Gespenster. Ein Sprechstück

Gespenster

von Birgit v. Criegern

Zum Treff der Gespenster sind an diesem Donnerstagnachmittag vier Leute erschienen. Meist ist mit diesen Treffs nicht viel los. Und die Gespenster verfügen über wenig Lebenskraft, deshalb erscheinen immer nur wenige von ihnen. Sie setzen sich in die alten, abgeschabten Sessel (Spenden von Wohnungsauflösungen) und nehmen ihre Teetassen zur Hand. Sie trinken immer nur Unbeträchtliches in dieser hässlichen Sitzgruppe. Heute sind vier Leute erschienen, die die Tasse mit Kamillentee, mit Kräuterteee befingern. Sie unterhalten sich leise und sanft. Die Gespenster kommen hier zusammen, um sich auszutauschen und sich weniger alleine zufühlen- um einander Gehör zu schenken. Man nennt das, Sie wissen schon, Selbsthilfe. Sie hören einander zu. Sie sind einander hörbar und sichtbar. Sie halten Sich für real. Heute sitzen hier Lena Müller, Agostino Sincero, Claus Schulte und Margret Storm. Rudi hat per SMS abgesagt, „Sorry ich schaff es nicht“- er muss sich um seinen kleinen Sohn kümmern. Claus hat es gerade noch geschafft, weil ihm zuhause die Decke über den Kopf fällt. Agostino hat es diesmal geschafft, weil er für diesmal ein Monatsticket „Sozialticket“ hat.

Hab dich auch lang nicht mehr gesehn, du.

Also jetzt sehn wir uns.

Gut, dass ihrs geschafft habt.

Ja, ich schaffs nicht immer, aber heut hab ichs

Heut hab ichs auch mal geschafft.

(Pause)

Heut früh, da war mir so…da hab ich den Himmel gesehn so sauber und klar über den Baumwipfeln, da hab ich gedacht…da hab ich gedacht, das ist auch irgendwie gut.

Ja das ist gut das stimmt, das kann auch mal gut sein.

Geht mir auch so, da kann ich auch sagen…

(Pause)

Also ich nicht, mich zieht das runter, so blauer Himmel.

Dich zieht das runter?

Mich zieht das runter, mich macht das alle.

Dich macht das alle?

Mich macht das alle, das sieht aus wie Nix. So blauer Himmel, das sieht aus wie Nix.

Grauer Himmel und naß, das sieht aus wie Etwas.

(Pause)

Ich hab gut geschlafen mit dem Pregabalin.

Na wunderbar.

Ja ich hab gut geschlafen, mit dem Pregabalin.

Ich darf nur nich zu viel davon nehmen.

Mit dem Pregabalin da komm ich besser klar

Also da komm ich besser klar als mit dem Amitryptil.

(Pause)

Willst du Kekse, schau Claus hat Kekse mitgebracht.

Gespenst Sein heißt: Zuschauen, zuhören und fühlen zugleich. Ein Gespenst fühlt, aber kann nicht mehr sprechen. In der normalen Welt kann es nicht mehr sprechen. Es glaubt zu sprechen, aber seine Worte haben keinen Klang. Es spricht, aber seine Worte erreichen kein Ohr. Es fühlt das Leben in den Straßen, und es bewegt sich in den Straßen- es sieht das Leben ablaufen am Trottoir, in den Bussen und Bahnen, in den Arztpraxen und Ämtern. Aber dieses Gespenst kann nichts mehr bewegen im Ablauf in den Straßen, am Trottoir, in den Bussen und Bahnen. Es kann nichts mehr bewegen, denn es wird nicht mehr gehört. Sein Sprechen funktioniert nicht hier nicht mehr.

Deshalb treffen sich hier die Gespenster, um einander zu hören. Sie treffen sich, um Sprache zu erproben. Denn unter den Gespenstern funktioniert die Sprache. Untereinander, da funktioniert das. Und es gibt gar nicht so wenige Gespenster, wie man annehmen möchte.

Claus, wie hast du gelebt?

Claus:

Ich lebte, als ich jung war, in einer Wohngemeinschaft mit drei Freunden. Es war nur eine Monteurswohnung mit einer Kochnische, und wir hatten sie lange Zeit für uns allein in der Nähe vom Westlichen Pier. Nach der Arbeit trafen wir in einem der Zimmer zusammen und saßen auf den Betten. Mike der Techniker hatte immer einen Haufen Geräte von seinen Kunden in seinem Zimmer zu stehen! Er bastelte da an ihnen herum. Und wenn er die Heizung sparen wollte, stellte er die Geräte des nachts an und legte sich ne Isomatte drauf. So crazy war der. Ich und Paul arbeiteten beim Bau. Wir waren total stolz auf unseren ersten Lohn und gaben damit an, wie wir es am besten investieren würden. Mike erzählte, wie er mal Kinder haben würde und es genial einrichten mit Hochbett und Garten und Gartenhäuschen. Klar redeten wir auch über die Mädels, und Mike hatte schon eine aufgetan, und ich hatte damals auch meine feste Maus. Paul war auf dem spirituellen Trip und erzählte von Castaneda, den er ständig las, er wollte im Wohnmobil in die Sonne nach Korsika abhauen, und die Sache war fast sicher. Er tüftelte viel, wie er es ausbauen würde, dass es winterfest wäre. Ich jedoch wollte noch mal richtig rauskommen, Ingenieur werden und vielleicht bei Werften im fernen China anfangen. Ich peilte deshalb die Abendschule an und hatte tausend Pläne.

Wir hörten Musik in unsrer Bude, und Lars konnte die Klampfe spielen und kannte vieles von Hannes Wader und vom großen Bob. Er sang so durch die Nase, wenn er den nachahmte! Wir saßen da, und dann futterten wir etwas in der Küchennische und danach gingen wir auf die Piste. In der Dunkelheit blies uns der feuchte Wind um die Nase und die Welt roch so, wie wenn sie sehr groß wäre. Ich hatte damals noch nicht mal eine gefütterte Jacke, so ein halbfertiger Kerl wie ich war. Wir gingen manchmal zum Poole spielen bei Stanley`s und passten auf, was bei dem Nachtvolk so abging. Manchmal kam einer rein, der sich umschaute nach billigen Trupps, aber manchmal konnte auch ein fetter Fisch dabeisein. Mike ist dann später auch mit einem abgereist zur Logistikfirma in Auckland.

Wie wir Claudia bekamen, wurde es anders. Ich zog dann in eine Wohnung und ich machte dann noch den Abendkurs, aber dann wurde es anders. Ich zog dann mit meiner Freundin und Claudia nach Cuxhaven und sprang so von einem Job in den andern. Und dann, mit Claudias Asthma, wurde es so. Ich wollte eigentlich Ingenieurswesen studieren, und nun studierte ich die Krankheit meiner Tochter. Das wurde dann so…und dann nach der Trennung wurde es so, dann zerrann das mir unter den Fingern. Dann saß ich in meinem Zimmer zur Untermiete hier in dieser Stadt, wo ich umgezogen bin, und las die Briefe. Es kamen die Briefe von meiner Freundin, wo sie von Claudia erzählte, und es kamen die Briefe von meinen Alten, die sich um mich sorgten. Ich war nur immer beschäftigt, all die Briefe zu ordnen. Meine Mutter klagte, dass ich keinen Posten hätte, und wann ich endlich einen Posten bekäme. Sie fand, dass ich Nichts hätte und Nichts wäre. Für meine Mutter war ich ein Nichts. Aber meine Mutter war für mich ein Jemand, das war sie immer gewesen. Ich schrieb ihr von dem Nichts in meinem Leben, und sie erzählte mir von ihrem Leben. Sie führte ein volles Leben mit Haus und Garten und vielen Selbstfindungsgruppen. Sie hat vor vielen Jahren mit der Selbstsuche begonnen, und es wurde eine Selbstsucht.

Und Agostino nickt, Lena nickt, und Margret und Claus nicken.

Lena, erzähl. Wie hast du gelebt?

Lena:

Wie hab ich gelebt? Früher da bin ich noch gereist. Mit neunzehn Jahren reiste ich nach Brüssel. Ich vergaß meinen Fotoapparat zuhause. In Brüssel betrachtete ich die gigantischen Baustellen. Ich sah große Abbruchbaustellen und riesige Löcher im Boden wie Krater. Ich sah eine von diesen Kathedralen, alte gotische Kathedralen, vor der ein Schutthaufen von einer Baustelle aufgetürmt lag, und mitten im Schutt stand ein alter Stuhl. Die Stadtlandschaft mit den vielen Baustellen sah für mich aus wie vollendet. Brüssel gefiel mir. Ich ging spazieren und sah diese kleinen Läden, die eine Mischung aus Tabakladen und Bar waren. Durch die offenen Türen sah ich hinein in diese Tabakläden. Da standen afrikanische Leute, einer verkaufte Tabak und Zeitungen, und andere standen am Tresen und unterhielten sich. Das alles gefiel mir sehr, denn ich kannte das nicht, ich kam aus einem kleinen Ort in Brandenburg. In einem großen alten Haus war eine Jugendherberge eingerichtet, es war ein billiges Hotel. In der Rezeption standen an der Theke zwei Typen um die fünfundzwanzig oder dreißig, einer von ihnen trug Brille. Sie redeten pausenlos und lachten. In der Lobby vor der Theke saßen Reisende mit wenig Geld. Ein Marokkaner, ein Kapverdianer, ein Tunesier. Ich setzte mich in die Sessel und drehte mir eine Zigarette. Der Marokkaner stand von seinem Sessel auf und gab mir Feuer. Später ging ich auf mein Zimmer, das über hohe Wände und ein hohes altes Fenster verfügte. Es war ein schönes Zimmer mit dem Geruch eines alten Hauses. Ich las damals Rimbaud, ein Buch, das ich nicht zuhause vergessen hatte. Au gibet noir, manchot aimable.

Abends ging ich aus der Auberge hinaus, um mir ein Sandwich zu kaufen. Ich stieg den Hügel hinauf, vorbei an einer gotischen Kathedrale. Zwei junge Typen kamen mir am Trottoir entgegen. Der eine von ihnen fragte mich nach dem Weg zur Place Brouckere. Ich blieb stehen. You are good for fucking, sagte der andere. Sie grinsten. Ich ging weiter. An der nächsten Seitenstraße sah ich mich nach einem Croque-Laden um. Es gab hier aber keinen. Ich wendete mich um und ging die Straße hinunter, zurück nach meiner Auberge, ohne Essen. In der Lobby war gedämpftes Licht. Ich setzte mich in einen der Sessel und drehte mir eine Zigarette. Da saßen die Reisenden in den Sesseln und spielten Karten: der Marokkaner, der Tunesier und der Kapverdianer. Sie luden mich ein, mit ihnen Karten zu spielen. Wie das Kartenspiel hieß, hab ich vergessen. Das liegt lange zurück, ja.

Später gefiel mir die Stadt viel weniger, nämlich dann als die Hochhäuser fertig waren. Ich bin viel gereist in Europa und in Afrika. In Europa habe ich besonders viele sexistische Leute erlebt. Seltsamerweise kommen die feministischen Stimmen nicht dagegen an. Ich weiß nicht.

Und Agostino nickt und Margret nickt, und Claus nickt. Sie trinken ihren Tee und sehen aus dem Fenster.

Margret, was geht bei dir so ab?

Margret.

Ich ging gerne im nassen Wetter spazieren. Das konnte ein nasser Hügel sein, als ich an der Amalfi-Küste einen regnerischen Tag erwischte und die triefenden Treppen hinaufkletterte. Unten lag das Meer und dampfte so ein bisschen. Ich stieg die Treppen hinauf, und die Tropfen zitterten an den Blättern von Oleander und Lorbeerbüschen. Es war so, dass man nicht frieren mußte, sondern sich nur erfrischt fühlte. Als ich zu einem Weiler gelangte, der aus Naturstein-Häuschen bestand, setzte ich mich in ein kleines Restaurant. Ich trank einen trockenen Weißwein und erprobte an der Wirtin meine Italienischkenntnisse. Es machte mir Vergnügen, weil sie auf meine wenigen Worte mit üppiger Freundlichkeit reagierte. Ich blieb über Nacht in dem Restaurant und unterhielt mich abends mit der Wirtin und ihren zwei Mädchen- die saßen da in der Wirtstube unter einer einfachen Glühbirne und malten mit Buntstiften.

Ich ging aber auch gern in Brandenburg bei der Oder spazieren und beobachtete den schlierigen Himmel, in dem Kraniche fliegen und Reiher und Kormorane. Dann hatte ich immer den Eindruck, dass das Leben neu beginnt. Es hatte für mich mit Atmen zu tun, so…

ich übte atmen unter dem frischen Himmel. Ich dachte, ich könnte mich immer von Neuem stärken, mit diesem Atmen. Es genügt, einen frischen Himmel zu erleben und ein paar nette Menschen.

Aber das geht jetzt nicht mehr so. Ich bekam diese zwei Infektionskrankheiten. Zuerst den seltenen Pilz aus dem Krankenhausmilieu. Später die seltene Bakterie von der Lebensmittelvergiftung. Ein Spaziergang kann es nicht mehr retten, und der frische Himmel hilft da nicht mehr. Die Krankheit bleibt mir für immer. Die Menschen waren plötzlich nicht mehr nett. Sie waren auf Abstand.

Ich mußte meinen Beruf beenden, ich war ja mit Buchhaltung in Leipzig beschäftigt. Danach beschäftigte ich mich mit Schmerzen. Ich redete mit Ärzten. Jeden Tag redete ich mit Ärzten. Das war dann so, dass man mir nicht glaubte. Dann sagte man mir ein paar Monate, dass ich psychosomatisch wäre. Und ich immer so: Nein ich bin nicht psychosomatisch. Das war dann so, dass ich die Diagnose selbst finden mußte und die Ärzte zur Diagnose bringen. Dann machte ich auch die Keimprüfung selbst, und alles fand ich selbst heraus. Und wenn du den Befund hast, wissen die Ärzte, es ist nicht psychosomatisch. Und dann sagen sie nichts mehr. Ich arbeitete ein Jahr lang für die Diagnose mit dem Krankenhauspilz. Nur noch mein Lebensgefährte war an meiner Seite, keine Freunde mehr. Wir gingen tagsüber von einem Arzt zum andern. Wir entspannten abends vor dem Fernseher mit Columbo.

Ein Jahr später dasselbe Spiel noch mal. Ich bekam diese zweite Infektion. Die Ärzte sagten mir, es wäre psychosomatisch. Und ich immer so, nein es stimmt nicht. Ich arbeitete dann ein halbes Jahr an der nächsten Diagnose. Ich ließ eine Keimprüfung machen und bekam den Befund. Diesmal waren es Listerien. Und die Ärzte sagten nichts mehr. Kein Spaziergang mehr, kein frischer Himmel. Ich ging tagsüber mit meinem Lebensgefährten von einem Arzt zum andern. Abends entspannten wir vor dem Fernseher mit Monk. Ein Zeitlang arbeitete der Magen nicht mehr, ich wog nur noch neununddreißig Kilo. Ich beantragte Zuschüsse für Eiweißkost bei der Krankenkasse. Die Kasse antwortete monatelang nicht. Dann antwortete sie mit Nein. Ich sitze zuhause und ordne meine Schmerzen. Mit geordneten Schmerzen lebt es sich leichter.

Von den Leuten bekam ich kaum noch ein Lächeln. Nur so ein Emotikon auf dem Handy. Die Leute wollten mit mir nicht mehr reden. Sie wollten nur noch simsen. Dabei merkte ich, wozu Simsen eigentlich gut ist. Es ist gut für Geschäftliches, oder um Freunde fernzuhalten. Die Leute simsen, wenn sie sich abschotten wollen. Sie wollen sich abschotten, wenn jemand krank ist.

Und Claus nickt, und Agostino und Lena nicken.

Agostino, wie war dein Leben?

Mein Schlaf ist so dünn wie eine zerschlissene Decke. Wenn ich die Augen zumache, sehe ich noch besser. Dann flackert die Welt vor meinen Augen. Ich will die Augen nicht zumachen, ich schlafe noch am besten, wenn ein Licht brennt irgendwo. Wenn ich schlafen will, denke ich an alle die Leute, die etwas Segen gebrauchen können. Meine Schwester Conchita, die mit ihrem Laden für die ganze Familie sorgt, meine Mamma und meine zwei Onkel und meine Neffen und Nichten, Gott passe auf sie auf. Mit meinem Bruder John hab ich neulich am Skype geredet, und er sucht jetzt wieder Arbeit in Dakar. Meine Freunde in dem Fischerdorf bei Nouakchott, die mit mir gerne beim Spiel zusammensaßen, und mein Freund Mosis, mit dem ich in der Werkstatt schlief, bevor ich damals die Küste verließ. Das ist lange her und diese Leute werden immer bei mir sein. Gott passe auf sie auf, sage ich dann. Das sage ich immer.

Und ich sehe die Dinge, die lange Zeit zurückliegen. Die kommen zu mir, wenn ich die Augen schließe. Die harten Gesichter von den Leuten, für die ich gearbeitet habe. Das war damals, auf dem großen Weg. Böse Gesichter, in dem Werkschuppen in Madrid kamen sie täglich zu uns, rasselnde Schlüssel, die Türe ging auf und Tageslicht kommt rein. Dann haben wir angefangen zu arbeiten. Motoren repariert von allem, was ankam, alte Karossen.

Abends wieder, es gibt Essen, schreien sie wütend, schreien uns an und schließen die Tür wieder ab. Rasselnde Schlüssel, Türe auf, Türe zu, so hab ich gelebt zwei Monate lang. Ungelogen. Sie haben gesagt, ihr könnt wählen, Arbeiten und Maulhalten oder Guardia Civil. So haben wir in der Werkstatt gelebt wie Tiere im Stall, zwei Monate lang. Oder ich sehe den alten Bahnhof in Lyon, nasser Beton, es war wie ein Dach. Da schlief ich acht Tage, weil ich keine Wohnung hatte, auf meinem Weg. Ich schlief acht Tage in der Kälte, dann bekam ich Fieber, bekam Lungenentzündung. Ich lag da, nur ein alter Mann hat mir geholfen, ein Obdachloser war er, und hat mir einmal zu essen gebracht.

Ich sehe die alte Kaserne, in der ich in Deutschland wohnen mußte. Es war eine Kaserne im Wald, in der wir Asylsuchenden wohnen sollten. Aus den alten Möbeln stiegen Staubwolken in Augen und Nase, wenn wir uns zu Bett legten. Wir bekamen keine Hilfe, selbst einen Staubsauger bekamen wir nicht. Es war eine alte Kaserne in Sachsen-Anhalt. Von dem Flüchtlingsheim im Wald zur nächsten Stadt waren es sieben Kilometer, wir gingen diese sieben Kilometer, wenn wir zum Amt wollten oder zum Supermarkt, wir gingen zu Fuß an der Autostraße entlang, denn wir hatten kein Geld für den Bus.

Ich sehe viele Schrecken, die ich erlebt habe auf meinem Weg zu den einfachen Dingen im Leben. Drei Jahre bin ich gereist, um in Deutschland anzukommen. Sechs Jahre zog ich in Deutschland von Lager zu Lager, bevor ich eine Wohnung bekam. Das liegt lange zurück, und das Verrückte ist, dass es die anderen Leute aus meinem Land noch schwerer haben müssen heute. Denn ich konnte damals den Weg schaffen nach Cadiz. Aber heute können die Leute von Westafrika nicht mehr reisen, nicht mal nach Teneriffa.

Ich sehe vieles hinter meinen Augenlidern. Weil ich so vieles sehe, kann ich nicht schlafen. Weil ich nicht schlafen kann, mußte ich meinen Job aufgeben, ich war ja Hotelkaufmann in Kiel gewesen. Wenn ich nicht schlafe, dann denke ich an die Leute, die mich brauchen. Weil sie meinen Segen brauchen, weil sie zu mir gehören. Tagsüber gehe ich in der Stadt spazieren. Ich gehe zum Treff, oder ich gehe in der Stadt spazieren. Ich telefoniere mit meinen Freunden, und dann gehe ich wieder spazieren. Anfangs fand ich es schwer in Deutschland. Manche Leute sind rassistisch. Aber andere Leute, die nicht rassistisch sind, sind einsam.

Es ist schwer, neue Leute kennenzulernen. In der Großstadt besonders. Die Leute sehen einander nicht an, sie fangen nur ein Gespräch an, wenn eine Münze am Boden klirrt, oder wenn ein Hund bellt. Ich habe keinen Hund, denn das liegt mir nicht so.

Und Lena nickt, Claus nickt, und Margret nickt.

Sie sind Gespenster, doch sie sind für einander sichtbar. In der normalen Welt sind sie unsichtbar, dort existiert nur für die Menschengemeinschaft, wer sich sichtbar macht. Und sichtbar macht sich nur, wer redet – nach dem sokratischen Motto Sprich, damit ich dich sehe. Und reden kann, wer Erfolge berichtet. Nur die äußerliche Gestaltung hat die Kraft, die Rede zu stärken. Man nennt das Sich selbst darstellen: So existiert man in der Menschengemeinschaft.  Wer sich äußerlich erneuert, existiert. Wer redet, will sich äußerlich erneuern.  Fühlen hilft nicht, um sich äußerlich zu erneuern. Im Gegenteil, es schwächt die äußerliche Gestaltung. Deshalb hat es keinen Wert für die Rede. Fühlen zerstört die Rede in der normalen Welt.

Wer fühlt, hat sich von der Erfolgsgeschichte gelöst. Wer fühlt, findet weniger Gehör. Und rückt langsam in die Welt der Gespenster hinüber. Als Rede gilt die Selbst Darstellung. Aber  die Erfolgsgeschichten haben eine geringe Haltbarkeit, sie zerfließen immerfort und müssen immer wieder erneuert werden.  Die Leute müssen andauernd Sich Selbst erzählen, um zu existieren. Das erneuerte Selbstdarstellen gilt als Rede in der Menschengemeinschaft. Wenn man Sich nicht mehr fühlt, sondern nur noch sieht. Wenn man Sich nur noch sieht, wenn man von Sich redet: Jede/r erzählt Sich dem Andern; Jede/r redet. Jede/r sieht sich und sieht die Andern. Jede/r redet für Sich, aber jeder braucht die Andern, denn jede/r muss reden, um Sich zu sehen. Dafür ist die Rede in der Erfolgsgesellschaft. Keiner hört.

Die Leute vom Gespenster-Treff hören den Andern. Weil sie fühlen, können sie auch hören. Weil sie einander zuhören, können sie miteinander sprechen. Weil sie zuhören und Gehör suchen, deshalb sind sie unsichtbar in der normalen Welt. Weil sie nicht existieren, weil sie keine Erfolgsgeschichte mehr bieten können, sind sie Gespenster geworden. Im Treff interessieren sie sich für die Geschichten der Andern, die keine Erfolgsgeschichten sind. Weil sie Sich nicht selbst Darstellen, fühlen sie Sich. Sie halten Sich für real. Und halten die Andern für real. Wenn eine/r die eigene Geschichte erzählt, bekommt sie/er Gehör von den Anderen. In der Sprache entstehen die Geschichten reihum. Je mehr Sprechen stattfindet, desto mehr Gehör wird gegeben. Weil die Geschichten real sind, haben sie eine lange Haltbarkeit. Die Unsichtbaren sind einander hörbar und sichtbar. Und sie teilen in diesem Moment, während es für sie sonst kein Teilen oder Mitteilen gibt in der normalen Welt. Sie haben vielleicht weniger Lebenskraft als die anderen, die sichtbaren Menschen. Aber es gibt vielleicht mehr Gespenster, als man annehmen möchte.