vor der griechischen Insel Samos mit ihrem Boot kenterten und vermutlich starben. Zugleich traf der EU-Justizkommissar Franco Frattini in der Slowakei Regierungsmitglieder: Beim Zutritt des Landes zur EU galt es als wichtig, dass das Land seine Hausaufgaben machte und die optimale technische Ausrüstung an der Grenze zur Ukraine vorwies. In jener Zeit trafen auch die Innenminister der Staaten in Brüssel zusammen und berieten sich über das, was nun EUROSUR wurde: Die elektronische Überwachung aller Bewegungsabläufe an den Außengrenzen war geplant, „um illegale Einwanderer und Terroristen abzuwehren“. Innenminister Schäuble war es beispielsweise, der oft diese sprachliche Verbindung von Flüchtlingen und Terroristen fertigbrachte. So muss man wohl sagen: Ein Feindbild reiste immer mit, wenn sich die Politik an einem Konferenzort für eine der Schengen-Reformen traf. Erinnern wir uns an eine weitere Meldung von 2007: 44 Flüchtlinge wurden vor Lampedusa von sieben tunesischen Fischern aus Seenot gerettet. Nun standen die Fischer wegen Beihilfe zur Einreise vor dem Gericht in Agrigent. Jahre später sollten sie freigesprochen werden- nach einem zermürbenden Prozeß. Solche Prozesse der Schande gegen solidarische Lebensretter sind möglich gewesen in einer EU der Flüchtlingsabwehr, wo sonst?

Man denkt auch an den Mai 2011, als vermehrt Flüchtlinge infolge der Revolten aus den nordafrikanischen Ländern über das Mittelmeer reisten. Indessen waren EU-Parlament und EU-Kommission bestrebt, im Juni 2011 die Frontex-Mandate und Ausstattung zu erweitern. Eine europäische Antwort auf den arabischen Frühling.

Während Brüssel nur halbherzig die Seenot-Gefahr in dieser Zeit thematisierte, löste die italienische Regierung hitzige EU-Debatten aus, als sie Reisevisa für einige hundert Personen in Lampedusa ausstellte. In jener Zeit befand eine Cecilia Malmström vor den Presse-Kameras: Eine verbesserte Asylpolitik müsse her, und die beinhalte „mehr Frontex und mehr Schutz der Schengen-Grenzen gegen illegale Einwanderung.“ Sie gebrauchte auch das Wort „Solidarität“ im Zusammenhang mit Schengen-Kontrollen. In jenen Tagen verstand es sich für die EU-Minister, dass unter Solidarität eine gemeinsame Kontrolle gegen die Einwanderer zu verstehen sei, nicht etwa das Tätigwerden für die Einwanderer auf hoher See.

Erinnern wir uns an das Frühjahr 2012, als Hans-Peter Friedrich sieben weitere EU-VertreterInnen in Luxemburg traf, um über mehr Kontrollen gegen „illegale Einwanderer“ zu beraten. Friedrich brachte einen weiteren Vorstoß zur hermetischen Abriegelung der griechisch-türkischen Grenze.

Wiederkehrend verwendet die rechtspopulistische Politik für ganz normal den Begriff „Illegale“, während doch das Ersuchen von Asyl ein Menschenrecht sein sollte – im Gegenzug müßte doch gerade das Zurückdrängen von Asylsuchenden als illegal und völkerrechtswidrig gelten.

In der europäischen Konstruktion Schengen wird auf den Kopf gestellt, was auf den Füßen stehen sollte: Dies Europa „benötige Solidarität“ – nicht die von Krieg und Hungersnöten heimgesuchten afrikanischen Länder. Dieses Schengen müsse „sich schützen“, nicht Flüchtlinge müßten geschützt werden. Und dito die seit einiger Zeit von Friedrich geschürte wehleidige „Angst“ vor einem „Ansturm“ der MigrantInnen, die er als „Wirtschaftsflüchtlinge“ abwertet: Geflüchtete, die aus Kriegen und Hungersnöten gekommen sind. Werte auf den Kopf stellen, das kann man in der EU gut, nur um dem Gedanken der Mitmenschlichkeit und der ermöglichten legalen Einreisewege auszuweiche

Wenn bestimmte Stadtbewohner unsichtbar werden

 Telepolis, http://www.heise.de/tp

von Birgit von Criegern

01.11.2013

Stadtumstrukturierung in den Großstädten bringt zunehmend die Verdrängung Armer und Großprojekte bis hin zur „Deurbanisierung“

Dass Wohnraum in den Innenstädten knapp wird, hatten die großen Parteien bei ihrem letzten Wahlkampf zum Thema gemacht. Natürlich zählte dabei stark der Image-Faktor. Wie viel etwa aus dem SPD-Programm bezüglich Wohnpolitik umgesetzt oder bald verrauchen wird, bleibt offen. Nachdem aber der Kahlschlag mit Privatisierungen passiert ist, darf man sich nur auf kosmetische Veränderungen einstellen.

Bei Wohnungsnot besonders für die Erwerbsarmen und Erwerbslosen ist auffällig, dass es um eine Not geht, die sich nicht auf nationale oder urbane Eigenheiten beschränkt, sondern offenbar mit globalen Vermarktungstendenzen zu tun hat: Die Not spanischer Einwohner unter Hypothekenlasten zeigte das ebenso wie die Proteste für Wohnraum bei Occupy in Tel Aviv vor zwei Jahren und auf dem Taksim-Platz in Istanbul dieses Jahr. In Istanbul wird eine brutale Verdrängung von Armen aus der Innenstadt zentralisiert von der AKP-Regierung betrieben und von keinerlei sozialen Maßnahmen begleitet. Hier geht es um staatliche Politik für Profitgeschäfte bei Bauprojekten.

In Berlin wurde liberale Stadtumstrukturierung betrieben: Seit den 1990er Jahren verkauften Stadtregierungen öffentliche Liegenschaften und Wohnungen an Investoren. Die Stadt im Zeichen des globalen Wettbewerbs und der Spekulationsgeschäfte hat sich deutlich gewandelt. Aber seitens der CDU und SPD will man nicht zu den Folgen der Vermarktung bekennen. In den Stellungnahmen im Wahlkampf wurden Bevölkerungsentwicklung und einige „Versäumnisse“ als Grund genannt. Man spricht auch gerne von der Attraktivität Berlins für Zuwanderer.

Wenn Möglichkeiten für Stadteinwohnerschaft beschränkt werden

Manche Prozesse tragen die Züge einer „Deurbanisierung“. In dem Essay aus diesem Jahr: „Does the city have speech?“ (http://saskiasassen.com/PDFs/publications/does-the-city-have-speech.pdf) verwendet die Soziologin Saskia Sassen den Begriff „deurbanizing“ für einen Prozess bei zeitgenössischen globalen Tendenzen von Stadtstrukturierungen. Zugleich erforscht sie das Verhältnis von Subjekt und Politik, Stadtbürger/in („citizen“) und Regierungstechniken. Sassen macht deutlich, dass urbanes Potential zwar immer ein umkämpftes Feld war.

Die Rolle der Stadteinwohnerschaft gegenüber politischen Konzepten vor dem Hintergrund historischer Beispiele wird in dem Essay ausgelotet und gezeigt, dass die nicht-geplanten, freiheitlichen Praktiken der Stadteinwohnerschaft im „unvollkommenen System Stadt“ urbane Tatsachen schaffen. Zum Beispiel sei ein Platz „nicht einfach nur ein Platz“, sondern hinzu kam bei der herkömmlichen Bedeutung von „Stadt“, welche Anwohner in welcher Weise den Platz mit Bedeutung erfüllen (oder nicht).

Aber Sassen verweist auch darauf, dass die Möglichkeiten des Stadtbürgers bedroht seien, wenn „akute Prozesse, die Städte deurbanisieren“, umgesetzt werden:

 „Unter diesen Kräften der Deurbanisierung sind in der gegenwärtigen Zeit extreme Formen der Ungleichheit, die Privatisierung von urbanem Raum mit ihren verschiedenen Verdrängungen und die rasche Ausbreitung von massiven Überwachungssystemen in den am meisten „fortgeschrittenen“ Demokratien weltweit. Diese Kräfte bringen das Sprechen der Stadt zum Schweigen und zerstören städtisches Potential.“ (Ebd.)

Hier geht es nicht etwa um Verschwörung; Sassen zeigt einen Umbruch bei der Bedeutung von „Stadt“ und eine umfassende Entwicklung, die größere Maßstäbe mit sich bringt, als es uns lokale Politiker oft darstellen möchten. Eingebettet ist die Entwicklung in Transformationen der Stadt im kapitalistischen Kontext bis heute. „Beispielsweise hat heute das Wirken der großen Firmen für Deregulierung, Privatisierung und neue fiskalische und monetäre Politiken in globalen Städten Form und Konkretheit angenommen.“ Dabei steht auch die Sichtbarkeit von bestimmten Schichten auf dem Spiel, wie es nicht in der traditionellen Stadt der Fall war. In diesem Zusammenhang sieht Sassen Occupy und neue Formen von Protestkundgebungen bis in den Mittelstand hinein wirken: „Präsent, sichtbar füreinander zu werden, kann den Charakter von Machtlosigkeit verändern.“ So könne auch Politik von unten bewirkt werden.

Etwa bei der Demonstration in Berlin zum Thema „Wem gehört die Stadt?“ mit rund 2500 Teilnehmern während des bundesweiten Aktionstags am 28. September sah es nicht so aus, als wollte man moralisch an die Politik appellieren. Es ging offenbar darum, präsent zu sein, da Randgruppen und Arme alltäglich immer mehr ausgegrenzt werden. Entgegen der Marktlogik meldete man grundlegenden sozialen und kulturellen Bedarf an. Zu den Teilnehmenden zählten Mietergemeinschaften gegen Verdrängung aus Kreuzberg („Kotti und Co“ „Kotti und Co“ und Pankow, die Kampagne „Zwangsräumungen verhindern“ „Zwangsräumung verhindern“, Aktivisten des Refugee-Protestcamps Refugee-Protestcamps am Oranienplatz, Studenten, die den Bau von studentischen Wohnheimen forderten und Teilnehmern aus selbstverwalteten Kulturprojekten wie der „Linienstraße 26“ und der „KvU- Kirche von unten“.

Doch bespricht die Stadtregierung Wohnungsnot auf ihre eigene Weise. Kürzlich wurden zwar in Berlin von CDU- und SPD-Sprechern überteuerte Mieten als Problem anerkannt. Man versprach, dass gesetzliche Reparaturen abhelfen könnten. Aber der größte Mechanismus seit Jahren, Privatisierungen und die Ermöglichung von Spekulation mit Stadtraum in Krisenzeiten, blieb vernebelt. Erklärt wird Wohnungsknappheit mit „Versäumnissen“, und gerne wird auch mit der Attraktivität Berlins für Neu-Berliner argumentiert. Demnach würden vor allem Bevölkerungsentwicklung und etwas Marktgeschehen die Stadtentwicklung steuern. Das hört sich nach „Diversity“ an und passt recht gut zu Darstellungen der Berliner Freizeit-Industrie. Wer denkt da noch daran, dass Stadtumstrukturierung zu großen Teilen top down umgesetzt wurde und mit Wohnverhalten von unten nichts zu tun hatte?

Der öffentliche Wohnungsbau wurde beispielsweise seit 2003 stark reduziert auf etwas mehr als 3.000 Wohneinheiten jährlich. Zugleich wurden öffentliche Liegenschaften und Wohnungen zügig privatisiert; Grundstücke gingen an den Höchstbietenden, fast gänzlich ohne soziale Auflagen für den Käufer. 85.000 Wohnungen aus landeseigenem Bestand verkaufte der alte CDU-SPD-Senat. Ab 2004 gab die SPD-Linke-Regierung weitere 150.000 öffentliche Wohnungen für Finanzinvestoren frei, deren bekanntestes Beispiel der Investmentfonds von „Cerberus“ war.

Die Politik für den „Abschied vom sozialen Auftrag“ dokumentiert die „Berliner Mietergemeinschaft“ ausführlich in ihrer Zeitung „Mieterecho“ vom August 2009 und auf ihrer Website http://www.bmgev.de. Zuletzt behielt auch der neue CDU-SPD-Senat den Kurs bei, etwa mit der Fortführung des „Mediaspree“-Projekts. In seine Zeit fallen auch die mit zunehmender Härte – etwa bei der Räumung der Familie Gülbol in Kreuzberg – durchgeführten Zwangsräumungen.

Berlin: Angekurbelter Markt in der Innenstadt und keine Mietenregulierung

Im Wahlkampf beschwichtigte die SPD, man werde „manche Versäumnisse“ bei der Wohnungspolitik nachholen: So äußerte der Berliner Senator für Städtebau Müller (SPD) am 2. September für das RBB-Fernsehen, man würde wieder mehr Wohnungen für moderate Mieten bauen: „für künftige Generationen in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren“. Gemäß dem bundesweiten Programm der SPD sollen „30 Prozent des öffentlich geschaffenen Wohnraums mit einer Sozial- und Belegungsbindung versehen“ werden. Heißt: Neue Aufforstung, nachdem der große Kahlschlag für den freien Markt erfolgte.

Da sind schon große Hoffnungen an einen neuen Bauboom zu richten. Übrigens könnten z.B. in Berlin Sozialwohnungen fast nur noch in Randbezirken entstehen. Vor zehn Jahren hatte man mit Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) den Sozialen Wohnungsbau eingestellt, 28.000 Mietverhältnisse wurden nicht mehr subventioniert. Und in der Innenstadt kamen bei der Liberalisierung und der Privatisierung vieler Objekte Teuersanierungen oder Bebauung mit Luxuswohnungen, auch Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen. Ganze Bevölkerungsteile tauschten sich in den Bezirken Mitte und Prenzlauer Berg durch die Gentrifizierung aus, von Bewohnern, die hier vor dem Mauerfall wohnten, blieben nur 20 Prozent bis 2011 („Mieter-Echo“ Dezember 2011).

Zugleich setzte die Stadtregierung auf kreatives Marketing und Freizeitindustrie als neuen Wirtschaftszweig und warb systematisch für den Zuzug großer Firmen und freiberuflicher Kräfte. So wurden u.a. frühere Wohnbezirke wie Kreuzberg und Neukölln zunehmend zu Erlebnisbezirken – mit entsprechender Aufwertung und Verteuerung. In Neukölln, früher bekannt als Armen-Bezirk, wurde wohnungspolitische Aufwertung hier deutlich von ordnungspolitischen Konzepten begleitet. Das Buch des Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky „Neukölln ist überall“ liefert indirekt auch ein Dokument dazu.

Buschkowsky thematisierte „Problemgruppen“ und vermeintliche Hartz IV-Erschleichung, und er erklärte sich unzufrieden mit den vorhandenen Sozialprogrammen. Er wollte mehr ordnungspolitische Instrumente bei Leistungsbeziehenden. Indem er wiederholt kollektive Zuschreibungen und Verdächtigungen vor allem gegenüber Einwanderern anwandte, bemüht er im Buch rassistische Klischees. Kritiker seines Buches Kritiker seines Buches befanden, dass er Racial Profiling und Stimmungsmache ermögliche.

Eine von der SPD versprochene Mieterhöhungs-Obergrenze bei Neuvermietungen würde die Mietenspirale nach oben gesetzlich verlangsamen. Das käme etwas spät. Der Standard in vielen Innenstädten liegt bereits zu hoch für Billigjobbende und Erwerbslose. Mit erstaunlichem Gleichmut nahm z. B. die Senatorin für Stadtentwicklung, Ingeborg Junge-Reyer (SPD), Mietsteigerungen  hin, wie das Magazin Mieterecho  beobachtete  – über Jahre. Dabei wollten Berliner Mieterverbände schon 2007 über engere Bemessungsgrenzen beim Wert „ortsüblicher“ Mieten (mit jährlichem offiziellen „Mietspiegel“) verhandeln. Junge-Reyer verwies immerzu auf die „Nachfrage am Markt“, und außerdem: Berlin sei ja im Vergleich zu München noch moderat. Über Instrumente zur Mietenregulierung wollte sie nicht nachdenken, wie der Stadtsoziologe Andrej Holm schon 2008 in der Zeitung „Analyse und Kritik“ monierte.

Deutlich top-down konzipiert war auch das Prestige-Projekt für kommerzielle Stadtstrukturierung „Mediaspree“ am Spreeufer im Osten der Stadt (Friedrichshain-Kreuzberg). Seit 2007 sollten Flächen in Ufernähe für Investoren freigegeben werden, eine neue Anlage mit Firmenquartieren, Büros und Hotels war geplant. Der Bau der Event-Großhalle „O2-World“ samt Großparkplatz der Investorengruppe mit Aufsicht des US-Unternehmers Anschutz war damals schon beschlossen und wurde umgesetzt.

Zahlreiche Anwohner wendeten sich in der Kampagne  „Mediaspree versenken!“ gegen die Ausweitung der Bebauung und stellten den Bürgerentscheid „Spreeufer für alle“ auf. Man forderte u. a. einen mindestens 50 Meter breiten unbebauten Uferstreifen und die Einhaltung der Berliner Traufhöhe (22 Meter). Doch der Senat wollte sich nicht an den Bürgerentscheid binden. Das liegt nun fünf Jahre zurück, seitdem wurde die Vertriebszentrale von Daimler Benz errichtet – wie die O2-Halle kann sie die Nähe zum bekannten Mauerstreifen „East Side Gallery“ mit den weltberühmten Graffiti als einen Publikumsmagneten nutzen. Heute entstehen auf dem Plangebiet auch ein 63 Meter- Hochhaus für Eigentumswohnungen sowie ein Einkaufszentrum.

Verdrängt werden Erwerbsarme durch die angekurbelten Preise am Wohnungsmarkt. Und gegen die bloße Anwesenheit von Armen wendete sich eine Vermieterin sogar, obwohl sie zahlten. Letzten September kündigte eine Vermieterin in der Prenzlauer Allee (Prenzlauer Berg) dem Obdachlosen-Selbsthilfeverein „Mob e. V. – Obdachlose machen mobil!“ und begründete, der Bezirk sei schick geworden und der Verein passe nicht mehr hierher. Im stadtbekannten Verein konnten sich Obdachlose mit dem Verkauf der Zeitung „Straßenfeger“ etwas Geld verdienen; im Haus betrieb „mob e.V.“ jahrelang die Zeitungsredaktion, ein Obdachlosencafé und eine Übernachtungsetage. Hier wurde offenbar eine sozialfeindliche Komponente der Aufwertung formuliert, wenn nach Art von Klassendenken die bloße Anwesenheit von Armen nicht mehr geduldet wird. Ihre Sichtbarkeit störte.

Istanbul: Projekte vom Reißbrett gegen Stadtbewohner

Und das sichtbare Wirken ist die Form, mit der StadtbürgerInnen (bisher) eine wichtige Funktion im komplexen System Stadt einnahmen, folgt man Saskia Sassens Ausführung („Does the city have speech?“). So definiert sie für die sprechende Stadt: „Eine erhellendere Form des Sprechens ist das Erwirken von Präsenz… Es geht um die Möglichkeit, präsent zu werden, wo Abwesenheit und Stille herrschen.“ Von bestimmten Schichten muss die Präsenz zunehmend (zurück)erkämpft werden. Besonders, wenn städtisches Potential zum Schweigen gebracht wird mit der Ausweitung von Luxusgebieten und Armutszonen. In Istanbul und landesweit in türkischen Städten ist das bei Stadtumstrukturierungen der Fall. „Deurbanisierung“ kam auf der ganzen Linie seit den 2000-er Jahren und der zentralen Aufsicht der Wohnungsbaupolitik durch die staatliche TOKI-Behörde des Premierministers Tayyeb Recep Erdogan.

Aber die politischen Verfechter des totalumfassenden Baubooms sprechen dabei von Zukunftsfähigkeit und Europäisierung. Wie Yasar Adnan Adali in  „Istanbul brennt“ in der Le Monde Diplomatique (Juli 2013) berichtete, setzte die AKP-Regierung seit ihrem Regierungsantritt 2002 auf Mega-Investitionen und gewaltige Projekte als maßgebliche Konjunkturrettung des Landes. Sie intensivierte dabei die neoliberale Politik, mit der schon seit 1980 Immobilien für Spekulationsgeschäfte umgewandelt wurden- damals mit großen Haushaltsverlusten durch Bauprojekte. In Istanbul sollen jetzt in zahllosen Projekten öffentliche Flächen zu städtischen Quartieren umgebaut und verkauft werden; man betont die „Entwicklung“ und die internationale Ausrichtung. Vom autoritären Staat werden städtische Zonen „freigemacht“ für profitträchtige Investitionen.Dabei wurde die Metropole zu „einem kommerziellen Zentrum, wo die Fäden der globalen Ökonomie zusammenlaufen“, schreibt Adali. Arme EinwohnerInnen werden aus der Innenstadt vertrieben. So verplante man „vom Reißbrett“ das Viertel Tarlabasi, „ohne Respekt für historische und kulturelle Bezüge“. Hier hatte die ärmere Bevölkerung seit den 60-er Jahren Nachbarschaftsstrukturen entwickelt. Kurden und Roma aus Tarlabasi wurden seit 2006 zum Wegzug gezwungen, als die Regierung begann, 278 Grundstücke zu Sanierungsgebieten auszuweisen. Die „Sanierung“, meistens mit großflächigen Abrißaktionen, läuft über Public-private-partnership.

Vertreibung und Verschuldung von Roma-Bevölkerung

Die dramatischen Ereignisse der Sanierungsprogramme in den Vierteln Tarlabasi und Sulukule Sukulule können in dem Film „Ekümenoüpolis“ ( http://www.ekumenopolis.net) von 2011 verfolgt werden: Bulldozer der Baugesellschaften machen die Häuser der Viertel nieder; deren Bewohner müssen hilflos zusehen. Ohne soziale Unterstützung werden sie auf die Straße gesetzt. Der Regisseur Imre Azem beleuchtete in dem Film die wirtschaftlichen und demografischen Verhältnisse bei der städtischen Transformation im Zeichen des Wachstums.

Allen voran wurden die Menschen in prekärsten Verhältnissen von den Sanierungen bedroht, wie die Roma in Sulukule. Das großangelegte Abrissprogramm, mit dem 3.400 Roma aus ihren selbsterrichteten Häusern vertrieben wurden, resümierte der Guardian 2009: Die Vorsitzende der Roma-Vereinigung für Kulturentwicklung und Solidarität beurteilte, dass mit diesem „Erneuerungsprojekt“ Profite und die Vertreibung von Roma aus der Stadt angestrebt waren. Die Einwohner wurden gezwungen, ihre Häuser für 175 türkische Lira pro Quadratmeter an die Kommunalverwaltung Fatih und private Investoren zu verkaufen. Als der Abriss angekündigt wurde, appellierte Amnesty International, ohne jedoch gehört zu werden, davon Abstand zu nehmen.

Der Regisseur Azem berichtete von den Umständen der Stadterneuerungsprojekte seit 2012 in einem Vortrag über „Brutale Verdrängung in Istanbul“ am 10. Oktober in Berlin (Veranstaltungsreihe „Wohnen in der Krise“ der Berliner Mietergemeinschaft). Bei Sulukule am Bosporus-Ufer handelte es sich um ein kulturelles Erbe aus rund 1000 Jahren, das hier für die neuen Baustellen weichen musste. Die Einwohner hatten mit selbst errichteten Hütten, Gecekondus, hier in den 1970er Jahren zur Besiedlung beigetragen. Sie wurden geduldet und konnten beim Aufbau der Industrie als billige Arbeitskräfte dienen.

Heute wird ihre Vertreibung gewünscht. Dabei wird ohne Umstände vorgegangen. Für den Stadtumbau hat die Regierung früher kommunal verwaltete Wohnraumbehörden zentralisiert und in die staatliche Wohnungsbaugesellschaft Toki (http://www.toki.gov.tr/english/eb.asp) überführt. Die agiert jedoch wie ein privates Unternehmen. Auch wurden seit 2006 die Gesetze geändert, um Enteignungen in kurzer Frist zu ermöglichen. Z. B. ermöglicht das Gesetz von 2012 „zum Schutz vor Naturkatastrophen“ rasche Umsetzungen von Anwohnern für Stadterneuerung: „Gegen Räumungsankündigungen können nun betroffene Einwohner nicht mehr klagen, schon der Versuch wird mit Strafe bedroht“.

Für durchschnittlich 40.000 türkische Lira wurde eine solche Wohnung Roma- Einwohnern abgekauft – zu wenig Geld, um damit irgendeine andere Wohnung in der Metropole zu erwerben, führt Azem aus. Für 80.000 bis 120.000 TL werde den Betroffenen dann eine neue Wohnung der TOKI-Gesellschaft am Stadtrand zum Kauf geboten. Wohngeld oder andere soziale Maßnahmen gibt es nicht. Die kostspieligen Wohneinheiten werden jedoch als „Sozialwohnungen“ ausgeschildert. An den Ratenzahlungen scheitern schließlich die meisten der Betroffenen. Der Mindestlohn bei einer regulären Arbeit liege in der Türkei bei 600 TL.

„Auf diese Weise erwirtschaftet die Toki-Gesellschaft rasche Gewinne auf Kosten der Armen. Die Stadtstrukturierung des Staates führt Menschen in die Verschuldung und setzt soziale Probleme bis in nächste Generationen in Gang“, führt Azem aus. 30 bis 40 Kilometer sind die Ausweichquartiere von den innenstädtischen Vierteln (Tarlabasi, Sulukule oder etwa Ayazma) entfernt. In den neu errichteten Wohnsilos von TOKI würden die Betroffenen aus ihrem gewohnten sozialen Umfeld gerissen; auch gebe es dort am Stadtrand keine Arbeitsmöglichkeiten für sie. Viele der Betroffenen kamen zurück in das alte Wohnviertel, sie verkauften die Ausweichwohnung mit Schulden weiter und waren dann wohnungslos.

In Azems Film geht der Blick auch auf Protestbewegungen auf der Straße. So wird deutlich, dass urbane Politik hier der offiziellen Politik gegenübertritt und immerhin ebenfalls Tatsachen schaffte: Sie mündete in die bekanntgewordenen Taksim-Platz-Proteste. Azem ist selbst in der „Urbanen Bewegung der Bevölkerung“ IMECE tätig, die mit anderen Gruppen – insgesamt in etwa 60 Foren in Istanbul- die Verständigung bei den Verdrängungsprozessen sucht und die öffentliche Präsenz anstrebt.

In 81 türkischen Städten betreibt TOKI heute Bauprojekte. IMECE und Kulturvertreter aus Initiativen der Stadtviertel kritisieren, dass die Wohnungsbaugesellschaft nicht kontrolliert werden könne, weil sie direkt der Staatsführung unterstehe. So müsse sie auch, wenn sie das Gesetz „zum Schutz vor Naturkatastrophen“ anwende, keine wissenschaftlichen Gutachten zur Überprüfung vorweisen. Mit der Aufsicht von TOKI – das sich selbst auf der Homepage als Non-Profit-Gesellschaft bezeichnet – und mit dem Ministerium für Umwelt und Stadtplanung werden Projekte im Land gesteuert, die international und auf dem Binnenmarkt das Kaufinteresse zahlkräftiger Investoren wecken sollen. Für die nächsten Projekte wurde in 2012 der Abriss von Millionen von Gebäuden im Land angekündigt.

Von einer Orientierung an der Bevölkerung habe sich die Regierung, befindet Imre Azem, seit langem abgewendet. So wären Spendengelder für Betroffene des schweren Erdbebens von 1999 nicht für den Wiederaufbau verwendet worden. Auch warteten die Einwohner der armen Provinz Van im Osten der Türkei, die 2011 von einem schweren Erdbeben heimgesucht wurde, bis heute vergeblich auf Hilfe. In der kurdisch bevölkerten Region hätten Gruppen deshalb einen Hungerstreik begonnen und forderten, dass die Regierung für einen Wiederaufbau tätig werde.

Dem entsprach auch, dass Erdogan bei seinem Auftritt gegenüber den Taksim-Platz-Besetzen seine frontale Haltung gegenüber jeder Kritik zeigte und diese als „Plünderer“ (Tschapulisten) beschimpfte. Le-Monde-Diplomatique-Autor Adali, der auch bei Reclaim Istanbul bloggt, verdeutlicht, dass das Plangeschehen bei den Baugeschäften politisch zentralisiert ist. Das erklärt auch die Medienzensur bei der Occupy-Bewegung im Gezi-Par : Polizeigewalt wurde verschwiegen, oder es wurde gar nicht erst über neueste Ereignisse am Ort berichtet. Dennoch – oder deswegen – politisierte sich die Einwohnerschaft und die Demonstranten eroberten in jenen Wochen Tarlabasi von den Bauplanern zurück. Politische Instrumente wurden angesetzt, um betroffene Bevölkerungsschichten mundtot zu machen: Es ging um Unsichtbarmachung. Allerdings wohl nicht mit dem erwünschten Erfolg für die Regierung.

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Der Diskurs der Festung Europa – Ressentiments und Rückständigkeit. Betrachtet am Beispiel von Friedrichs „Wirtschaftsflüchtlingen“ und weiteren

von Birgit v. Criegern

Mai 2013

 Dieser Innenminister zeigt sich schon ziemlich dauer-beschäftigt mit Grenzprojekten. Eine kurze Übersicht: Im ersten Halbjahr 2012 blieben Hans-Peter Friedrich und sein Ministerium entgegen breiter Kritik beharrlich auf dem Kurs für Flughafen-Schnellverfahren und den neuen Asylgewahrsam am Großflughafen BER Berlin-Schönefeld – der Bau wurde im Sommer 2012 fertiggestellt, während die Flughafenerweiterung selbst noch ins Ungewisse aufgeschoben ist auf einen fernen Tag! Außerdem sorgte sich der CSU-Politiker vor Jahresfrist gemeinsam mit sechs europäischen AmtskollegInnen darum, dass die griechisch-türkische Grenze  abgeschottet und gegen vermeinte „Illegale“ bewacht werden solle, was Pro Asyl zu der Einschätzung brachte: „Bundesinnenminister Friedrich schürt Ressentiments gegen Schutzsuchende“ (Pressemitteilung von Pro Asyl 8.03.12; siehe auch: „Allianz gegen illegale Migration“, Neues Deutschland, 9.03.12) und erzielte hinwiederum diesseits der europäischen Außengrenzen einen Vorstoß zu einer Schengen-Reform mit schärferen Grenzkontrollen ( siehe z. B. „Schärfere Kontrollen an den Grenzen“, Neues Deutschland 21./22.4.12), ebenfalls ging es hier gegen „illegal“ erklärte Einwanderer und Asylsuchende. Was ihm dann im zweiten Halbjahr 2012 unter den Nägeln brannte, waren die „Sozialleistungen“ für hier lebende Menschen im sogenannten Asylverfahren – seit jene per Urteil vom Bundesverfassungsgericht im Juli 2012 um 110 Euro aufgestockt werden sollen, weil sie für viel zu niedrig befunden worden waren, fand es Friedrich für nötig, vor vermeintlichen „Wirtschaftsflüchtlingen“ zu warnen, die jetzt „ermutigt“ seien, ins Land zu reisen, weil ihnen hier Bargeld winke.

 Friedrich konterte dabei das Verfassungsgerichtsurteil mit der Forderung nach mehr Kontrollen, wobei er den Fokus speziell auf serbische und mazedonische EinwandererInnen lenkte – deren eventuelle Ausweisung bei Leistungsmißbrauch solle durch neue „migrationspolitische Erwägungen“ möglichgemacht werden. Die Berichterstatterin „Twister“ im betreffenden Artikel bei „Telepolis“ vom 28.12.12 merkte hire an, dass der Minister mit seinem Vorstoß ein gesprochenes Rechtsurteil offen mißachtet. Leider wurde dann tatsächlich auch in diesem Winter wieder die Rückschiebung von BalkaneinwandererInnen durchgeführt. Friedrichs Wort vom „Wirtschaftsflüchtling“ ist umso perfider, als es sich bekanntermaßen bei EinwandererInnen aus Osteuropa auch um Roma handelt, die in den Balkangebieten meist in völlig ungesicherten Verhältnissen ums Überleben kämpften und von Verfolgung bedroht sind, die also buchstäblich zur Flucht genötigt sind. Anstatt in der Sprache endlich neue Termini zu finden, die dem Schutzanspruch von besonders gefährdeten ethnischen Minderheiten wie den Roma gerecht würden, wurde hier wieder ein Stammtischwort aktiviert, das im Gegenteil dazu geneigt ist, gefährliche Tendenzen der Ausgrenzung und Beschuldigung noch anzuheizen.

 Mit dem Wort „Wirtschaftsflüchtling“ hält die Politik keinerlei Aufschluss bereit, im Gegenteil, es transportiert Ressentiments gegen Flüchtlinge, deren tiefe Not es versimpelt und deren tiefe und stichhaltige Fluchtgründe es ganz einfach inhaltlich unterschlägt. Und es kann eine gefährliche Dynamik erzeugen, da es sich auch in das hirnverbrannt-irreale und ressentimentgeladene Weltbild wiedererstarkender europäischer FaschistInnen fügt.  Dass hier in der Bezeichnung Verhältnisse geradezu auf den Kopf gestellt werden, werden wir im Folgenden ausführen.

Friedrich bleibt seit Ende letzten Jahres auf dieser Argumentationsschiene und ereifert sich seit einiger Zeit auch noch explizit gegen „Armutsmigranten“ aus Bulgarien und Rumänien. Am 4.3.13 wetterte er im Spiegel , „wer nur komme um Sozialleistungen zu kassieren und das Freizügigkeitsrecht zu missbrauchen“, müsse „wirksam abgehalten werden“ (Siehe „Friedrichs Sündenböcke“, Junge Welt, 6.03.13) –wie die JW-Autorin Ulla Jelpke anmerkt, sei jetzt vermutlich auch der Wahlkampf ein Motiv für diese bedenklichen Töne. Sekundiert wurde Friedrich vom Präsidenten des Ifo-Wirtschaftsinstituts Hans-Werner Sinn, der ebenfalls eine „Erosion des deutschen Sozialstaats“ drohend sah und Zuwanderung  begrenzt sehen wollte. Sorgen bereitet Friedrich der Termin 1. Januar 2014, wenn die letzten Einschränkungen fallen, mit denen die Bundesregierung den deutschen Arbeitsmarkt gegen Arbeitssuchende aus Rumänien und Bulgarien vorbehielt.

 Das Klischee vom „Wirtschaftsflüchtling“, in Kameras und Mikrophone hineingeschwafelt,  kann eine unverantwortliche Wirkung haben. Erinnern wir uns nur an die jüngsten Pogrome gegen Roma im vergangenen Jahr in Ungarn und an die ständigen Gefahren der Übergriffe oder die gesellschaftliche Ausgrenzung in Rumänien, aber auch in Italien, Frankreich und Deutschland, so zeigt die Politik der Grenzkontrollbeflissenen ihre Rückständigkeit oder Ignoranz, da sie keine konsequente Schutzmaßnahme aufstellen oder suchen, sondern vielmehr Vorurteile neu ankurbeln.

Übrigens höre ich aus obigem Klischee außerdem am Rande auch ein hierzulande übliches „verdinglichtes Denken“ (Adorno) heraus, das sich nicht zu blöd ist, „die Leistung“- und die deutsche Leistung- , das quasi-vergötzte Sozial-Geld zum zentralen Ding-Objekt für unser Sein zu erklären, und Geflüchteten zu unterstellen, für dieses Ding ( das nur verzehrt werden , aber nur mit Zauber gewinnhaft gehortet werden könnte) aus hunderten Kilometern Entfernung anzureisen, um sich hier der Untätigkeit hinzugeben. Kurz gesagt, wer das bisschen Stütze so verkultet, muss irgendwie selbst davon besessen sein, so jemand muss nicht ganz richtig ticken. Perfiderweise wird dabei vom Innenminister verschwiegen, dass Flüchtlinge hier jahrzehntelang viel zu wenig Sozialgeld, 240 bis 280 Euro, bekamen, und das Dach überm Kopf normalerweise als kapitalistisches Almosen in Form von Baracken und Abriß-Kasernen zugebilligt erhalten. Die Scham dafür hat das Ministerium noch gar nicht aufgearbeitet, sie sollte ihm als Pflichtpensum auferlegt werden, das wäre schön.

 Gar logisch könnte es aber sein, dass nun auch Hans-Werner Sinn, der zum Beispiel schon vor Jahr und Tag die Liberalisierung des Arbeitsmarktes im Verlauf von Hartz IV mit Niedriglöhnen und Deregulierung verteidigte, sich ebenfall für dieses Gerede ins Zeug legt. Die europäische (Geld)freiheit meint Liberalismus in erster und zweiter Linie, und der Marktliberalismus behauptet sich hier auch zu einem gewissen, vermutlich wachsenden Anteil von ungesicherten BilliglöhnerInnen. Dass Freizügigkeit in Europa nicht nur Arbeitsbereitschaft, sondern auch Rechte und Absicherungen mit sich bringen könnte, wird jetzt mit einemmal als unerhörter Luxus erachtet. Dass auch die EinwandererInnen der Balkanstaaten hier an einem Sozialstaat teilhaben sollten und hier eine letzte Konsequenz aus der Öffnung und europaweiten Liberalisierung ziehen- welche Ungeheuerlichkeit, meinen diese hier!

 Wie aber, wenn erst umgekehrt ein Ganzes draus würde, und wenn die Behauptung vom „Wirtschaftsflüchtling“ von manchen Verhältnissen ablenkte? Sind es nicht gerade eben die BilligarbeiterInnen, die Geflüchteten, auch oft die Papierlosen, die am wenigsten Gesicherten , von deren Arbeit hier die Prestige-Wirtschaft ihren Nutzen samt Gewinn zieht? Zu ihnen zählen besonders maßgeblich auch EinwandererInnen aus Rumänien, Bulgarien, Mazedonien, Serbien. Und solange sie hierzulande unter prekärsten Bedingungen arbeiten, mag ein Friedrich und ein Sinn ihnen das Seinsrecht in Deutschland zubilligen.Was aber, wenn sie nicht einmal bezahlt werden?

Bekannt wurde nur ein solcher Fall am Berliner Großflughafen BER, besonderem Prestige-Projekt am Ort (dessen Prestige noch vor einem Jahr nicht von platzenden Terminen und Planverschiebungen angekratzt war). Damals berichtete ein Film von osteuropäischen Arbeitern, die Anfang 2012 um ihren Lohn geprellt wurden, nachdem sie monatelang geschuftet hatten. „Als sie sich wehrten, wurden sie gekündigt“, heißt es im Bericht „Dumpinglöhne am Airport“ vom Neuen Deutschland 13.04.12. „Die Leute werden in ihren Ländern über Anzeigen oder das Internet angeworben, dann treten Vermittler auf den Plan, von denen sie nur Vornamen und Handynummer kennen“, erklärt im Bericht eine DGB-Sprecherin, die diese Praxis als eine Art „Geschäftsmodell“ einschätzt.

60 ungarische Arbeiter hätten sich zur Wehr gesetzt, im Film wurde daraufhin auch von einigen Kollegen- bis zu hundert insgesamt- aus Bulgarien, Lettland und Rumänien von Betrug bei den Lohnversprechen erzählt. In welche Anzahl solche Fälle gehen mögen, wer kann das sagen, zumal die Anzeige bei einer Gewerkschaft oder beim Arbeitsgericht sicherlich nicht zum Normalfall zählt?

Werden BilligarbeiterInnen aus Osteuropa hier nun auch noch beanspruchen, sich zwischen den Zeitarbeitsstellen oder den schlecht entlohnten Jobs oder den Aufträgen als Scheinselbständige in einem Werkvertrag- wobei sie sich dann auch noch selbst komplett versichern und Steuern zahlen müssen- bei einer Sozialleistung oder Arbeitslosengeld vorübergehend zu erholen, zu orientieren und arbeitsrechtlich zu organisieren, könnte das dem Konzept von „Europa“ in den Köpfen der Liberalen und der führenden Politik von Christ- bis Sozialdemokratisch  widersprechen.

 Noch in einer weiteren Hinsicht kann das Klischee „Armutsflüchtling“ Verhältnisse upside down drehen und von Tatsachen ablenken.  Die europäische Wirtschaft selbst sichert sich ja  auf Kosten anderer Länder ihre Marktführung, ihre Gewinne auf dem Weltmarkt, ihre Arbeitsplätze auf diesem Weltmarkt, und die Rohstoffe für den Konsum des industriellen Nordens – aus Ländern des Trikonts, in denen Not herrscht: Von den Rohstoffen aus kongolesischen Minen, die bei Menschenrechtsverletzungen der einheimischen Arbeitenden   gefördert werden („Bei metallischen Rohstoffen führt kaum ein Weg an Menschenrechtsverletzungen vorbei“, Christoph Mann, Telepolis 20.04.12) bestreiten die westlichen Großkonzerne die Produktion für die europäischen technischen Gepflogenheiten, für den europäischen Konsum und die europäischen Arbeitsplätze, sowie für die Konzerngewinne. Vom Uran aus Niger wird die Energieversorgung der französischen Atomkraftwerke durch den Konzern Areva zu 40 Prozent gesichert (Bericht der „Graswurzelrevolution“, Februar 2013), wobei die Gewinnbeteiligung der dortigen Bevölkerung lächerlich gering veranschlagt wird im Vergleich zum Konzerngewinn.

Maßgeblich hat der Norden aber die lebenswichtige Nahrungsquelle afrikanischer BewohnerInnen, den Fisch, so weit ausgebeutet, dass sie zu einer ernsten Ernährungs- und Beschäftigungskrise führte. „Europas Raubzüge zur See“ führten, so der Bericht in Le Monde Diplomatique im Januar 2013, zu einer Überfischung der afrikanischen Gewässer von dramatischem Ausmaß. „Die Hälfte des tierischen Eiweißes, das die Bewohner von Ländern wie Bangladesch, Gambia, Senegal, Somalia oder Sierra Leone verzehren, stammt von Fischen. Speziell in Afrika boten Fisch und Meerestiere bei Dürreperioden immer wieder eine Nahrungsalternative…Doch seit die Fischereigroßmächte von Europa, Russland, Korea, Japan und neuerdings auch China die tropischen Gewässer entlang der afrikanischen Küste anfahren, machen sie den örtlichen Kleinfischern Konkurrenz und bedrohen die Nahrungsmittelsicherheit ganzer Länder.“ Beispielsweise sei die Zackenbarschpopulation vor Westafrika in den letzten zwanzig Jahren um 80 Prozent zurückgegangen.

Die Ausbeutung der Naturvorräte in Ländern des Südens durch den Norden wird jedoch nie ernsthaft als dringliches Problem von der Brüsseler Politik oder den Innenministern den EU-Staaten thematisiert, geschweige in Verbindung mit einer Asylreform gebracht. Hohn ist das Wort vom „Wirtschaftsflüchtling“ also auch während einer hegemonialen Marktausübung gegen die Opfer dieser globalen Marktkonkurrenz.

 Vor allem jedoch wird in der Behauptung vom „Wirtschaftsflüchtling“ die Tatsache von Krieg, Diskriminierung und Entrechtung aufgrund des Geschlechts oder der ethnischen Zugehörigkeit, und von einer Vielzahl anderer Fluchtmotive unterschlagen und totgeschwiegen. Im Abschottungsdiskurs europäischer politischer (oder andere ) Akteure wird außerdem auch eine Rückständigkeit deutlich, die sich in einem ganz bestimmten  Schweigen äußert – in der Ignoranz gegen soziale und ökologische Entwicklungen als Folgen der Globalisierung, die noch immer keine Motivation führten, die Kriminalisierung von Flüchtlingen zu stoppen und zu einem allgemeinen Asylrecht überzuleiten.

 Das läßt der neue Report vom Januar 2013 „Auf der Flucht vor dem Klima“ ahnen, der zeitgenössische Globalisierungsfolgen und ihre Konsequenz in einem ganzen Komplex von zerstörerischen Effekten auflistet, und der bislang – wie auch frühere Reporte  über dieses Thema –  nicht von Brüssel oder von der deutschen Regierung in Betracht gezogen wird, um von der Abschottung der EU-Außengrenzen abzurücken oder das Vokabular über Fluchtgründe endlich zu ändern.

Der Report der Flüchtlingshilfsorganisationen Medico International, Pro Asyl und weiterer Organisationen fordert u.a., „Europäische Verantwortlichkeiten“ wahrzunehmen und u.a. : „Die Illegalisierung und Kriminalisierung von MigrantInnen (zu) verhindern, speziell im Hinblick auf Menschen, die aufgrund von Klimafolgen abwandern“ (Report, S. 28). Des weiteren werden „dringend Reformen in den internationalen Handelsbeziehungen und speziell in der Eu-Subventions- und Fischereipolitik“angeraten. (Report, S. 28) Im Report wird die Verflechtung der Gründe für Flucht, von wirtschaftlicher Ungleichheit, Landkonflikten bis hin zu Bürgerkriegen, Hungerkatastrophen und ökologischen Folgen der Umweltzerstörung wie Anstieg des Meeresspiegels und Bodenerosionen (unter anderen) dargelegt ( und in den zahlreichen Fakten und Ausführungen lässt sich die ganze Gegendimension zur Argumentationsqualität und zum Nicht-Wissen-Wollen eines deutschen Innenministers mit seinem „Illegalen“-Termini etc. erfassen. Und auch in diesem Report wird z. B. auf die „Vernichtung von Lebensgrundlagen in den Ländern des Südens“ auf dem Gebiet der Fischerei hingewiesen: „Es war in erster Linie die EU, die die Existenz westafrikanischer Fischer mit industriellen Fangmethoden ruiniert hat.“ (S. 9)

Die Flucht vor Umweltschäden und Klimawandel ist laut dem Report ein Phänomen, das  immer noch nicht in der EU zu einer verbindlichen Erneuerung bei der Definition des Flüchtlingsstatus geführt hat. Dabei ist aber genau dieses Phänomen überdeutlich und werde noch wachsende Bedeutung bekommen: „Die meisten Schätzungen gehen davon aus, dass heute bereits mehr Menschen vor Umweltkatastrophen fliehen als vor Kriegen. Nach UN-Schätzungen werden in den kommenden Jahren mehr als 50 Millionen Menschen aufgrund von Wüstenbildung , Überschwemmungen oder anderen ökologischen Katastrophen ihre Heimat verlassen.“ (S. 11)

Die Ignoranz im Abschottungs-Diskurs ist empörend, weil sie täglich die Opfer von Kriegen, von Gewaltakten und von Verlust der Lebensgrundlage kriminalisiert, fordert also in gewisser Hinsicht die Vernunft der EU-BewohnerInnen, der ZeitzeugInnen, geradezu heraus, um sich mit den Flüchtlingen zu solidarisieren. Die Argumentation der Grenzschließer, wie oben, stemmt sich geradezu gegen die Zeit, denn in der Zeit haben sich die zerstörerischen Folgen der geheiligten Marktwirtschaft mit ewiger Expansionssucht gezeigt. Es scheint mir zumindest, als würde damit der Wahnwitz der Abschottung immer rigider, und die Aufmerksamkeit der Bevölkerung kann jeden Tag entscheiden, ob der Kurs allgemein bejaht wird oder nicht. – 2013

 Bilder aufnehmen ist hier verboten

Birgit v. Criegern

März 2013 Trend/infopartisan

Eine Überlegung zum Zensurverhalten der Behörden bei den europäisch-griechischen Flüchtlingslagern von „Xenios Zeus“

 Seit dem August 2012 werden Geflüchtete in Griechenland, die in Europa Schutz suchen, bei dem Aufnahmeprogramm „Xenios Zeus“ in Polizeistationen und neu errichteten Lagern festgehalten; eine Praxis vom Europa der Abschottung, das taubblind bleiben will gegen die schlichte Möglichkeit, das Dublin II –System abzuschaffen und Asylbegehrenden Zugang zu allen EU-Staaten zu ermöglichen anstatt sie im Erstland festzuhalten, und vom Europa der Abschottung, das Ressentiments gegen die Menschen produziert, die aus Afghanistan, Iran, dem bürgerkriegserschütterten Syrien, aus Nahost, Somalia, Sudan oder dem jetzt wieder von Krieg betroffenen Westafrika geflüchtet sind.

Bei der dominierenden EU-Politik von Rechtskonservativ bis Sozialdemokratisch bleibt Ignoranz an der Tagesordnung, jedoch muss diese Ignoranz immer rigidere Formen annehmen und mit Zensur oder der Produktion von Halbwissen erhalten werden. Das fiel mir auf, als ich Ende Januar einen Hinweis zum Youtube-Video  über „Xenios Zeus“ erhielt, das von  MenschenrechtsbeobachterInnen gedreht wurde, die das größte Lager in Korinth besuchten: Von einer Delegation vom zivilgesellschaftlichen Komitee aus Korinth und aus Syriza sowie Delegierten der Rosa Luxemburg Stiftung. Ihr Film dokumentiert ihre Besichtigung des Flüchtlingslagers mit einer Tonaufnahme, und Interviews mit den griechischen Komitee-Mitgliedern, die von ihrer Unterstützungsarbeit vor Ort und von ihrer Beobachtung des politischen Abschottungs-Kurses berichten, und Einzelheiten über das Lager. Bilder, die das Lager betreffen, gibt es jedoch nur von der Einfahrt und den Wachtposten. Denn es war verboten, Bilder vom Lagergeschehen aufzunehmen, berichteten die Delegierten.

Über die Zustände im Lager berichten sie mit einer Tonspur und begleitenden Textpassagen: Seit dem Bestehen von „Xenios Zeus“ seien insgesamt 40 000 Menschen interniert worden. Das Projekt mit der Internierung von Flüchtlingen, selbst wenn sie zur großen Mehrheit Papiere haben, in den Elendlagern wurde ausgerechnet nach Zeus, dem Gott der Gastfreundschaft benannt.

Im besuchten Lager sei „ein Großteil der 800 Internierten bei Besichtigung in alarmierendem körperlichen und seelischen Zustand. Niemandem war das Tragen von Schuhen erlaubt. Es gab keine Heizung und nicht genügend Wasser und Nahrung. Die Internierten berichteten von Schlägen und von der generellen Ablehnung von Asyl.“

Die Zensur bei diesem neuen europäischen Großprojekt zur Verhaftung und Abschiebung von Flüchtlingen überführt einmal mehr die EU-patriotischen, ständig hochgejubelten Werte von „Freiheit“ und eben auch „Pressefreiheit“ oder „Informationsfreiheit“, wahlweise „Bildung“. Wenn es um die elenden und menschenunwürdigen Verhältnisse in Lagern geht, die Europa für Geflüchtete am Mittelmeer bereithält, sollen jene schönen Werte ausgehebelt sein.

Der allgemein übermittelte Freiheitswert der EU, nur mit marktliberaler Freiheit passgenau übereinstimmend, entlarvt sich immer häufiger als Dogma. So auch der Umgang mit dem  Bild in dieser Gesellschaft der Zahlkräftigen, der einer Kultfunktion in der europäischen Kultur- und Kommerzwelt entspricht, während jedoch für Bildberichte von den Schrecken von „Xenios Zeus“ ein Riegel vorgeschoben und Diskretion verlangt wird. Das Signal in Korinth: Hier ist Ausnahmezustand, öffentliches Interesse unerwünscht! Zumindest soll solchem Interesse nicht zu einfach mit der üblichen Methode der Bilderaufnahme nachgekommen werden. Jedoch die Bilderflut im Innern Europas ist längst eine  Konsumbegleitung, die besonders maßgeblich die Zurschaustellung der Waren exerziert folgend der kapitalistischen Neigung zur „Obszönität“, wie sie Herbert Marcuse einmal feststellte. Diese Bilderverbreitung scheint ein Motto zu kennen: je ideologischer desto präsenter und desto plumper aufs Auge gedrückt. Denn steckt nicht auch Ideologie in den Werbe-Darstellungen, die an den Straßenrändern großdimensional aufgestellt werden, oder die in den deutschen Bushaltestellen hinter geputztem Plexiglas und künstlich angestrahlt aufragen? Diese Bilder übermitteln uns regelmäßig, was noch mit den letzten Reserven in der Lohnkonkurrenz zu erheischen und zu erträumen zu sein habe: Das Eigenheim, das Auto, der Snack oder das Aufputschmittel für zwischendurch. Und als menschliche Darstellungen  klotzt der Kommerz mit Vorbildern aus der Designer-Retorte, mit dem durchtrainierten Siegertypus und dem käuflichen Sexobjekt. Nachgeschmissen werden uns auch lachende Konsumentengesichter auf Monitoren in Bahnen und Warteräumen. Real ist an allen diesen Darstellungen nur der Pixelwert und die Foto-Shop-Kunst der HerstellerInnen. Geschönt, retouchiert und collagiert begleitet das Bild uns im Alltag des Laufens und Kaufens.

Hingegen wird in Korinth untersagt, die Realität von menschenverachtenden Zuständen bei der europäischen Flüchtlingsverwaltung auch im Bild zu transportieren. Bei dieser Bilder-Zensur von „Xenios Zeus“ scheint deutlich zu werden, „dass sich Macht immer an Wissen und Wissen immer an Macht anschließt“, wie Michel Foucault feststellte („Räderwerk des Überwachens und Strafens“, in: „Mikrophysik der Macht“, Merve-Verlag 1976). Das ist nicht als Wirkung totaler Macht, die nur in den Händen einiger weniger bleibe, zu überschätzen, aber diese Zensur kann als ein Instrument der Akteure von EU-Abschottung wahrgenommen werden, mit dem zwar nicht die Übermittlung von Wissen verhindert werden kann, aber zumindest der schnellere und allgemein gewohnte Wissenstransport durch Bildbegleitung -der z. B. auch geeignet wäre, den Menschen ein Gesicht und eine Stimme zu geben, die andauernd von ressentimentgeladenen Abschottungs-Politikern als „Illegale“ gesichtslos und bedrohlich gezeichnet werden. Durch seine Verbote entlarvt sich das Abschottungs-System, durch seine Starre steht es auf der Kippe. Jeden Tag zeigt sich die Möglichkeit für EU-EInwohnerInnen, mit dieser labilen Ordnung zu verfahren.

Das Verbot, das Signal, wegzusehen, kann verarbeitet und verstanden werden: Hier hin ist zu blicken, wenn der europäische homo consumens noch blicken kann. Der Umgang mit Zensur steht den Regierten immer noch frei. Resigniert muss nicht werden, und die UnterstützerInnen der Flüchtlinge haben das mit ihrem Handeln deutlichgemachtm indem sie die Isolation durchbrachen und eine Filmreportage übermittelten, mit Augenzeugen-Berichten in die Kamera und mit Interviews mit MitarbeiterInnen vom Griechischen Flüchtlingsrat Athen – und mit der Information von der Bilderzensur im Innern des Lagers.

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Ausharren im Nirgendwo. Flüchtlinge in Deutschland

Birgit v. Criegern

 Magazin Streifzüge 47/2009

Flüchtlinge in Deutschland „wohnen“ unter miserablen Bedingungen zu großem Teil in Wohnheimen und Lagern abseits der Gesellschaft. Ob mensch den Berichten der „Flüchtlingsinitiative Berlin-Brandenburg“ zuhört, die Homepage von „The Voice Refugee Forum“ liest oder die Lagebeschreibung (und: Lagerbeschreibung) des Flüchtlingsrates Bayern nach der „Lagerinventour 2009“ studiert, meistens begegnen Feststellungen wie: „im Wald gelegen, mehrere Kilometer vom Dorf X.“, „am Stadtrand, im Industriegebiet“, „bis zum Bahnhof drei Kilometer Fußweg“ usw. usw. Die Handhabung, Flüchtlinge an den Peripherien, in der Einöde unterzubringen, ist inoffizielle politische Regel und gesellschaftlich umstandslos akzeptiert. Ohne dass es geschrieben stünde, gilt: Flüchtlinge haben in dieser Gesellschaft kein Recht auf soziale Teilhabe. Und sie haben auch kein Recht auf Wohnen – darauf, sich als Menschen zu fühlen, selbstbestimmt zu sein und unter anderen Menschen zu wohnen.

Der Flüchtling Felix Otto aus Kamerun, der im April 2009 ins Gefängnis gehen musste, nur weil er gegen das Gesetz der Residenzpflicht verstieß – ein in der EU einmaliges deutsches Gesetz, das die Bewegungsfreiheit der MigrantInnen im Inland stark einschränkt – schrieb einen kurzen Brief aus der JVA in Suhl, Thüringen, an seine UnterstützerInnen von der Karawane für das Recht der Flüchtlinge: „Hallo (…) Ich bin seit neun Jahren in Deutschland. Es ist eine große Zeit in meinem Leben: ohne Zukunft, immer in einem Isolantewohnheim 30 km entfernt von jeder Stadt, kein Supermarkt, keine Apotheke. (…)“

Während sich manche deutsche GegenwartsdichterInnen um originelle Erfindungen abmühen, formulierte Otto hier aus dem Gefängnis heraus eine frappierende Bezeichnung, treffend und bissig zugleich. Sie verweist auf das Peinlichste, Schäbigste, was unsere Gesellschaft zu bieten hat – die Flüchtlingsunterkünfte. Er selbst bezog sich dabei auf „sein“ Wohnheim in Rodarabrunn, im thüringischen Landkreis Schleiz, abseits der Gesellschaft. Zwei Kilometer entfernt liegt die bayrische Grenze. Die nächste größere Ortschaft, Kronach, die sich für Einkäufe und z.B. Telecafé-Besuche anbot, ist jenseits dieser Grenze. Weil er diese mehrmals ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde übertreten hatte, wurde er zu acht Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. So schreibt es die „Residenzpflicht“ vor. Die Asylantenwohnheime sind „Isolantewohnheime“: ein treffendes Urteil für dieses Institut, trotz behaupteter freiheitlich-demokratischer Grundordnung, deren PolitikerInnen so gerne die „humanitären Mängel“ anderswo anprangern. Felix Otto wurde im August aus dem Gefängnis heraus nach Kamerun abgeschoben – der politisch Oppositionelle hoffte vergeblich auf Hilfe und Asyl in Deutschland. Doch für die Öffentlichkeit war er da schon kein Unbekannter mehr wie so viele andere: „The Voice Refugee Forum“ hatte gegen seine Abschiebung protestiert und den Fall in die Medien gebracht.

In den meisten Bundesländern gilt zwar, dass Flüchtlinge nach der „Erstaufnahme“ in Heimen und Lagern eine eigene private Wohnung bekommen können – doch nicht immer zwingend. Die große Mehrzahl der abgelehnten AsylbewerberInnen mit „Duldungs“status (mehr als hunderttausend insgesamt in der BRD) wird zeitweise oder dauerhaft in eine „Gemeinschaftsunterkunft“ verwiesen – mit der Begründung, sie müssten ausreisen, ihre Passangelegenheiten in Ordnung bringen. Ein Druckmittel also. Da haben dann Flüchtlinge an den Peripherien auszuharren, zumeist in Containerbauten oder alten Kasernen, während sie versuchen, die deutsche Regierung von ihren Fluchtgründen zu überzeugen – politische Verfolgung, Not und Krieg in ihrem Herkunftsland. Hier soll es nur um ein Beispiel von vielen gehen.

Möhlau zum Beispiel

Das Lager Möhlau in Sachsen-Anhalt ist eines unter vielen. Eine frühere Sowjet-Plattenbaukaserne im Wald gelegen, abseits der Städte und ungefähr acht Kilometer entfernt von einem Bahnanschluss. Sie ist nach der Wiedervereinigung nicht saniert oder abgerissen worden, wird seit mehr als zehn Jahren als Flüchtlingsheim genutzt. Hier „wohnen“ derzeit hundertachtzig Menschen, unter ihnen viele Kinder und Jugendliche. Sie kommen aus Benin, China, Kosovo, Sierra Leone, Syrien und anderen Ländern.

Ich habe das Lager besucht, zu dem es Info-Material von der Organisation „No-Lager-Halle“ (ludwigstrasse37.de/nolager) und der Initiative „Togo Action Plus“ (togoactionplus.wordpress.com) gibt.

Die Bausubstanz ist sehr heruntergekommen. Die düsteren Treppenaufgänge führen zu den Unterkünften auf mehreren Etagen. Die Türen aus billigem Holz sind teilweise kaputt, löcherig oder hängen schief in den Angeln. Auf engstem Raum sind mehrere Flüchtlinge, oft große Familien untergebracht.

Die Möbel sind oft notdürftig zusammengeflickt, durchgesessen, schäbig. Mehrere Wohnungen teilen sich eine Gemeinschaftsküche, die aus einem kahlen Raum mit mehreren Herden besteht.

Sieht mensch aus dem Fenster, geht der Blick auf ein Waldstück einerseits und auf eine versiegelte Betonfläche und mehrere alte mit Brettern provisorisch vernagelten Baracken andererseits. „Nachts hört man die Wildschweine“, sagt einer der Bewohner. Ein anderer, der hier schon seit mehr als zehn Jahren lebt, sagt: „Dieser Ort ist so gut wie alles, was ich von Deutschland kenne.“ Er spricht vor allem Französisch, konnte sich Deutsch nur teilweise im Lauf der Jahre selbst aneignen, der Besuch von Deutschkursen in der Stadt wurde ihm nicht erlaubt.

Bei gutem Wetter stellen die Männer auf dem Hof, vor den Baracken, einen klapprigen Tisch auf und spielen Karten, mehr Zerstreuung ist nicht drin. Die Frauen hängen hier draußen die Wäsche auf. Die Kinder laufen zwischen den Baracken herum. Es herrscht eine merkwürdige Zeit- und Ortlosigkeit. Die weite Entfernung zu den bewohnten Gegenden, zu den größeren Ortschaften (20 Kilometer nach Dessau, 30 nach der Lutherstadt Wittenberg, der Landkreishauptstadt), schafft von selbst eine Abschottung. Auch der selten fahrende Bus kann keine Verbindung für die Flüchtlinge herstellen – von ihrem kargen „Taschengeld“ können sie keine Busfahrten bestreiten. Es herrscht eine Art Ausnahmezustand in einem gesellschaftlichen Nirgendwo, welcher von Administration und Politik wissentlich herbeigeführt ist. Ein Nirgendwo mitten in der hochentwickelten deutschen Informationsgesellschaft. Struktureller Rassismus, sagt die Flüchtlingsinitiative „Togo Action Plus“.

Salomon Wantchoucou wohnt seit 2008 in Möhlau. Er ist politischer Flüchtling aus Benin, ein Oppositioneller. Die Kugel, die seine Gegner auf ihn abgefeuert hatten, konnte er erst hierzulande in Zerbst herausoperieren lassen. Als Beweisstück für ein Asylrecht hat sie für die Behörde nicht ausgereicht – Wantchoucou muss weiter darum kämpfen, als politisch Verfolgter hier bleiben zu dürfen. Er dokumentierte die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge hier im Lager, gründete die „Flüchtlingsinitiative Möhlau“, organisierte eine Kundgebung im Juli mit. Und er schrieb mit den Flüchtlingen im April 2009 einen offenen Brief an die Ausländerbehörde in Wittenberg, in dem sie private Wohnungen in der Stadt forderten.

Dieser war im Frühjahr von den Behörden abschlägig beschieden worden. Doch nachdem ein Flüchtling von Möhlau unter ungeklärten Umständen an Brandverletzungen gestorben war, interessierten sich die Medien für die Möhlauer Lebensverhältnisse. Zugleich bereiteten die MigrantInnen eine Demonstration in Wittenberg vor. Am 30. Juli forderte die „Flüchtlingsinitiative Möhlau“ sowie „No-Lager-Halle“ und „Togo Action Plus“ öffentlich eine dezentrale Unterbringung für die Betroffenen in Wohnungen. Jetzt, im Herbst, werden die Behörden wohl darüber entscheiden, ob Möhlau bleibt. Und von den anderen Lagern ist nicht einmal die Rede.

”Wittenberg is very very far from here“

Aus einem Gespräch, das „Togo Action Plus“ im Mai 2009 über Möhlau mit Herrn Wantchoucou führte. (Danke an die Initiative für die Überlassung von Bandaufzeichnungen.)

W.: The word of integration is a politicial word they use to blasphemy some certain things but internally some Landkreises have not even been trying to integrate the refugeees that have been living here for many years. Like for Möhlau, as long as I have been here, I have never seen people from government coming to the refugees (…), giving them information about the system and the state, so this people have been aparted out of the system by racial intend. (…)

You refugees have been saying that Möhlau must be closed. What are the most important reasons to this?

W.: Now, this Heim: The building is not what we are talking about, but the position of the Heim is not good for refugees because of lack of transportation system, lack of a place that is near to buy something. Everybody living here, all the Germans living in the small city Möhlau, have car. So we refugees don’t have car and we cannot support to be travelling from here to Dessau, to Gräfenhanichen, to buy goods that can be more than twenty kilo, thirty kilo at the same time. (…) how can this person go, itself, and go to a place very far, seven kilometres, twenty kilometres, and this even in winter, and all over the year (…)

Children are traumatised because of lack of seeing some people to which they will play together, to see some different kind of things. Then, if you want to create a Heim, create a Heim in Wittenberg! (…) And there’s a lot of empty houses everywhere, but the system wants that we must live in this isolated area. This is why we also told to the company who make this Heim, that they must close it (…), because they are making money with it, while innocent refugees get traumatised, some are trying to kill themselves, living in this situation for many, many years.

Are you getting pocket-money, and then, how do you evaluate the Gutschein?

W.: We are getting pocket-money of 20 Euro, so (…) we are using Gutschein of 130 Euro (pro Kopf und Monat, Anm. B.v.C.). So imagine a man living with this, a 130 Euro Gutschein in which it is obligatory that he will not buy this, he will not buy that. So, in African culture for example, we not always eat much sugar, or not eat things that are made with much sugar, and we cannot find things that are adapted to our situation, but that could cause diseases or diabetics and so on. Even, if we go to Gräfenhainichen and back for buying things, for one time, 10 Euro is gone from the pocket money. And also we cannot think of buying dresses, because dresses is not allowed from the Gutschein. You will not buy shoes, you will not buy a lot of things. Now how would you live? This is a criminal act. So we are telling the foreigner office of Wittenberg to stop this nonsense. (…)

How about the problem of Krankenschein, how does this work, what happens if a person is getting ill, while this place is far out?

W.: Now Wittenberg is very, very far from here, about 30 kilometres. It is where the Sozialamt is (…) They don’t have the already prepared Krankenschein. So if you are sick, you have to call Wittenberg, where they have to prepare this, and this can take many days. (…) Imagine that somebody can be chronically ill, and has to go to the house doctor, but he has no transport system, so now if someone is sick, he’ll have no energy, and before he takes the bicycle and goes to the house doctor, he could in the streets collaps or even die. (…) So who causes these consequences, that is Wittenberg Sozialsystem. (…) So we say, the people of this system should accept human dignity and think about a better system for integrating foreigners, refugeees, about a better way of life.

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Graues Papier. Umweltschutz als folgenloses Erziehungsprogramm

B.v.Criegern

(Junge Welt, 11.10.2007)

Haben Sie das auch gehört? Der UN-Klimarat hat verkündet, daß nur noch 13 Jahre zur Rettung der Erde verbleiben würden. Doch noch so viel Zeit, mein lieber Specht! dachte ich. Schon in meiner Kindheit war es ständig fünf Minuten vor Weltuntergang. Und wenn erst in 13 Jahren das Ende bzw. die finale Klimakatastrophe naht, dann haben wir jetzt eben nicht »fünf vor 12«, sondern vielleicht 17 Uhr, Teatime am Nachmittag. Der DIW-Forschungsdirektor Gert Wagner rät ganz pragmatisch zu Pflichtversicherungen für Forst- und Landwirtschaft gegen Sturm und Flutwelle; das Umweltbundesamt möchte ganz unverkrampft »120 auf der Autobahn, der Umwelt zuliebe«. Gibt es ja auch sonst schon überall außerhalb der BRD, ohne daß es dem Klima genützt hätte.

Zu Anbeginn meiner Teenagerzeit in der spröden Techno-Ära beschworen meine Freunde und ich noch alarmistisch sofortigen Handlungsbedarf. Die stampfenden Rhythmen auf den Partys stimmten uns schon einmal auf den Weltuntergang ein, den uns Medien und Schule plastisch näherbrachten. Denn an dem bayrischen Gymnasium, in dem man uns unterrichtete, herrschte Öko-Moral vom feinsten. Etliche Alt-68er waren unsere Lehrer und taten ihr bestes, uns den Angstschweiß vor dem Klimawandel auf die Stirn zu treiben. Ebenso wie die Regierung von Pippin dem Kurzen gehörte das Abschmelzen der Pole zu unseren Lehrinhalten. Im Jahre 2000, erzählte uns so ein Hartgesottener, wäre Frankfurt/Main ein Seehafen. In Fernsehberichten spendierten uns Computersimulationen bunte Bilder von sengender Dürre über Europas Hauptstädten. Das Wort Zukunft hatte damals schon keinen guten Geschmack. Wir fachsimpelten über Ozonwerte, während unsere Lehrer allesamt mit dem Auto zur Schule kamen.

Wir kleinen Hauruck- Aktivisten gingen zum Müllsammeln in die Isarauen, und außerdem bastelten wir mit Verpackungsmüll von Mc Donald’s ein Männchen, das wir zur allgemeinen Warnung beim Schulsommerfest ausstellten. Initiativen gegen den Autowahn waren ebenfalls angesagt. Bestimmt wären wir zu einer erneuernden gesellschaftlichen Kraft herangereift, hätten wir dann nicht andere Dinge zu tun gehabt. Denn Umweltschutz gilt hierzulande als Sache der Jugend, die abzuhaken ist. Er ist nur Teil eines folgenlosen Erziehungsprogrammes. Müllsammelnde Kindertruppen stören niemanden, und die besorgten Teenie-Mienen rühren immer wieder zähe alte Konsumenten. Die meisten von uns gewöhnten sich an die Apokalypse und fühlten sich als richtige Erwachsene, nachdem sie den Führerschein gemacht hatten- ich gehörte zu den wenigen Ausnahmen in Hinblick auf den Erwerb dieses Erwachsenendokuments der und hörte immer wieder ein bestimmtes Wort: »Verweigerungshaltung«. So las ich Adorno und wurde unzufriedene, selbstzerrissene Utopistin. Seitdem ist viel Wasser die Pole hinabgeflossen – doch die grüne Tradition lebt fort, und ich sehe die nächsten besorgten Schülermienen. »Bildet K-Gruppen!« rief zum

Beispiel die Grüne Jugend zu Jahresbeginn und erklärte, daß »K-Gruppen« grüne Jugendliche seien, die sich in ihrer Region zusammenschließen und etwas zum Klimaschutz beitragen. »Sie verteilen Flyer, um auf den Benzinverbrauch von Autos hinzuweisen, sie engagieren sich an ihrer Schule, um den Energieverbrauch zu senken, sie kämpfen für neue Radwege«. Ich kenne das und auch diese grauen Schulhefte in ihren Händen kenne ich gut, ich erinnere mich an das graue Papier, auf dem sie schreiben, Recyclingpapier, das Abfallpapier der Jugend! Umweltschutz als Jugendweihe, das ist eine schöne kapitalistische Sitte.

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Alltag, zweidimensional. Wider die Diktatur der Bilder

Birgit v. Criegern

(Streifzüge 46/2009)

 1

Kein Zufall: Die flachste Zeitung des Landes ist „Bild“ betitelt.

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 Berlin-Mitte, U-Bahnhof Heinrich-Heine-Straße, aschgrauer Tag und Regenhimmel, wenige Schritte vom U-Bahnhof-Ausgang hinüber nach einem Wohnblock, dabei auch Plattenbauten, gehst du auf einen begrünten stillen Hof. Es ist unweit der Spree mit ihren Touristenlokalen. Hier triffst du überraschend auf einen Bärenkäfig. Wahrzeichen der Stadt oder vielmehr plumpe atmende Wirklichkeit, graubraun und massig: Das an Wälder gewohnte Tier schnauft müde, zeigt dir volle Breitseite, ein Junges dabei – mitten im Großstadtalltag. Vielleicht sagst du dir, du solltest diesen Augenblick mit Staunen füllen – noch erstaunlicher, dass eine Gruppe Gutgelaunter, neben dir vor dem Gitter stehend, andächtig die kleinen rechteckigen Apparate gezückt und die blau leuchtenden Flächen vors Aug gehalten hat. Wenn sie das Tier auf die Displays – zwei mal drei Zentimeter – ihrer Telefonierapparate kriegen, werden sie zufrieden sein wie durch einen Besitz. Das Erleben ist wieder dem Abbilden geopfert – doch fast sieht es aus, wenn die AusflüglerInnen in ihren Regenjacken die Handys auf Augenhöhe mit gradem Arm dem Tier entgegenhalten, als wollten sie die Wirklichkeit bannen.

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Sie haben ganze Vorräte von Herzensbildern darin verstaut, als wären ihre Herzen viereckig, metallicfarben, elektrisch aufgeladen, sie zeigen dir den kleinen Lukas, der schon so groß ist, wie er im Kindersitz sitzt (2 x 3 Zentimeter), den Hund Susi, den Freund Ron vor seinem Studio-Appartement in London, das letzte Wochenendhaus in Meck-Pomm (Seeblick) und freuen sich außerdem über die hohe Auflösung. Vielleicht ist es ihnen ihr tragbarer Lebenslauf (in Bildern), in der Tasche tragbar, aber was veranlasst sie, mit ihrem Eigensten so geizig zu sein, auch gegen sich? Was veranlasst sie, dass sie das Erzählen aufgeben zugunsten des Zeigens, dass sie dir, und sich selbst, nichts mehr erzählen?

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Das Bild wurde ihnen Gebot, es geht also natürlich nicht um die Frage, ob Bilder zu stürmen seien, sondern: wie sich in der neuen Armut behauptet werden kann, die die Armut des Fühlens, des Gedankens, der Erzählung ist. Homer war blind.

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Na schön, „das edelste der Sinnesorgane“ (das Auge), für die leviathanischen AufklärerInnen, die auf Aristoteles sich beriefen und die bis heute (mehrere niedergemetzelte Revolutionen später) darauf sich berufen, dass der Staat den Menschen, „diesen Wolf“, immer noch kontrollieren müsste. Aber ihre Argumente, sprich Bilder, sind nur für kindliche Sicht geeignet, wenn man kein Gift argwöhnt und nur nach dem Bunten begehrt: Die prallen riesigen Schalen der Hybridfrüchte im Supermarkt, die großformatigen Plakate der Strom- oder Talkline-Konzerne an den U-Bahnhöfen, die Displays der Handies: Sie sind allgegenwärtig, aber sie überzeugen nicht.

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Die interessantesten Maler die, die sogar dem Bild misstrauten. Rembrandt, Turner, später Duchamp, Magritte. In einen fetten, pulsenden Schatten neben der Aristotelesgestalt in „Aristoteles betrachtet die Büste Homers“ malte Rembrandt mehr lebendiges Ungestüm hinein als Caravaggio auf eine präzis gezeichnete Arschbacke. Die, die sich mit dem Trug und vermeintlichem Abbilden befassten, ahnten schon zu Hobbes` Zeit, entgegen seiner Philosophie, diese Gefahr: dass wir zu Augenidioten werden könnten. Keine Moral, sondern Drang, weiterzukommen: Von ihrem Instrument des Malens streckten sie sich nach etwas anderem, nach dem, was sie im Leben, was sie im Ganzen erfuhren, nicht nur mit dem Auge – der gestaffelte Wolkenhimmel Courbets, die „vierte Dimension“ Duchamps lassen das ahnen oder anmelden.

Eine Malerei, die großartig die eigenen Betrügereien thematisierte, wäre heute noch interessant, aber ist grad gar nicht en vogue. Nur etwas Op-Art nach der Mode der sechziger Jahre, etwas Pornografie, das ist gefragt, und die Werbeindustrie kauft sich die Kunst, die ihr hilft „zu überzeugen“ – das heißt, den selbständigen Gedanken fernzuhalten.

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Foto: Ihre Verschwendung von Bildern, von Schnappschüssen (sie leben von Schnappschuss zu Schnappschuss). Nun gehen sie längst durch den Tag mit dem Daumen am Knopf. Keine Selbstverständlichkeit ist, was die VertreterInnen westlicher Kultur als Wirklichkeitsmedium anderen aufdrängen. Das Bild bedeutet noch immer Kontrolle (die Kameras kraft höherem, staatlichen Diktat an Straßenecken und U-Bahnhöfen, verdeutlichen es), da muss sich gewappnet werden, ganz individuell. Verteidige jedeR, was möglich ist, gegen das Auge! Eine persönliche Erfahrung, als ich durch den Iran reiste: Der Schnappschuss war da unbekannt. Als ich vor meinen GastgeberInnen die Kamera zückte, arrangierten sie, ärmliche MarktverkäuferInnen wie auch moderne Geschäftsleute, erst den Augenblick, in aller Bereitwilligkeit: Man mußte sich erst vorbereiten, in Position stellen, lächeln. Die Frauen legten ihr bestes Kopftuch an und legten Lippenstift auf. Die Ablichtung – ein besonderer Moment. Die Forderung westlicher Bilder-ProduzentInnen, jedes Foto in jedem Moment von jedem zu kriegen, was ist sie anderes als die Forderung, das eigene Konzept durchzusetzen? So wird Virtuelles hergestellt, aber mit Abbildung der Wirklichkeit, gar Kommunikation hat das nichts zu tun.

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Elias Canetti über „Den Blinden“ in seinen fünfzig Charakteren („Der Ohrenzeuge“): Dieser Blinde ist kein physisch Blinder, aber einer, der alles auf Fotografien bannen und präsentieren will und (zwanghaft) muss.

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Vielleicht hätte der Kapitalismus nicht so lange gedauert, wenn wir alle augenlos geboren wären. Die Täuschung des Ohres, fällt sie so leicht wie die Täuschung des Auges, und was können wir von den physisch Blinden alles lernen, wie viele von ihnen sind in Parlamenten, Konzernen, aber auch in Bürgerinitiativen überhaupt vertreten? Es gibt keine Studien über den Zwang zum Outfit: Ein körperbetontes Kostüm, ein paar modische Turnschuhe, Krawatte und Anzug wirken noch immer argumentlos Wunder. Fiele das alles weg, bliebe wenig mehr übrig, als das Argument, um zu überzeugen, doch es steht nicht zur Debatte – wenn die Bereitschaft zum Outfit nicht da ist. Zwar gibt es im Kapitalismus auch die Wörter, wie „Effizienz“, „Sicherheit“, die sich ihren eigenen Flor umlegen, so wie der lichtblaue Flor um Personen und Parolen auf den Abbildungen der Parteienwerbungen. Aber wer sich auf sein Gehör verlässt, blind, durchdringt wohl auch diesen Flor mit geschärften Sinnen bis auf das Mark der Stimmen, die da sprechen, und auf die Chronik der Ereignisse, die im Gedächtnis bleiben. Es ist wohl nicht ganz so leicht, mit der Stimme zu lügen, wie mit einer Krawatte zu lügen. Dass die PolitikerInnen, die Aufsichtsräte logen, dass die Versprechen leer blieben, dass mit mechanischen Stimmen uns die Konsolidierung, die Beseitigung der Krisen versprochen werden, hätten wir früher durchschauen können, wenn wir so viel gelernt hätten wie sie – die Blinden. Also lasst uns die Augen schließen und hören.

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Ich glaube den zeitgenössischen BildverehrerInnen ihre stimmige, ihre ungetrübte Weltsicht erst, wenn sie HungerkünstlerInnen geworden sind. Denn ihre Bilder kommen dem Magen und seiner Logik stets zuvor. Es können immer nur SiegerInnen sein, die das Foto, den Trailer kultivieren, den anderen fehlt das Interesse zu so etwas. Wahnwitzig ist die beruhigende Kraft von TV – wenn nur gezeigt wird, was nicht mit Leben zu tun hat, ja im Gegenteil: wenn das Grummeln und Zwitschern von den Talkshows sich wie ein Pflaster auf die Existenzkämpfe der Leute diesseits des TV-Monitors legt, wenn Frau Z. zugleich in der engen Wohnung zuhause bügelt oder Herr X. im Krankenhaus sich langweilt. Am deutlichsten die Kochsendungen, die derzeit so sehr boomen und die zugleich bemänteln und stimulieren: Zu den Pastas mit Garnelen, zu dem besonderen Tafelwein bei Biolek haben Zigtausende hierzulande nicht das Geld, aber wohl noch ein ästhetisches Verlangen. Sie schenken selbst diesen Bildern noch ein Vertrauen, das nur von anderen Krücken, vom letzten geborgten Kredit oder anderem Sicherheitsgefühl, noch gestützt sein kann. „Guten Appetit“ wünscht der Sender Arte, wenn „wir bei einer andalusischen Familie zum Ragout eingeladen sind“ und die Bäuche der AsylbewerberInnen und auch mancher Erwerbsloser knurren. Das Bild lebt von der Zufriedenheit, aber es verhilft nicht lange zu dieser.

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Glaube keiner Institution, die nicht ohne Bildplakate auskommt!

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Aber oft sind es sie, die AnbeterInnen der Bildertechnik, die dir von Realität reden: dann, wenn du ohne Bilder bei ihnen antanzt, wenn du von der neuen Armut sprichst, von der Ausgrenzung der Flüchtlinge hierzulande (kaum Fotos und Filme kursieren von ihnen, die Asylbewerberheime in Wäldern und Industriegebieten machen sie unsichtbar, das ist Kalkül), wenn du sagst, gewisse Arbeitsbedingungen seien unhaltbar. Sie fordern direkt oder indirekt, du müsstest deinen Standpunkt erstmal präsentieren im Bilderkampf, so wie sich ihre Firma, ihre Partei, ihre Chefetage präsentiert – mit einem Slogan, einem Model, einem ausgesuchten Design und ausgesuchten Farben auf Websites, im TV. Sie ahnen wohl, dass sich noch etwas anderes täglich abspielt als das allgemein Präsentierte, aber beunruhigend und unüberschaubar wäre es ihnen, sich damit zu befassen – die Bildlosen hingegen sind das neue Lumpenproletariat, und: sie werden immer mehr.

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Erst im 20. Jahrhundert wurde das Bild ja Sache der ProletInnen auch – ich denke da etwa an die „Arbeiter Illustrierte Zeitung“ in der Weimarer Republik, die, mit Fotos und Fotoreportagen vollgestopft, von den Unterschichten berichtete, und für diese. Den Ärmsten, die zum Lesen ungeschult oder zu erschöpft waren, lieferte sie die Neuigkeiten, die für sie Belang hatten. Jahrhunderte zuvor durften sich die UntertanInnen vom Bild erzählen lassen, welch edel gesonnener Feldherr Konstantin war oder wie tugendreich und schmuck die Familie des Herrn Senator. Heute steht es vielleicht wieder ähnlich, da das Monopol auf die weitest verbreiteten Bilder immer noch bei den Springer und Konsorten, bei den Bertelsmann und Kirch verbleibt – und die regieren das Denken. Es ist kein Sieg der Demokratie, wozu das Foto genutzt wurde, im Gegenteil.

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Und doch gibt es Bilder, die nicht täuschen, sondern entlarven. Wenn in den TV-Talks Menschen mit goldbraunen Gesichtern, blondgefärbten Haaren, geworfen in Anzug-und-Krawatte, reden: über Faulheit und Auf-der-Tasche-Liegen Erwerbsloser, da fragt sich, warum wir uns das gefallen lassen. Es ist auch sehr viel strategische Dummheit in der Bilderpolitik, da deren BefürworterInnen für nichts andres mehr Sinne haben.

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Botschaften. Gewiss verfügt jedes Bild über eine Botschaft, aber wie viel davon ist suggeriert, also unaufrichtig? Und wenn selbst das Bild eine Botschaft hat, ist doch nicht sichergestellt, ob die/der BildproduzentIn eine hat.

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Video: Von den Zwölf-bis Neunzehnjährigen, heißt es, hätten 92 Prozent ein Handy, und wen wundert`s: Junge Leute sind konformistisch, wollen dazugehören, wollen überhaupt erst sein und tätig werden, halten sich an das, was ältere ihnen vormachen. Letztere schaffen damit eine Bezugsebene in pädagogischen Projekten, das Bild schleift sich ein als schulisches Medium. Die SchülerInnen dürfen Videos drehen über gesunde Ernährung, über Antirassismus etc. Für den letzteren Zweck, ein Projekt in Frankfurt /Main, kamen die Handies der SchülerInnen zum Einsatz. Bemerkenswert ist an solchen Projekten, dass diese die Möglichkeit haben, selbst als BotschafterInnen zu agieren, wenn sonst von Staat und Konzernen bis zum Überdruss mit Bildern gebotschaftet wird. Wenn sie sich dabei nur nicht das Filmkonzept der Autoritäten zu eigen machen! Mögen sie staatskritisch den glatten bunten Trailer über ein moralisches Motto, sprich die Propaganda, auseinandernehmen und mit etwas Ungereimtem erwidern. Mögen sie eigene Erfahrung gegen mediales Klischee setzen, nur nicht zu PropagandakünstlerInnen werden, die reibungslos plotten. Es wäre viel verloren, wenn sie sich zu IllustratorInnen des gesellschaftlichen Konsenses machen ließen. Und wenn nur die Autoritäten keine solchen glatten Ergebnisse von ihnen erwarten! Das würde heißen, Heranwachsende auf das virtualisierte, kommerzialisierte Selbstbild unserer Gesellschaft einzustimmen – das niemals dem Leben entspricht. In Filme sind bereits fertige Positionen gebannt. Kann man sich mit Filmen überhaupt auf das Leben vorbereiten? Der Konflikt, das Ringen um Haltung, die Weigerung oder das wütende Suchen brauchen Raum, also die dritte Dimension – das alles spielt sich vor der Fläche der Projektionen ab. Hingegen die FilmemacherInnen, die mit viel Routine durch die Gegenden streifen, „cannes-reife“ Szenen zusammendrehen und unsere Stadt zur Kulisse erklären – sie erscheinen nur wie Erzengel zwischen Oben und Unten, Erleben und Klischee.

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Zeitgenössisch ist das Drängen nach Anschaulichkeit, und zwar in jeglichem Bereich. Das ist, als würden wir uns pausenlos in Fabeln unterhalten. Nicht einmal das, denn zur Fabel muss mensch noch Phantasie hinzunehmen, den Raben und den Fuchs sich selbst vor Augen führen. Mit dem fraglichen Medium geht es anders: Filmreportagen zeigen deinen Augen alles, und dein Gehirn schweigt. Und dabei musst du glauben, dass es sich nur um diesen einen Raben und um diesen Fuchs dreht. Das ist der Fall, wenn du dich an die medial verhandelten Tagesthemen hältst. Von gewissen Ereignissen, den Überlebenskämpfen der ArbeiterInnen auf brasilianischen Palmölplantagen oder auf den Baumwollfeldern der westlichen Textilfirmen in Malawi, geht ohnehin kein Rauschen über die Bildschirme.

Fatale Entwicklung in der Augen-Zulieferindustrie, in den Reportagen: Selbst noch die kurzen TV-Clips über Menschennöte in den Gebieten, in denen die Nato Krieg führt oder eine neue Flutkatastrophe die Ärmsten heimsuchte, finden Gewöhnung. Zunächst forderte die Öffentlichkeit ein anschauliches Corpus Delicti zu allem, und das Bild zu jedem Bericht sollte die BürgerInnen in Erregung versetzen. Die Bilder strömten ohne Unterlass. Mittlerweile wurde das Anschauliche zum Beruhigungsmittel, kein Übel ist mehr glaubhaft. Es scheint, als würden wir alles Verhängnis in 2-D bannen, um es uns vom Leib zu halten. Der Wahnwitz ist: Was sich nicht auf 2-D abspielt, interessiert schon gleich gar nicht.

Aber ich sollte schleunigst davon loskommen. Ein Bild kann mir Signal sein, doch nicht mehr. Ich sollte Berichte lesen, Fragen stellen, Sachverhalte aufspüren und abwägen. Ich habe zudem Phantasie nötig, mir vorzustellen, was da vor sich geht – mir die lebendige Dimension zu den Zahlen, Statistiken, Satzfetzen aus der Ferne herzuschaffen. Gerade auch was die Nöte betrifft, die dort, außerhalb meines Lebensumfelds, vor sich gehen. Die Wirklichkeit ist nicht anschaulich, sondern vorstellbar. Sie muss sich immer neu vor Augen geführt werden – bis zur möglichen Anteilnahme. Anderenfalls würde ich vollendete Zuschauerin – was Schlimmeres könnte mir passieren? 

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