Leitkultur entlarven! Besprechungen.

Universalistisches Tönen und leere Ästhetik: Deutsche Erfolgsliteratur nervt

von Birgit v. Criegern

Nach meiner Ansicht konnte Sarrazin, dessen „Deutschland schafft sich ab“  gute Verkaufszahlen erfuhr, auf einem gewissen Leitkultur-Konsens gründen, der sich in den vergangenen Jahren schon in einer eurozentristischen und biederen Kultur etablierte. Oder, wer hatte eigentlich damit angefangen? In den 2000-er Jahren bemerkte ich eine kulturelle Tendenz der Politikberatung, oder auch andersrum, eine politische Tendenz der Kulturlehren. Das war für mich, die früher mal ernsthaft Germanistik studiert hatte, schon bedauerlich, denn die Literatur unter einigen patriarchal vorherrschenden Autoritäten versimpelte dermaßen, dass man/ frau sich einem Stammtisch gegenüber glaubte. Weil aber die Literatur, die in Deutschland die höchsten Preise erhält, auch mal auf Schultische gelegt werden und in Köpfe hineingegossen wird, will ich hier deutlichen Widerspruch einlegen. Für mich war klar: Einfach nur ignorieren ging nicht, immerhin hatte ich mich doch in vielen Jahren Studium zu einer  Art Tagesmutter für Literatur gemacht. Deshalb hier meine Kritik und ein Warnruf an junge Teens: Lest nur dann die Bücher mit den hohen Literaturpreisen, die Bücher der Konservativen, wenn ihr einen Terkessidis oder eine Özdamar als Gegengift hinterher einnehmt. Oder lest lieber gleich die letzteren AutorInnen und macht euch, wenn es um schulische Lektüre geht, meinen Aufsatz hier unten zu eigen.

Rückständigkeit und das Vergessen von interkulturellen Errungenschaften waren bei einigen Werken aus den höchsten Literatur-Instituten zu bemerken, und die erzielte Ästhetik brachte einige kuriose Nebenerscheinungen: Fragwürdige stereotype Darstellungen, die den Erkenntnissen einer genderwissenschaftlichen Avantgarde deutlich widersprachen, und die vielleicht gar der Lebenserfahrung widersprechen, wenn wir versuchen, die geschilderten Szenen uns mal realiter vor Augen stellen oder nachleben wollen. Und sonderbare Übereinstimmungen der charakterlichen Dinge mit den Wohnzimmer-Philosophien aus den braven Intellektuellen-Zeitungen, mit den Skandal-Bilder-EIndrücken aus Stern oder Focus, kurz: Ähnlichkeiten mit medialen Thematisierungen. Doch eine Debatte fand nicht statt. Wozu auch? Der Markt regelt heute auch Dominanzen in der Kultur, während widersprüchliche Ergebnisse verkauft werden und eine undifferenzierte Abendland-„Ästhetik“ seitens ErfolgsautorInnen und eine intellektuelle Entwicklung seitens der Genderforschung einander nichts zu sagen haben. Bei solchem Fehlen einer intellektuellen Debatte werden Sarrazin-Bestseller offenbar gut ermöglicht.  

Über Neokonservativismus und kolonialen Blick in der Gegenwartsliteratur

Büchner-Preisträger 2008: Josef Winkler, „Natura Morta“, 2001 (Suhrkamp) – viel Obst und stereotype Migranten-Wahrnehmung als Ästhetik

Persönlicher Rückblick: Früher Germanistikstudentin, hatte ich eine unvoreingenommene Aufgeschlossenheit, ja eine Ehrfurcht vor SchriftstellerInnen. Noch unverdrossen in Erwartung hoher Einblicke ging ich im Jahr 2001 zu Josef Winklers Lesung, und setzte mich in den Zuschauerreihen der Akademie der Künste. Aber ich wurde bass erstaunt. Als Winkler seinen Text vortrug, lachte ich Tränen.

Derweil versuchte das Publikum, sich zur Ehrfurcht vor dem Text des Autors zu sammeln. Doch ich mußte lachen, so überraschend traf mich in meinen Erwartungen eines ergreifenden Textes diese versteifte Sprache und ein inhaltlich sonderbares Schildern von Sachen-Getümmel und Touristen-Menschenmenge. Ich staunte über solche Unbeträchtlichkeit. Damals wurde dem Autor für das Werk der Döblin-Preis verliehen, und Grass und die mehrköpfige Jury – von einer Sprecherin vertreten, die einen Vortrag über Winklers Sprachkunst hielt – erwiesen dem Werk ihren Respekt.

Damals versuchte ich, das sonderbare Erlebnis mit einem Achselzucken abzutun. Leider ließ mich Winkler nicht in Frieden- im Jahr 2008, als ich mich eigentlich mit anderen, auch unliterarischen, Situationen befaßte, geisterten große Worte durch die Presse: „Abendland“…“vergilische Vorzeit“…“geschlachtete Hühner“…. In jenem Jahr bekam Winkler auch noch für dasselbe Werk den höchsten Literaturpreis verliehen, den Georg-Büchner-Preis. Das stimmte mich nachdenklich. Ich bemerkte erst nach und nach, dass eben in diesen Jahren eine Zeit ansetzte, in der die Schildbürgerei durch konservative Träumereien einer patriarchal dominierten Literaturszene ausufern sollte, und wenn früher wichtige Autoren wie Edgar Hilsenrath und Volker Braun bürgerlich ausgezeichnet wurden – der letztere mit einem kritischen Blick auf die Ereignisse im wiedervereinigten Deutschland, der erstere mit Shoah-Erfahrung und mit einem Roman über den Völkermord an den Armeniern – so würde jetzt leider ein neues Biedermeier heraufkommen.

In 2008 war das Lob der Medien, der Zeitungen und Literaturgazetten für Winklers „Natura Morta“ überschwänglich, von der linken bis zur eher konservativen Presse, von „Freitag“ bis zu FAZ und Berliner Tagesspiegel. In die Euphorie wollte mein Empfinden, nachdem ich Literatur studiert hatte, nicht einstimmen. Ich wollte das nicht begreifen: Mit einer reduzierten Sicht auf Zwischenmenschliches, mit der Reduzierung migrantischer Figuren auf sprachlose Figuren, und dann noch mit der durchgängigen Verwendung des N.-Wortes und des Z.-Wortes bekam Winkler unendliches Lob. Und in der gleichen Zeit stritt eine genderwissenschaftliche Schicht für die Abschaffung des N.-Wortes.

Winkler wurde von Martin Walser als persönlicher Freund und als literarischer Schützling, als hohes Talent ausgewiesen. Der 1953 gebürtige Kärntner, später in Klagenfurt lebend, hatte sich schon vorher einen Namen gemacht mit Werken wie „Der Friedhof der bitteren Orangen“, die eine Annäherung an das Morbide zeitigten, sich mit dem Toten und dem Tod befassten, Vanitas-Motive aus der religiösen Kunst, Reise-Aufzeichnungen und Erinnerungen an die Provinz zum Thema nahmen. Und er suchte eine Befreiung von der Kärntner Enge, vom autokratischen Vater, mit der Suche nach Worten und nach Sprache. Aus einer jüngeren Selbsterklärung Winklers hierzu: „In diesem Dreieck – der redende Vater, die schweigende Mutter, die taubstumme Magd – bin ich aufgewachsen und habe ich begonnen, meine werdende Sprache auszupendeln.“ Etwa die Unterdrückung von homosexueller Erotik in jener erlebten Jugend wurde ein Themenfeld seiner Romane. Ich denke, Winklers Selbstzeugnisse sind interessanter als sein Roman „Natura Morta“. Dass eine befreiende Kraft in „Natura Morta“ wirkte, wurde von vielen Feuilletons behauptet.

Und dieses ist interessant: solch ein bürgerlicher „Befreiungs“-Begriff in der Zeit der fortgeschrittenen Marktgesellschaft und ihrer Sachzwänge. Und hier sei die Frage danach gestellt, warum sich kein merkliches Widerwort regte, dass sich eine behauptete (sexuelle, aufs homosexuelle Erleben ausgerichtete) Befreiung in Literatur nur durch gleichzeitige grobe Klischee-Anwendung über migrantische Erscheinungen als Exotismen ereignen konnte. Und nicht nur das, in dem schlechten Stil und in der Abkehrung von Dialog und menschlicher Rede wird Sprache gleich zweimal untergraben: einmal in der Form, und das zweitemal inhaltlich.

Der Stoff: Es ist eine Novelle vom sechzehnjährigen Fischverkäufer Piccoletto in Rom, der auf der belebten Piazza Vittorio Emanuele als Gehilfe eines Fischhändlers arbeitet. Verliebt in den Jungen (oder erotisch liebäugelnd mit ihm) ist der ältere Frocio, von dessen Perspektive die Erzählung teilweise bestimmt wird. Am Ende der Erzählung wird der Junge Piccoletto beim Pizzaholen von einem Feuerwehrauto erfasst und stirbt. Den Hauptteil des nicht umfangreichen Romans ( wenig mehr als 100 Seiten) bestreitet die Schilderung von Sachen und von Menschen als Sachen: Verkaufsstand drängt sich an Stand, neben TouristInnen und Geistlichen tummeln sich migrantische HändlerInnen und BettlerInnen, Dealer und StricherInnen. Arme wühlen in den Abfällen der Obst -, Fleisch – und Fischverkäufer und ergattern Überbleibsel in den unterschiedlichsten Verfallszuständen. Es gibt Geflügelkäfige, Innereien, Tierbeine sowie Früchte zu sehen. Und schließlich kommen die MüllarbeiterInnen, um nach dem Markttag aufzuräumen. Die Handlung ist knapp, dafür die Schilderung ausführlich und minutiös. Mit guten Worten könnte man sie als ein Panorama bezeichnen, in dem barocke Facetten der Stadt ebenso wie die Obst- und Gemüse-Stände und die modernen Touristen- und Menschenansammlungen beschrieben werden. Dass das alles eigentlich nicht sehr lebensnah ist, obwohl es von Leben nur so bersten soll, dass Winkler ein unmögliches Paradox von Leben (als Stilleben) und Tod versuchte und damit scheiterte, soll hier gezeigt werden.

  1. Objektverliebtheit, Dingverliebtheit

Die Medien waren begeistert, es war vom „prallen Leben“ (FAZ) in der Schilderung die Rede, ein Rezensent meinte, dass „die abgründige Vielfalt des Marktgeschehens“ gemalt würde und lobte die „Tiefenschärfe des Szenariums“. Doch wo tun sich diese Abgründe eigentlich auf, wenn Fleisch gehackt oder der Eidotter „glucksend“ von der Eierverkäuferin in ein Glas befördert wird? „Ein sehr sinnliches Buch“, freute sich der unvermeidliche lLteraturkommentator Reich-Ranicki. In Bezug auf den sprachlichen Stil in der Novelle wurde die „lapidare Genauigkeit“ (FAZ) gelobt. Als „sprachgewaltig“ schätzte Gert Janusch den Autor Winkler ein ( Zeitschrift „Bücherbord“, 29. Jg., 2004). In einer Festschrift zum 50. Geburtstag Winklers brachte Reinhard Kacianka zahlreiche literarische Erörterungen seiner meisterhaften, „verdichteten“ Sprache zusammen mit Dokumenten über seinen Werdegang und Wirken. Doch fand ich hierin keinen Aufschluss über die sprachlichen Probleme, die mir auf der Zunge brennen.

Die Sprache:

Das Buch ragt ins Barocke, der Titel deutet es an. Tatsächlich mag hier gelten, dass der Stil für die Semantik als Fundament bereitstand. So soll denn der sprachliche Manierismus hier von uns begangen werden als das erzählerische Medium aus dem antik-barocken und modernen Rom. So gelangen wir zu den Partizip-Aktiv-Konstruktionen, wenn „vor der rollenden Ubahntreppe“ ein „einen Pappdeckel mit der Aufschrift Ho fame! Non ho una casa! haltender Bettler“ kniet. So sticht denn auf einem großen Heiligenbild  „der Erzengel Michael mit einem Schwert auf den am Rande der Hölle liegenden Dämon nieder(…)“,  so springt  „einer der drei über die rollende Ubahntreppe kollernden Granatäpfel“ auseinander.

Wechselnd mit den Partizipia Passiva, von „verschmutzt“ bis „übersät“, erfährt die LEserin/der Leser aber doch nicht eigentlich einen erzählerischen Duktus, sondern doch deutlich Variationen von Adjektiva. Da wird eher angesammelt, als erzählt, da herrscht auch in der Sprache selbst der horror vacui. (Der, wie wir unten sehen werden, als zeitgemäßes Empfinden in der kapitalistischen Konsumkultur, hier befriedet werden soll.)

Da begegnen wir der erotischen  Schlüsselfigur, vor uns erscheint  ist „ein schwarzhaariger, ungefähr sechzehnjähriger Junge, der lange, fast seine mit Sommersprossen übersäten Wangen berührende Wimpern hatte und ein silbernes Kruzifix um seinen Hals trug“.

Die durchgehaltenen Partizipienkonstruktionen  und Relativsätze bis hin zum korrekt end-gesetzten Verb im deutschen Satzbau übermitteln nun allerdings eines: stilistisches Durchhaltevermögen.

Manieristisch funktioniert das nun schon, aber es erklingt doch die preußische Satzbaumanier sonderbar wenig italianisierend, und fügt sich ebenso schlecht zu den Gedichten Marinettis, die der Autor in den Text eingliedert, wie zu den erwünschten Pasolini-Impressionen, an die er andeuten möchte. Hier wird eine Methode durchexerziert mit sonderbaren MItteln, etwa diesen grammatikalischen verzögernden Momente: „Auf den am Rande der“ Klarheit arrangierten Satz sollten wir gut aufmerken. Artikelwörter erscheinen und warten treuherzig neben Präpositionen und Mehr-Material an Attributen ab, bis sie endlich ihr Substantiv erhalten. Das verlangt Geduld ab, mit sprachlicher Eleganz hat es wenig zu tun, doch mit sprachlicher Natürlichkeit aus dem 20. Jahrhundert ebenfalls nicht.  „Einer der drei über“ den Satz hinwegfegenden Schlüsselreize soll uns treffen; „lange, fast seine mit“ Farbworten angereicherten Sätze zu Bandwurmlänge bringende Konstruktionen wollen studiert sein.

Winklers Sprachstil war eine Entdeckung, brachte Adjektiv zu Adjektiv. Und das hat nun meinen Verdacht, ausschlaggebend für das „Sinnlichkeits“-Empfinden der BewundererInnen gewesen zu sein. Gewiss, haufenweise Eindrücke sind hier festzustellen. Ich selbst denke, dass für das sinnliche Erleben das Empfinden und Erfahren nicht ganz verzichtbar ist, und das begründete meine Langeweile bei dem Text, in dem Empfindungen ausgeschaltet sind: Hier geht keine Person über einen Markt, die sich abgestoßen oder angezogen fühlt. So gibt es keine Gerüche, keine aufgeschnappten Gesprächsfetzen….Beim Schweifen über Menschen- und Dingmenge sind jegliche fühlenden oder denkenden Komponenten ausgetilgt. Eben diese Fühllosigkeit, die Objekte schafft, entspricht dem zeitgenössischen Habitus:

Die Abbildhaftigkeit, ihre kommentarlose Hinnahme in Tagesschau-Berichten, Fernseh-Reportagen, mit Bildern Kolportiertem wird hier im Wort umgesetzt. Oder auch die zeitgenössische kommerzielle Bilder- Produktion, die in der Werbetechnik immer neue Schlüsselreize herstellen soll- Winkler scheint sie hier in der Literatur einzusetzen. Allerdings nicht, indem unsere Naivität als Bilder-Heischende, als Fernsehzuschauer/innen und Werbungs-Rezipient/innen entlarvt würde. Nein, Winkler reproduziert hier ein zeitgenössisches Mittel für Sensationen als literarisch ästhetisches Moment. So meine These. Funktioniert es? Fasziniert es? Nun, die mediale Leserschaft war tatsächlich begeistert. Die Rezensent/innen erklärten, gepackt zu sein. Stimmten sie ein in einen kulturellen Kanon, den Winkler hier erneuerte – den Kanon der BIlder und Sensationen? Es scheint mir so, denn wenn ich mich an die Innenschau in literarischen Figuren von J.Roth bis E.Hilsenrath, von I.Bachmann bis E.Özdamar erinnere, dann merke ich, dass das Schreiben gerade eben dazu verhilft, uns von der fürchterlichen Bilder- Suggestivität zu distanzieren und uns das Sprachliche zu geben, das Präzisierung und Positionierung ist. Denn, Handke („Fahrt im Einbaum“): Sprache ist Denken, ist keine Nebensache.

Die Bilder-Sprache gibt Signalreize oder Farbwerte, aber keine Reflexionen. Wie das eben auch die Tagesschau-Bilder mit uns machen. Die Reflexionen hätten wir selbst zu leisten, wenn wir uns denn von den Reizen distanzieren und abwenden können. Dass es letztlich wenig einbringt, sich einer Bilderflut zu überlassen und anschließend darüber nachzudenken, zeigt uns Fernseh-Erfahrung: Die ausgewählte Show ist entweder gehaltvoll, oder mensch läßt es besser sein. Bilderflut und Erkenntnis sind nun mal zwei Paar Stiefel. Winklers Bilderstil liefert uns daher nicht viel Aufschlussreiches nach der Fasson der Bilder-Techniken, die früher der Dichter Krawczyk wirklich entlarvte: „Sie hatten die Bilder/ aber keine Wörter dafür./ Niemand konnte jemanden verstehen/ aber sie standen sich nicht im Weg./ Die Augen gaben die Signale/ direkt an die Hände und Füße/ Arme und Beine/ Zähne und Poren/ und so weiter./…Ich hatte bloß die Bilder/ und kein Gegenüber/ welches/ hätte/ schweigen/ können.“ (Stephan Krazwczyk, Schöne Wunde Welt , 1989, Krawczyk-Eigenverlag, Berlin.)

„Sie standen sich nicht im Weg.“ Was Krawczyk, reflektierend und dichtend, aufs Korn nimmt, reproduziert Winkler für uns heute, zwölf ( beziehungsweise neunzehn Jahre, in Bezug auf die Büchner-Preis-Verleihung) später, und in der Zeit, die um tausend Fernsehkanäle erweitert ist: Er stellt mit Worten Bilder vor Leser-Augen. Ja nun, das war gewiß ungewohnt in der Schriftstellerei. Aber es ist konform in unserer BIlderwelt: Die kleinbürgerliche Bestätigung unserer kapitalistischen Tage, die von touristischem Erlebnishunger und fernsehendem Sensationsappetit bestimmt werden. Dieses Marktplatz-Szenario in dieser Form ist ähnlich dem Versuch eines Kamera-Schwenks in Worten, allerdings unauthentisch, eher verkitscht-bereinigt.

Objektivität?

Ich ahne, dass die Beschreibung von Ding-Oberflächen und Farben sich heute in die Mode des „Objektivitäts“-Glaubens einfügt, der mit der Beschreibung von Objekten zusammengeht, und der uns zeitgenössisch schon längst den Menschen als ein den Dingen subordiniertes, von materiellen oder technischen Abläufen determiniertes unterliegendes Wesen schildert. Diese Sicht paßt zu der kommerziellen Steuerungshoffnung, in der die Gesellschaft heute wie gebannt steckt. Mit Objekt-Zugewandtheit, Außensicht und einem Quantum menschlicher Ereignisse scheint sich die Erzählung hier in einem konformen Rahmen zu bewegen. Sie erforscht den Menschen nicht, denn sie interessiert sich nicht für ein Seelenleben. Sie bietet eine Art Kamera-Objektiv, das aber in unserer Erfahrung nicht wirklich objektiv ist (der Kameramann sorgt immer für eine Blickrichtung). Und selbst diese Kamera wird nicht konsequent bedient.

Ein Kamera-Gestus könnte interessant sein, wenn er intentionalisiert und durchgehalten wäre (erinnern wir uns an Drehbücher von Peter Handke, von Herbert Achternbusch). Dann hätte der/die Leser/in ein Drehbuch, eine Erzählung gewärtig, in der der Blick bewegt wird. Aber der Autor erzählt nicht. Er liefert einen Kamera-Gestus, der sich dann doch wieder zurücknimmt, eine Ding-Schau, die mit den Dichtungen von Ungaretti aufgehellt wird und die plötzlich den wenigen punktuellen Innen-Perspektiven des erotisch bewegten Frocio weicht. Es ist kein Ganzes und kein Halbes, was WInkler hier gibt: Er will keinen Fokus auf einen Ablauf, auf Motive einer Person und auf ein entworfenes Handeln und mögliches Scheitern richten. Aber er will auch nicht die dinghafte Verlorenheit und die menschliche Desorientiertheit des Waren-bezogenen Menschen auf einem schwirrenden, flirrenden Marktplatz fühlbar machen. Eher doch will er eine Warenfülle zur Ästhetik stilisieren- und nähert sich damit den Mechanismen der Werbe-Fachleute von REWE bis C und A, von LIDL bis H und M deutlich an.  Und mit Ausnahme des Protagonisten Frocio, dessen erotische Hinneigung zu dem jungen Fischverkäufer angedeutet wird ( die aber in der Novelle nicht mit Momenten einer Erzählung, mit Empfindungen oder sprachlicher Artikulierung leitmotivisch behauptet wird) begegnen wir keinem Subjekt, das zwischenmenschlich handelt oder eine gefühlsbestimmte Gestik zeigt. So reduziertes Menschenbild, auf den sexuellen Trieb beschränkt, und so wirres Dinge-Geschehen als Ästhetik vorbehalten, da ließe sich von uns sagen: Das interessiert mich nicht, oder: Diese Bilder finde ich lecker, toll, appetitanregend. Erstaunlich ist nur, dass die Rezensent/innen keines nicht bemerkten, dass hier Handeln auf das sexuelle Streben eines Protagonisten reduziert und Menschen auf äußerlich-dingliche Erscheinung reduziert wurden. Nein, die Rezensent/innen sahen teilweise eine „soziale Kritik“ gegeben und verglichen seine „Erzählkunst“ mit überlieferten Literaturwerken.

Aber eigentlich beinhaltet der Manierismus als besonderer Stil im Roman dieses: Eine vermeinte Objektivität über Menschen. Die MarktbesucherInnen begegnen nur als körperliche Objekte, als Objekte kühler Beobachtung, während sie verschiedenen Geschäften oder Geschäftigkeiten nachgehen. Und wenn sie, die meisten von ihnen migrantisch bezeichnete MarktbesucherInnen, Fleisch hacken, Feigen verkaufen oder in Abfallhaufen wühlen, zeigt sich ein gewisses wirres Durcheinander, das den Hauptteil der Novelle bestreitet. In diesem Kuddelmuddel erblickten viele RezensentInnen Gemälde oder Schilderungen von „vitaler“ Kraft.

Ausdauer, würde ich eher sagen, wenn der Autor die materiellen Beschafffenheiten gewissenhaft wiedergibt von Plastikschnullern und Granatäpfeln bis zu Tätowierungen auf nackten Armen (mit „Pfeilen und Schlangenlinien“, zweimal erwähnt) an den Tag legt. Für einen „vitalen“ Ausdruck genügt mir diese Fleißaufgabe nicht, trotz durcheinanderwogender Körper; spannender finde ich Dialoge, in denen sich Charaktere beweisen und behaupten. Dieses „pralle Leben“ (laut Feuilletons) ist nur so prall wie die dargezeigten Zitronen oder Feigen. Und ein wenig zu prall doch auch? In einer Menschenrealität finde ich doch, auch bei optischen Eindrücken, Schatten, Grauzonen, vertraute und zurückweisende Formen, Halbverschattetes. Doch das enthält Winkler uns vor. Wollen wir uns mit menschlicher Betrachtungsweise an Gegenständen orientieren, so kommt uns Winklers literarisches Mittel in die Quere: die Kleidungsstücke und die bunten Obststücke sind stilisiert durch eine künstlerisch-ästhetische Retouche, deren Subjekt nirgends begegnet (letztlich durch einen Niemand, der sich als Herr Kitsch entpuppt).

Der Marktplatz-Beobachter klinkt sich also aus Beziehungen aus, und wenn ich davon ausgehe, dass Leben das ist, was ich erlebe und in meinen Erfahrungen verorte, dann komme ich ohne eine Beziehung zur Welt nicht aus. Winkler geht über die schnöden Menschen hinweg und sucht die materielle Beschaffenheit der Erscheinungen, das An-Sich gewissermaßen. Das würde erklären, dass diese Darstellung von Menschen-Sachen und Sach-Menschen nicht lebensnah wirkt. Das hier Abgebildete, torkelnde stilisierte Leben erinnert eher an einen Drogenflip. Denn wo einerseits das Materielle überbordet, rutscht der Autor doch andererseits momentweise wieder in die Perspektive eines bürgerlichen Europa-Reisenden hinüber.

Die Frage ist hierbei nämlich, bei einer vermeinten „objektiven Sicht“ der Dinge, was oder wer den Erzähler zur Auswahl der Farben und Dinge autorisiert, wenn alles „objektiv“ gewollt ist. Was soll von der „Objektivität“ des Autors überzeugen, der zu keiner existenzialistischen Philosophie und zu keiner überwältigenden Wahrheit des Objektiven Zuflucht nimmt, und uns dennoch seine Auswahl von Perspektiven präsentiert? Hier die „deutsche Touristin“, die an ihrem Verhalten erkannt und zugeordnet wird (sie entsorgt eine Bananenschale auf dem Müllhaufen), dort die „Müllmänner“, die an ihrer orangefarbenen Arbeitskleidung erkannt werden. Wer erkennt denn, wenn nicht aus kulturellen Stereotypen heraus, das Verhalten der Touristin als deutsch, und warum können die Müllmänner in ihrer Funktion vordringlich als solche zugeordnet werden, wenn man nicht die Arbeitskleidung fokussiert? Solche Erkennungsmomente könnten, subjektiv verstanden, ein satirisches Potential aufweisen, das aber an anderer Stelle wieder von Dingverliebtheit und der sprachlichen Primitivität des Erzählers mit Verwendung des N.-Worts konterkariert wird.

Konfusion ist angesagt. Der Stil der Novelle ist unausgegoren: Der Autor erzählt nicht (weil er den Erzählstil vielleicht für überholt hält), sondern führt Gegenstände und gegenständliche Menschen vor, mit einer Vielzahl von Angaben über die Farben orange, gelb, grün, oder über Stoffliches mit Kleidungsstücken, Körben, blutenden Fleischstücken. (Und uns „vergeht Hören und Sehen“ wie der „Mutter Courage“ in Brechts gleichnamigem Stück).  Wir sollen uns nicht befassen, denn menschliche Interessen wie Zeitlichkeit, Relativität der Gegenstände sind verschluckt.

Doch ein menschliches Geworfensein ins Objektive wird hier auch nicht spürbar, da der Autor nicht (wie etwa für den Einzelgänger-Protagonisten in Sartres „Ekel“) eine Innenschau und einen gewissen psychologischen Aufwand errichtet, um einen solch entfremdeten Blick, den ein Mensch auf Menschen wirft, wenn er völlig bezugslos unter ihnen wandelt, begreiflich zu machen. So verfällt seine Objekt-Perspektive auch wieder in willkürliche Blickwinkel. Die Leserin wird den Eindruck eben nicht los, dass der Autor hier etwas reproduzierte, das dem Appetit der europäischen Konsument/innen entgegenkam und das längst in Hochglanz-Journalen und TV an der Tagesordnung ist: den Reiz, das exotische Ding, den flüchtigen Eindruck vom vermeint Anderen. Dabei kommen auch Assoziationen zum Zuge, die auf schon bekanntes zurückgreifen, so dass es mit der Objektivität nicht so weit her ist. Eindrücke sollen überwältigen. Es ist ein Klischee-Stil auf halbem Wege zwischen subjektivem Kamera-Auge und rückgewandter Existenz-Philosophie.

Es gibt also keinen durchweg fühlenden Subjekt-Protagonisten. Winklers Rezensent/innen sahen Sinnlichkeit gegeben; ich nicht. Sinnlich empfinde ich etwa die Ausführungen „Essen“ von Walter Benjamin über den Genuß von Kaffee in einem Bistro, oder über den Borscht („Zuerst legt er eine Dampfmaske über deine Züge. Lange, ehe deine Zunge den Löffel netzt, tränen schon deine Augen…“ S. 165) und andere zusammengetragene Erlebnisse von profanen Delikatessen an der Grenze zu Kunstwerken. Zum Beispiel „frische Feigen“, die dem Erzähler-Ich auf einem verschlafenen italienischen Marktplatz mit ihrem Duft geradezu nachstellen: das Vorherrschen von ihrem Duft, die beschriebene betäubte Gier des Erzählers nach den Früchten, sein Überessen daran und der anschließende Überdruss, wenn ihr Geruch dem ganzen Körper anhaftet. Dieser Überdruss führt dazu, dass das erzählende Ich sogar einen Brief zerreißt, der in der Tasche steckte und der den Geruch der Früchte angenommen hatte („Essen“ in: „Angelus Novus II“, Suhrkamp 1988, S. 161-169). Dass die feinen Sinne uns momentweise Delikatessen als Kunstwerke erlebbar machen können, zeigte Benjamin in dem Essay auf acht Seiten Literatur.

Wie anders die Darstellung Winklers auf mehr als 100 Seiten: Die Aufzählung (vielmehr als Er-zählung) von Dingen verrät weniger Sinnlichkeit als vielmehr optische Rastlosigkeit. Offenbar traf der Autor aber einen Nerv – die zeitgenössische Rastlosigkeit des Konsumenten, der von Supermarkt-Regalen angeödet auf die Suche nach mehr Eindrücken schweift und der sich freut, noch auf dem europäischen Kontinent exotische Reize wahrzunehmen.

  1. „Das Abendland“

Episodisch mag eine Provokation gegen den Klerus anklingen durch die Andeutungen homosexueller Kontakte an diesem Ort (in der Sachensuche Winklers werden auch Geschlechtsteile sachlich beschrieben; allerdings kommt das sexuelle Leben zu seinem Recht, und dadurch, dass die Empfindungen in „Natura Morta“ getilgt sind, erscheinen diese Schilderungen weniger als erotische Sequenzen denn als Protokoll-Teil). Nun stellten die Rezensent_innen immer wieder fest, dass Winkler, der aus einem Dorf in Kärnten gebürtig ist und den Katholizismus als beklemmend erlebte, sich freischrieb, und der Kontrast Klerus-Sexus wurde in seinen diversen Werken vielfach behandelt. Wird das hier in dieser Novelle nur mit anatomischen Betrachtungen gelöst, die Gefühlsebene reduziert auf ein: „darf er ran oder nicht?“, das Liebesleiden symbolisiert in den Psychopharmaka, die der trauernde Frocio am Ende der Erzählung schlucken muss, so tritt allerdings Langeweile ein. Noch ein Zusatz aus Winklers Biographie: Er äußert, von Pasolini sehr beeindruckt und auch beeinflusst zu sein.

Nun denn. In einem römischen Szenario und mit der Schilderung einiger homosexueller Kontakte in der Öffentlichkeit soll ein Zitat oder ein gedankliches Anknüpfen erlebt werden. Darf`s etwas mehr sein als das? Die erzählerische Substanz im Roman ist dürftig, die gesellschaftliche Revolte Pasolinis hier eher abwesend, wenn sich der erotische Kontakt in der verborgenen Straßenecke vollzieht. Es handelt sich nicht um eine tiefe Satire und liebevolle historische Zeichnung eines Landes und seiner religiösen Träumer und Spinner, wie in „Kleine Vögel, große Vögel“, nicht um eine schonungslose Milieu-Beschreibung wie in „Accatone“, in der ein Jemand rast und weit umhergeschleudert wird, und von der Opfergestalt im Ghetto bis zum Mörder und tobenden Tier, immerzu vollkommen unbewußt bleibt- ein Charakterprofil und zugleich ein Seelendrama, von der Straße her gemalt  ( eine Figur, die an Barrabas erinnert und damit nochmal an die erzchristliche italienische Kultur anknüpft). Der Sachensucher Winkler zeigt mir in seinem Roman weder die Tiefe noch den Witz, um hier ein angemessenes Zitat zu  liefern.

Geht seine Schilderung von den schnellen sexuellen Geschäften am Rande des Markttreibens denn über den medialen Konsens hinaus, der mit Stern-tv u. a. Interesse an Prostitutionsgeschäften bezeigt ( die noch zu Pasolinis Zeit Tabu waren für die Mainstream-Medien), oder reproduziert er nicht vielmehr gängige europäische Klischees, bei denen sexuelle Freizügigkeit sich an exotische Szenarien und sogar an migrantische Szenarien binden? Scheint der erzählerishe Duktus, der so auffällig eine Waren-Ästhetik dicht an der kommerziellen Bilder-Ästhetik mit ihrer Produktion von Gelüsten zeigt, nicht auch eine sexuelle Sensation zu bieten dicht an den sexuellen Sensationen der Kommerz-Industrie mit ihren Bildern und Schlagworten?

In seinen Presse- Gesprächen brachte Winkler eine provinzielle Bedrückung des Erotischen zum Ausdruck. Wir wollen ihm das gern glauben. Ausgerechnet in seinem Roman „Natura Morta“ ist ihm solcher Ausdruck leider gar nicht geglückt.

Hier wird eine Befreiung nicht spürbar, weil das Milieu der Bedrückung fehlt, aus dem befreit werden soll. Andererseits, eine schonungslose Vorführung der Prostituierten-Realität à la Pasolini oder Franz Xaver Kroetz (vor 30 Jahren) ist hier auch nicht zu gewärtigen, dafür hat sich der Erzähler diesem Milieu denn doch zu wenig gewidmet, dafür wirft er uns zu viel Obst vor die Lesernasen und entwickelt zu viel bizarres Interesse an Sachen und Kleidungsstücken. Vielmehr liefert Winkler eine Kulisse von einem bunten Allerlei – wie bereits festgestellt, ohne ein fühlendes Subjekt – wie ein kommerzielles Chaos, in dem alles möglich ist und in dem das Non-plus-Ultra der optischen Reize es dem Einzelreiz unmöglich macht, sich durchzusetzen. Und dass die erotische Freizügigkeit auf diesem Marktplatz möglich ist – die hier übrigens, wie alles andere, nur äußerlich geschildert und damit ebenfalls fade ist- nun ja, das ist allerdings nicht zu leugnen. Zählt solches nicht seit längerem zum Wissen kleinbürgerlicher Aussteiger/innen, die in die Großstädte fahren, um sich dort mal inkognito auszuleben?

Müßte ich in diesem Text eine Befreiung spüren, so müsste ich wohl Vorarbeit leisten: Winklers andere Werke noch lesen (das hab ich nicht getan) und zudem noch seine Biographie studieren, die von den Medien und Akademien denn auch ausführlich herangezogen wurde, um „Natura Morta“ zu erklären. Lese ich allerdings Thomas Manns „Tod in Venedig“, so habe ich nicht nötig, zuvor seine Biographie zu studieren, um die Empfindung seines Protagonisten, sein Aufwachen aus inkrustierten Verhältnissen, seine Verstiegenheit zu einem künstlerischen und erotischen Medici-Jüngling, sein narzisstisches Fühlen zu erleben.

Martin Walser, der sich seit langen Jahren um Identitäten sorgt, um deutschnationale und europäische besonders, ( und der 1996 und wiederholt ein „Ende mit der deutschen Selbstbezichtigungspolitik“ vor der deutschen faschistischen Vergangenheit wollte, die jüdische Gemeinde seinerzeit brüskierte, und schon in 1989 Jurek Becker zu einem empörten Essay motiviert hatte: „Gedächtnis verloren, Verstand verloren“), befestigte Winklers Ruf als eines der maßgeblichen Autoren von europäischem Rang. Mag sein, dass sich Winkler in früheren Werken mit religiöser Kunst, mit dem Kontrast Kirche- Eros befasste und dass daraus eine gewisse kulturelle Dimension entstand, nur kann ich selbst keine große Dimension in der fraglichen Novelle erblicken, auch wenn sie sich in einem Stillleben der Gegenwart versucht und Gegenstände und Reiz-Eindrücke vom römischen Marktgeschehen und auch vom römischen klerikalen Leben zusammenträgt. Aber geradezu verfehlt ist das Europa-Gespür von Winklers „Natura Morta“ in seinem Menschenbild, in seiner versimpelten und eben nicht die Begegnung suchenden Menschen-Aufzählung, in der MigrantInnen nur als exotische Gestalten vorkommen und nicht als begegnende Individuen mit Sprache und Empfindung.

Doch in der Öffentlichkeit war das allgemeine Abendland-Empfinden höchst wichtig. Man lobte diese „caravaggieske Genauigkeit“ (Berliner Akademie der Künste) einerseits, dieses „Beschwören vergilischer Vorzeit“ (FAZ) andrerseits! Alles auf einmal? Ja, denn das war ein eurozentristischer Wurf, zu dem die Medien begeistert diesen Roman verarbeiteten. Die Bereitschaft dazu war offenbar a priori dagewesen. Wenn alle möglichen Abendland-Assoziationen auf einmal zitierbar sind vor einer Reproduktion von Eigelb und Zitronen, von „Bettlern“, „Strichern“ und vor dem Namen des Dichters Ungaretti, dessen Zitate Winkler vor seine Roman-Kapitel gesetzt hatte ( welche Leistung! Ingeborg Bachmann übersetzte Ungaretti, und dieses war nun allerdings eine Leistung gewesen), so scheint es doch, mein Verdacht, besonders um das eine Signalwort zu gehen – „das Abendland“.

3.Abgrenzung gegen und Kollektivierungen über MigrantInnen

Es ist für mich keine Marginalie, dass in dieser Novelle durchweg das N.-Wort und das Z.- Wort angewendet werden. Nein, Winkler liefert hier Futter für neokoloniale politische Kräfte. So werden MüllsucherInnen, Vorbeistreifende und manche BettlerInnen in Winklers Roman mit N.- und Z. – Wort bezeichnet, während die (satirisch anmutende) Episode von der „deutschen Touristin“, die eine Banananschale ordentlich entsorgen möchte, brav-humoristisch daneben begegnet. Vor dem nationalen Status der „deutschen Touristin“ haben die mit N.-Wort designierten migrantischen Erscheinungen keine nationalen Bezeichnungen, sondern werden mit dieser kolonialen Bezeichnung einer vormals kolonial-rassistisch beherrschten Hautfarben-Gruppe zugeordnet. Aber die Verwendung des N- und des Z.-Wortes durch den Weißen Winkler war für die Rezensent/innen eine Marginalie; man stieß sich nicht daran, fand zu keiner Diskussion. Hier befestigte der Autor das N.-Wort wieder, das in den letzten fünfzehn Jahren durch People of Color ( maßgeblich durch die Initiative Schwarze Deutsche) abgeschafft worden war.

Keine Kultureinrichtung, -zeitung oder bekanntere Person fand ich, die diese Tatsache besprochen und problematisiert hätte! Es war rein zum Staunen. Die Verwendung des N.-Wortes in Winklers Roman schien ins bürgerliche Selbstverständnis zu passen, wurde sie doch von keiner Seite angeprangert. Hier war festzustellen, dass leider ein kultureller Meilenstein wie das Buch „Farbe bekennen“ von Katharina Oguntoye, May Opitz (später Ayim ) und Dagmar Schulz (Frankfurt 1992) im Gedächtnis der Gesellschaft nicht vorhanden war. Die afro-deutschen AutorInnen analysierten rassistische Sprechakte und Rollenzuweisungen in der Gesellschaft und ließen keinen Zweifel daran bestehen, dass das N.-Wort als ein koloniales und herrschaftliches, rassistisch abwertendes Wort aus der Alltagssprache getilgt werden sollte.

Ein Jahr nach der Verleihung des Büchner-Preises an Winkler, im August 2009, veröffentlichte die Psychologin und Genderwissenschaftlerin Grada Kilomba in dem Magazin „Nah und Fern“ ihren Essay über das N.-Wort – eine Analyse über die koloniale Bezeichnung und Abwertung von den Beherrschten aus der Kolonialzeit bis in die Gegenwart, ein Abgesang über einen Aspekt besiegter Primitivität in kolonialistischer deutscher Denkhaltung und Gesellschaft. Offenbar interessiert sich die höhere bürgerliche Kulturszene mit Walser und Winkler nicht im mindesten für das, was die antirassistische Kultur und Forschung derzeit hervorbringt. Ich stellte soviel fest: während Jahren, in denen die Initiative Schwarze Deutsche die Abschaffung des N.-Wortes in der deutschen Gesellschaft forderte und durchsetzte, fand es Günter Grass`Jury in 2001 für angebracht, Winkler für sein Werk den Döblin-Preis zu verleihen. Und noch sieben Jahre später fand es die Akademie von Darmstadt für angebracht, einem Werk von solch großem interkulturellen Desinteresse, wie es Winklers Roman ist, den höchsten Literatupreis zu geben. Nun, und? In der breiten Lücke, in der indifferenten Lücke zwischen der Genderwissenschaftlichen Forschung und der staatlichen Bildungs-Ästhetik verbrachte ich seit Jahrzehnten meine Zeit und meine Tätigkeiten. Offenbar hatten die großartigen Literaten der hohen Akademien nichts davon gehört, was bei Rassismusforschung und Genderwissenschaft erörtert wurde. Und offenbar hatte die genderwissenschaftliche Entwicklung nichts von dem Büchner-Preisträger des Vorjahres erfahren, auf den sie nirgends in ihren Essays rekurrierte.

Dass wir in Winklers Roman tatsächlich einen kolonialen Blick auf den nichteuropäischen Anderen erleben, und dass das sogar von den Presse-organen gelobt wurde, will ich hier verdeutlichen mit einem Beispiel aus der Analytik der antirassistischen Forschung: Ein Jahr vor Winklers Büchner-Preis-Auszeichnung schrieb Paul Mecheril (2007) im Sammelband „Re/Visionen“ (Sheila Mysorekar, Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Unrast-Verlag) in seinem Aufsatz „Die blasse Uneigentlichkeit rassifizierter Anderer- Besehen, beschrieben, besprochen“ von „Diskriminierungs- und Distinktionspraxen auf der Ebene von (Nicht) Wir-Zuschreibungen…in subtiler Weise“ (S.220), die heute den offiziell geächteten Rassismus abgelöst hätten. So gelte althergebrachter Rassismus als nichtlegitim und trete heute oftmals dezentriert, depersonalisiert auf, während „rassistische Unterscheidungspraxen im öffentlichen Raum“ (S. 221) sich weiter ereigneten. Weiter schreibt Mecheril in seiner Abhandlung, der individuelle Körper werde im Rassismus objektiviert (mit Betrachtung und Einordnung), symptomatisiert (als Anzeichen einer angezeigten und verborgenen Wirklichkeit) und kollektiviert (als auf ein Kollektiv verweisend, das anderes aussagt und das der individuellen Erscheinung erst Bedeutung verleihe). (S. 220) Wer alle diese Merkmale ernstnimmt und dabei die Sprachlichkeit und die überlieferten Bilder und Menschenbilder im Roman „Natura Morta“ betrachtet, muss dieses Werk sehr kritisch sehen und zumindest darüber Fragestellungen formulieren, wenn nicht den ganzen Roman. Deshalb kann ich die Tatsache, dass dieses Werk die zwei höchsten Preisverleihungen für Literatur in Deutschaldn erhielt nur als sehr besorgniserregend bezeichnen. Ein schreibender Kleinbürger hatte hier offenbar kleinbürgerliche Literaten begeistert, und diese Eigenschaft des kolonialen Blicks hatte offenbar in einem neukonservativen gesellschaftlichen Denken Platz.

Dass von der interkulturellen und genderwissenschaftlichen Seite jedoch keine Stellungnahme zu diesen Verleihungen kam, darf vielleicht gar nicht so sehr verwudnern: Hier sind unterschiedliche Sphären, die nichts mit einander zu tun haben. Und da die Gendertheorie erst nach und nach wächst, kann sie in ihre Kritik nicht sofort sämtliche bürgerlich-konservativen Erscheinungen aufnehmen, die im Umlauf sind. Die deutsche Literatur driftet also, ziemlich irrsinnig, in einen voranschreitend kritischen Flügel und in einen rückschrittlichen Flügel auseinander. Während die Genderwissenschaft Mechanismen der Ausgrenzung benennt, scheint sich die Ästhetik der bürgerlichen Akademien sehr unbefangen einer bis an den Irrationalismus heranreichenden Ästhetik zu widmen, die nebenbei das rassistische N.-Wort wieder parat hat, das gerade erst abgeschafft wurde. Deutsche Kultur als Kindergarten.

Aber ganz harmlos ist diese Rückständigkeit eben leider nicht. Selbst wenn sich die heutigen ÄsthetInnen der führenden deutschen Bildungseinrichtungen gerne ohne weiteres als universal und gewinnbringend für die Gesellschaft verstehen. Bringt die erträumte „Sinnlichkeit“ in Winklers schönem Marktplatz-Exotismus mit kolonialen Erzählmomenten, nicht auch eine Verantwortung, hier: verantwortungsloses Schwärmen- mit sich? Ist alles nur Kunst, oder nicht auch manches Idiotie? Und ist ein „Befremden“ gegenüber Menschen, das hier in der Germanistik, nämlich von R.Kacianka als Stilelement, gefeiert wurde, nicht doch ein menschlich und gesellschaftlich unreifer Wert? Aber der paßt ganz gut in das Wertdenken der kapitalistischen Ordnung. Denn es ist die Frage, was ein solches „Befremden“ für uns zu sagen hat, während doch andere Autor/innen zugleich eine Verständigung, einen Erfahrungsgewinn in Literatur transportieren und die menschliche Begegnung suchen – die Frage ist für mich, weshalb ersteres für die bürgerliche Literatur als bedeutungsvolles Element betrachtet und in Verbindung mit hohem Bildungsstatus gesetzt werden sollte, und die Frage ist, ob solches nicht politisch sehr genehm war in der Epoche, in der konservative Politik die „Einbürgerungstests“ für MigrantInnen als obligatorisch belegte und neue „Unterschichtsdebatten“ auf den Weg brachte (seit 2006), bei denen neue kollektivierende Begriffe gemacht wurden z. B. von “ migrantischen Jugendlichen“ und „integrationsunwilligen Migranten“ (Roland Koch, Klaus Buschkowski) . Seitdem hatte die EU-Politik ja auch einen Drive von Paranoia gegen Nicht-EuropäerInnen, wiederbestärkt wurde migrantenfeindliches und abschottend-rassistisches Denken gegen alle Flüchtlinge, die nach Europa kommen und die nicht als ausgebildete High-Tech-xpert/innen zum Reichtum der Nationen beisteuern können, gegen alle Opfer der westlichen Rohstoff-Ausbeutung in den Ländern des Südens mit Kriegführungen und Landraub.

Winklers Kontemplation über äußerliche körperliche Differenzen wie über die Farben der Orangen und Zitronen setzte nach meiner Ansicht den Irrationalismus wieder ein und ist schlecht, wenn nicht konträr geeignet für interkulturelle Begegnung und ein Miteinander. Das Werk „Natura Morta“ hat sogar eine rassistische Tendenz, wenn es im Namen abendländischer Stillleben-Assoziationen plötzlich genehm sein soll, koloniale Bezeichnungen (N.-Wort) wieder einzuführen. Damit zeigte die „Bildungsschichts“-Literatur einen Rückschritt, der manche gesellschaftlichen Errungenschaften aus früheren Jahren wieder unterminiert, Errungenschaften, die zumeist migrantische EinwandererInnen seit rund vierzig erbracht haben.

Neokoloniale und/ oder herrschaftsideologische Sprechweisen in der Gegenwartsliteratur zu untersuchen, ist eine bis jetzt noch nicht wahrgenommene Aufgabe der Genderwissenschaft. Dass das bislang nicht der Fall war, liegt für mich in einem ganz bestimmten Grund: Beispielsweise Mecheril oder Kilomba haben nichts davon mitbekommen, was sich auf dem Literaturmarkt der Büchner-Preis-TrägerInnen ereignete; sie hatten kein Interesse daran, bzw. aus ihrem Aufgabenfeld her gesehen, vermutlich Wichtigeres zu tun, als die Sprachwerke der Büchner-Preisträger ins Auge zu fassen. Gewisse Unvereinbarkeiten zwischen manchen Werken der bürgerlichen Erfolgsliteratur und der interkulturellen und postmigrantischen Literatur zeigen mir jedoch, dass eine Art Kluft vollzogen ist. Die Büchner-Preis-TrägerInnen und-VergeberInnen vertreten mitnichten einen zeitgenössischen universalen Typus und auch nicht „die“ deutsche Bevölkerung schlechthin, sondern nur die von Genderwissenschaft abgewendete, die gegen diese Entwicklungen völlig ignorante Bildungsschicht und vermutlich auch gesellschaftliche Mitte.

  1. Migrantische Körper, verdinglichter Mensch

Es sind besonders migrantische Erscheinungen, die in Winklers Novelle zum Objekt werden. In seinem ambivalenten Caravaggio-Kamera- Auge werden zwar alle SpaziergängerInnen auf dem Markt zum Objekt, doch besonders minutiös werden migrantische Erscheinungen beschrieben, in ihren bunten Gewändern, bei diversen Geschäftigkeiten, dem Stillen von Kindern oder dem Wühlen in Abfällen, aufgezählt. Merklich soll das zu einem gewollten Exotismus im Roman beisteuern, und das ist wirklich peinliches Gesudel. Noch ehe das Befremden vor dem Anderen in der europäischen Gesellschaft überwunden war, wird es hier zur Quasi-Ästhetik gemacht und wieder befestigt.

Die Verdinglichung des Menschen und die Objektverliebtheit im neoliberalen Zeitalter erhält in Winklers Roman allerdings eine konsequente (unreflektierte) Wiedergabe. Zugegebenermaßen werden auch manche europäischen Figuren dinghaft beschrieben wie „der Neapolitaner“, dessen Arme „mit Schlangenlinien und Pfeilen tätowiert“ sind, aber da erlegt sich der Erzähler mehr Zurückhaltung auf (Tätowierungen sind immer so interessant! und zum Hinsehen gemacht!) als bei der körperlichen Sicht auf migrantische ProtagonistInnen, wo es auch mal um eiterverklebte Lider geht. Vermeinte Objektivität des Erzählers

Solche Beschreibung der Körper schien in den Perspektiven der Leser/innen der großen Kulturforen, in den Rezensionen von Winklers Roman jedoch völlig auszureichen, um menschliche Aussagen zu treffen. So genügte die Beschwörung von den Bildern armer BettlerInnen und MüllsucherInnen mit „eiterverklebten Lidern“ für eine Rezensentin in „Jungle World“ und „Freitag“, um Armut als Mahnung zu gewärtigen und das Werk als sozialkritisch zu beurteilen. Allerdings heißt das zugleich, dass von den so geschilderten Gestalten keine differenzierte Mitteilung erwartet wird- dass eine sprachliche Äußerung nicht mal als möglich gedacht wird. Hier ist wieder die Nähe zum obengenannten „Tagesschau-Syndrom“ zu sehen.

Die geschilderten Migrant/innen sind allesamt sprachlos, wenn sie nicht „Feigen, frische Feigen“ rufen, wenn sie nicht geschäftliche Sätze von sich geben. Die Sprachlosigkeit hat auch die europäischen Protagonisten in Winklers Erzählung befallen wie ein Virus der Bilder- Gesellschaft, das ist wahr. Aber die europäischen Protagonisten, der junge Fischhändler-Geselle und der ältere Frocio, der den Jungen sexuell herumkriegen möchte, bekommen hier noch einige Restfragmente an subjektivem Erleben und an Innenschau, die den anderen felht: der Junge Piccoletto bekommt die Subjektivität und Eigenständigkeit im Fühlen verliehen über den Erzählstrang, der bei seiner Perspektive beginnt und der mit seinem Unfall auch wieder endet, und der europäische Erwachsene Frocio hat über sein erotisches Innenleben und seine Trauer am Ende der Erzählung ein individuelles Eigenleben unabhängig von geschäftlichem Treiben erhalten. (Seine Trauer wird am Ende der Erzählung veranschaulicht in den Psychopharmaka, die er schlucken muss, als er den verunglückten Jungen beweint).

So zahlreich die Verkäufer/innen und Stricher/innen, die Herumstreifenden in Winklers Erzählung seien, sie erhalten keine Stimme verliehen, und es gibt keine geschilderten Abläufe von individuellem Streben der Figuren als Personen.

Die Behandlung von Menschen als Objekten ist allerdings ein zeitgemäßes Phänomen, das wiederum dem medialen Gestus, der Produktion und Vorführung von Bildern und Fertig-Reportagen über das Objekt Mensch entspricht. Der/die Konsument/in macht, insoweit als dem kommerziellen Presse-Erzeugnis gefolgt wird, Menschen im Bilderzeugnis zum Objekt. Sie werden nicht in ihrer Individualität erfragt und ihre Worte, geschweige ihre Blickkontakte, werden nicht gesucht. Sie werden körperhaft eingeordnet und kategorisiert, als gebe es nichts von ihnen und über sie zu erfahren. So blieb nicht mehr von den objektivierten Figuren („Der Fleischverkäufer aus Sri Lanka“, die „Müllmänner“) als ein pittoreskes Gebaren, das schon ausreichen sollte, damit die LeserInnen sich menschliche Urteile bildeten, welche sich nur im Gebiet der Klischees – Armut, Krankheiten, und zugleich auch farbenfrohe Gewandung, anregendes exotisches Äußeres- bewegen können.

Vermerk am Rande: Auch im Wort hat die Objektivierung von Menschen ihre Entsprechung- im Sozialpolitischen. Seit der Politik von Roland Koch in Hessen und Klaus Buschkowsky und Thilo Sarrazin in Berlin, und seit dem Leitkultur-Konsens mit Darstellungen der Regierungskoalition von FDP und CDU sind die Kategorie-Schaffungen von „EinwandererInnen“, „bildungsfernen Schichten“, „MigrantInnen“ oder in diversen Kategorien: „Muslime“, „Asylbewerber“, „Jugendliche“ und: „integrationsunwillige Einwanderer/innen, integrationsunwillige Jugendliche“. Es sind Kategorien, bei denen Gruppen gebildet, Grenzen gezogen und Erfahrungen vergessen gemacht werden. In solchen Gruppenbildungen durch die definierenden Sprecher/innen wird über Menschen als Objekte verhandelt. Dabei wird ihnen einerseits in einer Kollektiv-zuschreibung von Eigenschaften Individualität genommen, des weiteren wird ihnen eine Position außerhalb der definierten Norm zugewiesen. Die unsäglichen rassistischen Tiraden Sarrazins und ein Gutteil Zustimmung zu seinen Verbreitungen aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft, legen von den Fortläufern solcher Diskurse Zeugnis ab.

Hier assistiert Winklers Darstellung der Gruppenbildung und der Kategorisierung über MigrantInnen, die zur gleichen Zeit in der Politik nach 2001 in so bedenklicher Weise Einzug hielt.

5. Tod oder Leben?

In der materiellen Objektverliebtheit ist allerdings ein neues Moment enthalten. Die Kunst, über diese Kaffeetasse oder jenes Stück Obst zu meditieren, in anderen Vanitas-Werken der Literatur (und der deutschen Befindlichkeits-Literatur nach 1990) schon früher aufgetaucht, zeigt sich hier als tragendes Motiv. Aber mit dem Beharren auf der Konsequenz, dem verwandten Blick auf tote Sachen und auf lebendige Menschen, die nur in ihrer Funktionalität gezeigt werden, die nicht als sprechende, handelnde, fühlende Individuen interessieren, sondern hier wie schöne Modelle in ein „Stillleben“ mit hineingenommen werden, ist ein bedenklicher Kunstgriff enthalten.

Der kam nicht zufällig mit der Neuen Sozialen Marktwirtschaft. Dinge und Waren zu fixieren, ihnen eine Tiefe anzudichten, die sie nicht haben, oder ihnen geschichtliches Vermögen und Symbolisches aufzuerlegen, schien eine typische Eigenschaft dieser Erfolgsliteratur zu sein, die ich leider nach 1996 während des Literaturstudiums bekunden mußte. Während sich Autor/innen kaum noch für soziale Ereignisse interessierten, fassten sie Leidenschaften für den Apfel oder den Kaugummi, für die Kaffetasse oder das rote Kleid, in eine Art von Ästhetik, die mich intellektuell verhungern ließ.  Der Ding-zugewandte Stil hat durchaus seine Konsequenz – leider machen wir uns aber etwas vor, wenn wir ihn als eine ästhetische tiefe Eigenschaft in der Kunst betrachten. Legt er nicht eher Zeugnis ab von der Phantasie-Verkümmerung und von der Vereinzelung der Menschen im sozialen Desaster dieser Zeit? Ist es nicht ein System-Stil, der typisch passt zu den Sprecher/innen des TINA-Prinzips („There is no Alternative“)?

Mit solchem Blick auf Menschen-Objekte verschiebt das beobachtende, auf das Auge reduzierte Subjekt Sprechen ins Niemals. Und den Objekten ist es von diesem Blick verunmöglicht, Gehör zu finden. Kommunikation ist verworfen. Gesellschaftliches Treiben zeigt insofern nurmehr die Eigenschaften von materiellen Abläufen, und ist als gesellschaftliches Ereignis tatsächlich tot. Leider versäumten die BewundererInnen von „Natura Morta“, ihre Faszination an diesem Werk mit dieser versuchten Perspektive auch derart zu bekennen. Ein avantgardistischer literarischer Stil als „das Tote im Leben“ wäre dann treffend für den Zeitgeschmack festgestellt worden, und darüber könnte man wirklich heftig diskutieren. Aber das war nicht der Fall. Diskussionen fanden nicht statt, nur Zelebrierungen. Tatsächlich ist Sprachlosigkeit eine (politisch nicht unerwünschte) Zeiterscheinung orientierungsloser Subjekte in einem Markt-Kosmos und in einer ausufernden Bürokratie. Sprache einzufordern wäre ein Verdienst großer Schriftsteller/innen. „Sprechen Sie!“, sagte Thomas Manns Settembrini zu Hans Castorp: „Sprache ist Gesittung.“ („Der Zauberberg“) Mit Winklers Werk liegt uns ein Kunstwerk eines europäischen Autors der hohen Bildungsschicht vor, in dem Sprechen einmal mehr verworfen, als unbeträchtlich für Gesellschaft erachtet wird. Mit unserer sprachlich immer mehr reduzierten Welt, in der wir beruflich und konsumentisch zu funktionieren haben, ist seine Ästhetik schon folgerichtig. Er liefert sie uns aber als menschlich authentisches Wirken. Und das ist grob. Der Autor sieht, so wie konservative politische SprecherInnen unserer Gegenwart, migrantische Personen nicht als Sprechende und als Individuen, von denen mensch etwas zu erfahren habe, eine Geschichte und eine eigene Urteilsfindung in der Welt. Es gibt keine Begegnungen. Aber eben das Fehlen von Begegnungen, das mir hier unmißverständlich auffällt, war für Winklers BewundererInnen ganz unbeträchtlich.Sie assoziierten „Leben“ als Außensicht (sehr ähnlich dem touristischen Blicken) auf Getümmel, Menschen- und Dingkörper, und thematisierten durchaus nicht die Bezugslosigkeit der geschilderten Personen und der Hauptfigur zu den anderen Gestalten, auch nicht die stereotypen Verhaltensweise der HändlerInnen, der KonsumentInnen und BettlerInnen.

Das Fehlen menschlicher Begegnungen drückt etwas aus. So wie das Phänomen einer „Dingfrömmigkeit“ in der Schilderung, wie sie der Philosoph Günther Anders schon 1956 am Menschen der hochtechnisierten Produktionsspäre und-gesellschaft beobachtet hatte in seinem Werk „Die Antiquiertheit des Menschen. (Band 1) Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution“ (Beck-Verlag, München) . Die zeitgenössische Faszination vor den seriell erscheinenden Waren mit ihrer „Todlosigkeit“ (da sie nämlich ersetzbar, austauschbar und reparierbar sind), die Hinwendung und Zuwendung zum Ding hatte Anders an seinem soziokulturellen Umfeld analysiert und in Sätzen niedergeschrieben, die auch heute noch erstaunlich psychische Abläufe erfassen, welche mit der Perfektionierung der kapitalistischen Verwertungen einhergingen.

Doch in den Rezensionen von „Natura Morta“ sahen sich keine Feuilletonist/innen an Anders erinnert. Sie lobten die „sinnliche“ und die „vitale“ Kraft in der Beschreibung des Autors. Und damit galoppierten sie recht rasch davon und deuteten so viele morbide Komponenten in „Leben“ um, dass ich mich eines unheimlichen Empfindens nicht entledigen konnte. Wurde hier nicht Tod mit Leben verwechselt?

Denn diese merkwürdig „todlose“ Eigenschaft, die der Philosoph Anders in Bezug auf unsere seriell produzierten Waren konstatiert, sie scheint im Text die Menschen und die Produkte zu verbinden. In der Ambivalenz der Darstellung des Autors sind die Menschen erstaunlich empfindungslos und die Dinge erstaunlich präsent, und erlangen durchaus ähnliche Eigenschaften. Winkler wollte durchaus das lebendige Treiben eines Marktplatzes zur toten Darlegung, wollte ein Stilleben schaffen aus lebendigem Geschehen, Pittoreskes aus Objekt-Erscheinungen.  Der Titel und der Versuch seines Romans als „Natura morta“ sagte es selbst.

(Winklers Faszination an Totem ist nicht unbeträchtlich, das haben seine Biograph/innen selbst mehrmals geäußert; seine Faszination für Fleischstücke und für die Produkte des Schlachterhandwerks in Kärnten wurden dokumentiert. Und auch in „Der Friedhof der bitteren Orangen“ hat das Tote sein spezielles Motiv für Wahrnehmung. Erstaunlich nur, die Rezensent/innen merkten es nicht am Beispiel von „Natura Morta“.  )Hier können wir dem Autor schon auch zu einem eigentümlichen Stil gratulieren. Nur, diesem Stil Eigenschaften der großen Literatur, die – wie Pasolini- tieferen psychologischen Abgründen auf der Spur ist, oder eines barocken Erbes mit seiner philosophischen Reflexion über den Menschen als Schöpfer und Erschaffener, als beginnendes schweifendes Individuum und als immerdar verurteilte Sünder-Gestalt, solche Eigenschaften also anzudichten, das bedeutet schon, eine Instant-Kultur-Leistung aus diesem Roman zu machen – dazu gehört schon viel Ignoranz.

Nein, der Stil in diesem Werk übermittelt uns eine neue Botschaft: Es gibt nichts zu erzählen, es gibt nur viel zu staunen und viel Appetit zu heischen. Und solche Gefühle haben wir ja durchaus, wenn wir mal über einen neuen, unbekannten Marktplatz gehen. Das ist nur ziemlich unbeträchtlich.

Vermutlich passt aber Winklers Weltsicht, die Dingverliebtheit und die Sprachlosigkeit, zu unserer Welterfahrung als Konsument/innen, passt zum Horizont einer bilder-produzierenden Medien-Industrie, in der wir nur mehr schweigend, betroffen nicht-betroffen, resümieren oder – wofern unsere Empfindung angenehm betroffen wird- beeindruckt sind, zum Arbeitsalltag, in dem wir uns zwischen Funtkionen und zwischen Sachzwängen orientieren müssen, und zur Unterhaltungsindustrie, die die Zeiten des nicht-arbeitenden postmodernen Menschen groß ausfüllt und die mit einem Minimum an Kommunikation auskommt.

Die Faszination vor dem Toten ist in der fortgeschritten kommerzialisierten Welt recht verbreitet. Denken wir an den Publikumserfolg von Gunter von Hagens „Körperwelten“, wobei präparierte Leichenteile mit dem Titel „Zyklus des Lebens“, oder jetzt wieder aktuell mit dem Titel „Eine Herzenssache“, als Kunst in Berlin ausgestellt werden. Hier geht es um Sensationen mit dem Anschein der tiefen Betrachtung. Hier beobachten wir mit Verwunderung eine charakteristische Eigenschaft der marktwirtschaftlichen Zeit und ihrer Kunst: Tod wird uns als „Leben“ verkauft. Solche tiefgreifenden Irritationen passen aber ins soziale und zwischenmenschliche Erleben unter der Verwertungslogik : Wenn wir als „Bwegung“ auffassen, nurmehr von Vehikeln und Technik bewegt zu werden, ohne selbst irgendeinen zwischenmenschlichen Akt einzusetzen, wenn wir uns anpassen müssen an Sachzwänge und vermeint Unabänderliches, wenn wir den Waren so etwas wie ein Eigenleben zusprechen und wenn Menschen von Warenproduktion beherrscht und verdrängt werden…unter all diesen Umständen kann es sein, dass wir für Lebendigkeit halten, was ein kompletter Verzicht auf Sprache und auf ändernde und bewegende Motivationen von Menschen ist.

Solche Abgewandtheit von Sprache wäre konsequent, wenn ihre VertreterInnen solche Ästhetik als eine vermeinte Errungenschaft nicht wortreich feierten und in alle Medien-Organe hinausposaunten.

Denn das eine, rückständige, Werk feiert sich hinein in eine Dominanz, während andere Meisterwerke in Vergessenheit geraten. Die einen sind im Dunkeln, und die anderen im Spotlight der großen deutschen Kultur. Der Leitkultur.

-2009/2010

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Büchner-Preisträger 2007: Martin Mosebach, „Der Mond und das Mädchen“(Hanser-Verlag 2007) . Eurozentrismus, stimmungsvoll!

Ein Jahr vor der Büchner-Preis-Verleihung an J. Winkler, und etliche Jahre, nachdem der biedermeierische Rückschritt schon in den Akademien eingeläutet worden war, erhielt Mosebach jenen Preis für seinen Roman „Der Mond und das Mädchen“.

Martin Mosebach, ein konservativer Katholik, der sich u. a. durch Erklärungen bemerkbar machte, in denen er die 68-er-Bewegung gerne rückgängig gemacht wissen würde und die religiöse Moral gerne als bestimmendes Motto im Leben- auch in gesellschaftlicher Hinsicht – entwirft, bietet in diesem Roman ein Szenario, das migrantische MitbürgerInnen um die Hauptfigur des deutschen Staatsbürgers Hans gruppiert. Und dieser ist das räsonnierende und philosophierende Subjekt der Geschichte. Mosebach wirft sich für andere Stimmungen in die Bresche als Winkler, der ein Jahr später den Büchner-Preis erhalten soll: Mosebach steckt viel abendländisches Sinnieren in seine Figur, verwendet den inneren Monolog und entfaltet manche schwermütigen Betrachtungen über Sitten oder über die Spur der Zeit über den Sitten. Winkler verfährt rigoros ästhetisch: Für das Sinnieren hat er nicht die Ausdauer, er findet rasch Bilder und nationale Zuschreibungen, nennt einen Fleischverkäufer aus Sri Lanka eben einen Fleischverkäufer aus Sri Lanka. Gemeinsam ist den Autoren eine Eigenschaft: Der migrantischen Erscheinung wird keine Innenschau zuteil, sie bleibt Objekt.

Objektivierung der MigrantInnen

Bei Mosebach ist die migrantische Erscheinung Objekt von Betrachtungen und Überlegungen. In den Dialogen kommen die migrantischen ProtagonistInnen zwar zu Wort, aber was sie erzählen, zeugt immer nur von sehr vereinfachten Motiven, die uns keine Denkmanöver oder tiefere Einfühlung abverlangen: In dem, was die migrantischen NachbarInnen der Figur Hans erzählen, geht es um sehr materielle kurzlebige Bedarfe, um Geld, um Geschäfte oder um Sexuelles. So stiftet Mosebach im Dialog das Befremden, das der hochgelobte Winkler in der Bilderproduktion und im urlaubsähnlichen Pittoresken-Rausch produzierte. Allerdings hält sich Mosebach an einen leicht ironischen Stil, der die Satire streift. Der satirische Gestus bleibt aber gezähmt im Blick des Spießers, der sich nie über eine gedachte Ordnung erhebt oder der von einer situativen Groteske aus eigenen Werten hinauskatapultiert werden könnte.

Vielleicht kann man sagen, dass Winkler die Farbenpracht lieferte zu den gedanklichen Trockenheiten Mosebachs. Dieser bekundet ein Stück eurozentristischer Literatur in unserer interkulturellen Epoche, das in besseren Eigenschaften als unbeholfen-wohlwollend beschrieben werden kann.

Im Roman wurde der Protagonist Hans, erfolgreicher Frankfurter Bankangestellter und Karrierist, vorgestellt, der sich zu Begegnungen mit seiner migrantischen Nachbarschaft im Bahnhofsviertel herbeilässt. Mit ihnen begibt er sich ins Gespräch, sitzt auch mal in der Runde unter dem Abendhimmel vor einem gemeinsam entzündeten Hoffeuer. Im Zentrum der Novelle „Der Mond und das Mädchen“ steht allerdings mehr das eheliche Hin und Her des empfindsamen Hans, der erstmals nach seiner Heirat von der Mutter wegzog und sich viel mit Fragen über Treue und Sittlichkeit herumplagt (symbolträchtig verliert er beim Fremdgehen mit einer anderen Frau den Ehering). Das Szenario von der jungen Ehe im Bahnhofsviertel mit den migrantischen NachbarInnen ergibt letztlich eine traditionelle bürgerliche Weiße Bedeutungs-Ökonomie. Die MigrantInnen der Umgebung, darunter Dealer und Prostituierte, dienen zum typisierten Hintergrund für die individuellen Lebens- und Gedankenabläufe des deutschen Staatsbürgers.

Seine Begegnung mit den marokkanischen und syrischen NachbarInnen ist für Hans Anlass, über europäische Kultur zu räsonnieren, wobei er zwar in Gedanken einerseits der Islamophobie eine Absage erteilt (Andeutung an Enzensbergers Tiraden über einen islamistischen Faschismus), andererseits auch eine Eroberung Europas erwägt, das dabei schon mit dem Phönizierreich verglichen werden muss. Den deutlich kulturpessimistischen Part liefert dabei Hans` deutscher Nachbar und philosophischer Gesprächspartner Wittekind.

Rollenzuschreibungen gegenüber MigrantInnen und Klischees

Was die geschilderten migrantischen NachbarInnen zu erzählen haben, zeigt hingegen einen Mangel an Philosophie, an Reflektiertheit: Sie kommen im schwierigen Alltag ständig ins Straucheln und ihre Rede geht nur von kurzlebigen Dingen. Fixiertheit auf Geld ist z. B. eine zentrale Eigenschaft der Nachbarin Mahmouni: „(…) Zu teuer. Ich bin mit Geschäften großgeworden. Ich habe immer auf den Preis geachtet. Man darf sich nicht zu gut sein, den Preis nachzuprüfen( usw.)“ (S. 112) Das wird an anderer Stelle ergänzt von ihrer Nähe zu devianten und verkommenen Existenzen: „Mein erster Mann war ein Lump, Trinker, Wetter auf Hunderennen, hatte ein jahrelanges Verhältnis zu seiner eigenen Tochter,“ führt besagte Frau Mahmouni selbst aus (S. 38). Anders als die männlichen migrantischen Protagonisten redet Frau Mahmouni auch von ihren erotischen Gepflogenheiten, das heißt: gibt sich freizügig. Und wir sehen uns dann wirklich in unserer Ahnung bestätigt: Sie ist in der Story eine Figur zwischen Prositutiertenberuf oder einer konstruierten arabischen Normalität. Der Autor zeichnet in dieser Protagonistin die erotische Projektionsfigur der arabischen Frau in den kolonialen Augen des Europäers. Das ist einigermaßen peinlich, denn hiermit reproduziert er letztlich einen Sexismus, mit dem sich deutsche Weiße Männer oftmals wünschen, nichtdeutsche – also zugleich auch rassistisch- Frauen zu objektivieren und in eine erotische Kategorie der Verfügbaren und Exotischen zu bringen, wie es beispielsweise im gesellschaftlichen Bericht von Wallraffs „Ganz unten“ aus der Zeit der „Gastarbeiter-Beschäftigung“ in Deutschland dokumentiert wurde. Wir sehen also , dass der Autor Mosebach nicht aus dem kleinbürgerlichen Horizont hinausgeht, sondern im Gegenteil, dieses kleinbürgerliche Sofa und die erotischen Verfügbarkeitsträume am Objekt des migrantisch Anderen nur mit philosophischen deutschen Namen und moralischer Rührigkeit ausstattet und ausschmückt. Es riecht hier nach Raum-Spray und Hackbraten in dieser deutschen Philosohpier-Ecke.

Auf Gewinn fixiert ist auch der Hausmeister Souad, der wenig intellektuell, vielmehr sehr emotional, „neugierig“, „mit wehmütiger Treuherzigkeit“, einmal auch wie ein „tobsüchtiger Frosch“ beschrieben wird. Und: „Er will nicht bei den Verlierern sein“ ( die schlichte Überlegung Wittekinds, um den Background von Souads Einwanderungsgeschichte zu erklären, und das wird an keiner Stelle im Roman von einer subjektiven Erwiderung Souads erweitert oder korrigiert). Eine Menge journalistischer Sätze und Klischees, die das Fehlen von interkulturellen Erfahrungen des Autors verraten.

Der Roman bestreitet seinen satirischen wie auch sinnierend-abendländischen Gehalt von einer Feststellung vom Anders-Sein des migrantischen Gegenübers. Letzteres wird auch mal rassistisch über Körpermerkmale wie die „braunen Tieraugen – man sah fast nichts Weißes bei ihnen“ des Souad (S. 80) erfaßt. Hier ist wieder der Exotismus Signal, der in Winklers Tableaus ebenfalls den Gefallen der führenden deutschen LiteraturkritikerInnen fand.

Kultureller weiter Rückschritt und Vergleich zu Özdamars „Mutterzunge“

Eigentlich müssten wir über Mosebach und über die Akademie-Mitglieder staunen, dass sie solche Klischee-Zeichnungen für interessant halten. Und müssten ihnen die Lektüre von Emine Özdamars „Mutterzunge“ verordnen, einem Buch, das schon siebzehn Jahre vorher in Berlin erschien, und das uns die individuelle Wanderschaft über kulturelle Differenzen hinaus nahelegt und eine Außensicht auf ein manchmal frostiges, manchmal auch rassistisches Westberlin: Ein Erfahrungsschatz, in erzählerischen und kulturellen Reichtum der Autorin gebettet, die da zwischen dem Bosporus, der türkischen Märchen- und Erzähltradition und dem europäisch-sachlichen Stadtpanorama lebt und webt und neue Bindungsmuster für uns schafft. Özdamars „Mutterzunge“ bietet eine wunderbare neue Sprachkunst in der Zeit der Einwanderung und internationalen Migration. Die Herrschaften der Leitkultur, die sich im Gegenteil aber wieder zu abgrenzender Ästhetik begeben, haben ihre interkulturellen Hausaufgaben offenbar nie erledigt. Die hohen Autoritäten der Literaturlandschaft haben solche interkulturellen Werke, die uns zu gesellschaftlicher Achtsamkeit und zu Neugierigwerden führen könnten, offenbar ignoriert. In diesem Sinne ist auch Sarrazins Bildungsferne zu beklagen, der sich über die Bereicherung der deutschen Landschaft durch Zuwandererkultur hinwegsetzen will. Offenbar ist aber der Stammtischdiskurs unter den deutschen PolitikerInnen seit Jahren so eingeschleift, dass sich die einzelnen Hetzer und Schwadronierer ihrer Bildungslosigkeit gar nicht mehr genieren müssen.

Zufällig entwickelte Mosebach seine Geschichte in der Zeit der ordnungspolitischen Debatten, die in 2006 „Einbürgerungstests“ für migrantische MItbürgerInnen auferlegten und zu einem unsäglichen Wertediskurs in der Presse über muslimische MitbürgerInnen, über ihre „Demokratiefähigkeit“ etc. führte. Nicht dass der Autor sich hier zur Intervention gerufen gefühlt hätte, um diesem Verordnungswahn und dem medialen Überhandnehmen von Mißtrauensätzen gegen MigrantInnen ein unabhängiges Sprechen entgegenzusetzen. Wir erleben hier das schon typische Phänomen der bürgerlichen Literatur, die sich hohe Gegenstände verspricht, wenn sie auf Bundestagsthemen zurückgreift – die marktbezogene Erwägung kann da zufällig noch beitragen, einen Trendsetter zu liefern. Es sieht mir nach einer patriarchalen Eigenschaft – vielleicht insbesondere der deutschen Schriftsteller?- aus, dass sich Autoren gerne am Mitregieren beteiligen wollen oder hoffen, in einer Art von spätrömischem Senat ihren Senf dazugeben zu können.

Der Autor liefert in diesem Diskurs etwas mehr kulturelle Erörterungen, wie in einem ausgedehnten Spiegel-Artikel gewissermaßen, und möchte diesen Diskurs bebildern. Es hat tatsächlich den Anschein, als läge in der Illustrierung von Kabinettssitzungen oder UNO-Konferenzen die zeitgenössische Funktion des deutschen Autors. Da dürfte er auch dem Größenverständnis eines Martin Walser entsprochen haben, denn große Empfindungen sind nach der Auffassung der Literaturpäpste nicht von Individuen zu bemerken, die ihre menschliche Exponiertheit einem Machtgefüge entgegenstellen müssen oder Versehrtheiten aus dem Leben, aus Sitte oder Gesellschaft, erfahren – Figuren wie der Schüler Oppermann in Feuchtwangers „Geschwister Oppermann“, wie der Kriegsveteran Becker in Döblins „Neunzehnhundertneunzehn“ oder die namenlose Protagonistin im Beziehungsgeflecht in Bachmanns „Malina“.

So zeichnet Mosebach dann doch deutlich, an politischen konservativen Koordinaten entlang, eine objektgerichtete Perspektive auf die Anders Wahrgenommenen fort. Die Begegnungen im Roman führen zu keiner Entwicklung des deutschen Protagonisten in eine zwischenmenschliche Beziehung hinein, und der Erzählduktus eröffnet keine Innenperspektive der migrantischen Personen.

Nun ist die lokale Verortung von Hans im selben Mietshaus inmitten der migrantischen NachbarInnen immerhin als eine nicht-hierarchische Verortung zu sehen. Aus diesem Ausgangspunkt entwickelt Mosebach aber keine Erfahrungsgewinne für den Protagonisten, keine Verstörung des in sich geschlossenen eurozentristischen Wertedenkens, und deshalb auch keine wohltuende Ernüchterung von medialen Klischees und Abendlandkitsch der Mainstream-Medien und der rechtskonservativen Kreise. Es gibt kein wirkliches Miteinander (auch Winkler hemmt ja mit der Ding-Flut jeden Blick auf Erfahrungen und ignoriert individuelles Sprechen der migrantischen Gestalten), sondern letztlich nur ein Nachsinnen des Europäers Hans über die NachbarInnen mit dem Merkmal der Andersheit, bei dem der koloniale Blick noch einmal aufleben darf, der von der Warte des gutsituierten Europäers mit Pass auf die migrantisch Anderen als Prostituierte und Klein-Kriminelle geworfen wird. Ein peinliches Werk in der Zeit der interkulturellen Entwicklung und der Erkenntnisgewinne für uns aus internationaler Literatur zu Zeitgeschehen und Migration – eine altmodisch, eurozentristisch sinnierende Geschichte, ein Glanzstück in den Augen der JurorInnen der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung.

-2009

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Der Afghanistan-Krieg, eingefaßt in Geplauder und Bundeswehr-Episoden. ( Ossietzky-Magazin November 2012, www.medienverantwortung.de

Birgit v. Criegern

Dezember 2012 , Trend-Online-Zeitung 1/2013)Der Roman „Kriegsbraut“, der den Bundeswehreinsatz erzählerisch bebildert, kommt jetzt leider auch auf eine Neuköllner Kulturbühne Mit großem Ernst wurde von den Feuilletons der Tagespresse Dirk Kurbjuweits Roman „Kriegsbraut“ (Rowohlt Berlin-Verlag 2011) als ein Kulturwerk von Komplexität behandelt und für seine „Erzählkunst“ und für etwelche Eigenschaften hochgelobt. Sie sind leider heute schon gewohnt zu beobachten, solch homogene feierliche Rezensionen, die von etablierten Kulturforen Werken journalistischen Stils und flacher Ausarbeitung zuteil werden. Indirekten Unglimpf an literarischen Werken bedeuten sie, nach meiner Ansicht (weshalb ich, nach einem abgeschlossenen Literaturstudium, keine akademische Laufbahn wollte), an hochkomplexen Werken von tiefen menschlichen Einblicken, wie den Schriften einer Emine S. Özdamar, eines Hilsenrath, der überlieferten Literatur einer Bachmann, eines Döblin – an wehrlosen Büchern, denen heute oft auch von Akademien zugemutet wird, eingereiht zu sein neben solchem Tendenz-Kram. Das Buch „Kriegsbraut“ ist ein Roman, der den deutschen Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan emotional besetzt und in Episoden bebildert. Feuilletonisten, die solches feiern, müssen die Botschaft der großen Anti-Kriegsromane der Literaturgeschichte schlicht vergessen haben. Aber wer weiß, ob nicht ein skrupelloses Kulturministerium solches mal SchülerInnen vorlegt zur Pflichtlektüre? Darum zeigt sich eine ausführliche Darlegung dieses bürgerlichen Tendenz-Werks von übrigens kläglichem Stil notwendig.Journalistischer Stil – darunter verstehe ich hier u. a., dass Gegenwartsautoren ihren Stoff suchen bei den aktuell tagespolitischen Erörterungen, und des weiteren auch noch sich in der Gestaltung des Stoffes anschmiegen an den Wertekonsens, der grad` eben vom regierenden Regierungskabinett angesagt und von den Medien in ihren Verallgemeinerungen und Stimmungselementen ausgestrahlt wird. Anderes Beispiel: In 2007 veröffentlichte der Erfolgsautor Martin Mosebach „Der Mond und das Mädchen“ (Hanser-Verlag), einen Roman, in dem über abendländische Werte und die Folgen der Einwanderung muslimischer MigrantInnen sinniert wird- und zwar deutlich eurozentristisch sinniert wird. Hier ging es um die Perspektive eines deutschen erfolgreichen Bankangestellten in einem Umfeld migrantischer NachbarInnen, Tagelöhner, HändlerInnen und Prostituierte. Nahmen die deutschen Protagonisten Hans und sein Philosoph-Freund hier eine intellektuelle Position ein und entfalteten ihre Betrachtungen vor dem Phänomen muslimischer Zuwanderer, so erfuhr mensch nur eine Außensicht auf die migrantischen Figuren, die so stark befasst waren mit materiellen, kurzlebigen und auch devianten Geschäften, und erotisch fragwürdig noch dazu. Da mußte sich mensch fragen, ob denn Emine S.Özdamars grandiose „Mutterzunge“ ganz in der Versenkung der Feuilletons verschwand, schließlich legte dieses Berliner Buch schon vor 22 Jahren die Interkultur ans Herz und erschloss eine wunderbare Epik über die Erfahrung der „Gast“-Arbeitenden und eine neue Sprachkunst. Regressiv war, was Mosebach in 2007 mit seinem Roman darlegte. Tatsache wurde mir, nach wiederholter Beobachtung: Komplexe Werke werden in der neoliberalen Epoche vergessen, weggefegt wird ihre Botschaft durch neue deutsche „Leitkultur“-Büchlein. Da stellen neue Erfolgswerke Rätsel auf, wo die überlieferte Literatur längst Wege fand, und wo diese emanzipativ war, ergötzen sich die Heutigen am Stereotyp. Von der neuen Literatur, die heute in den großen Verlagen und Kulturforen gefeiert wird, ist keine gesellschaftliche Kritik an „leberwurstgrauem“ (May Ayim) deutschem Alltag zu erwarten. Mosebach schrieb seine Roman-Handlung entlang an der politischen Werteordnung – in der Zeit der deutschen Integrationsverordnungen mit dem Grundsatz „Fördern und Fordern“ (Integrationsgipfel 14.07.2006), welche eine migrantische „Selbstverpflichtung“, sich an eine deutsche „Leitkultur“ anzupassen, auferlegte. Ein prä-sarrazinisches Werk, das in 2007 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde.Das Muster der marktführenden und bürgerlichen Kulturerzeugung ist nicht raffiniert, sondern geprägt von der medialen Meinungs-Schleuder: Vermeint wird im heutigen Konsens von „Kultur“, dass große Literatur mit einem großen Gegenstand hergestellt wird, und wirklich groß, so wird geglaubt, sei ja, was auf den Kathedern des Bundestags landet! Und wenn beim Regierungskabinett Integrationsdebatte dran ist, so diktiert dies den Romanstoff, und wenn Terrorismusdebatte dran ist, wird eine terroristische Gefahr prägend für die Figuren des aktuellen Schriftstellers. Vergebens sucht mensch Kritik am heutigen Wirtschaftsregime mit seinen landraubenden und gegen Flüchtlinge abschottenden Schuftereien. Was ist das aber nur, dieses Erstickende und Beengende an dieser Art von „Größe“, die uns ständig aus den Feuilletons entgegenwettert? Es begegnet kein Underdog, überhaupt keine Randfigur des entsetzlichen Gewinnertums und auch keine Persönlichkeit von Lebenserfahrung gegen den Strom. „Schriftsteller sollen sich nicht darum, dass sie sich ans Großartige schmiegen, für groß halten, vielmehr in Kleinigkeiten bedeutend zu sein versuchen. Was dachte ich neulich darüber? Man müsse vom geringsten Gegenstand schön reden lernen, was besser wäre, als über einen reichlichen Vorwand sich ärmlich ausdrücken.“ So schrieb vor rund neunzig Jahren Robert Walser (im Band „Die Rose. Gesammelte Geschichten“, Suhrkamp 1986, S. 54), ein Meister der Literatur der ephemeren „Spaziergänge“, aber auch des menschlich-kommunikativen Unterschwelligen und der sensiblen Kulturbetrachtung.Mit dem Roman von Dirk Kurbjuweit „Kriegsbraut“ (Rowohlt Berlin Verlag 2011) dräut schon wieder ein „großer“ Gegenstand, doch: ausgerechnet das Thema des Afghanistankrieges. Kurbjuweit ist Spiegel-Mitarbeiter seit 1999 und Autor mehrerer Romane. Das tendenziöse und von der Presse so sehr belobigte Buch hat es jetzt auch zu einer Bühnenfassung gebracht, die in Berlin-Neukölln im November aufgeführt wird. Und in dieser Tatsache wohnt eine groteske Note. Neukölln ist ein Berliner Bezirk mit hohem Migrantenanteil, und offenbar glaubt diese Bühne, einen für Neuköllner Lebenswirklichkeit relevanten Stoff zu inszenieren. Aber die Bühne Heimathafen, bislang bekannt mit interkulturellen Theater-Aufführungen von teils satirischem, teils ernsthaftem Inhalt, der auch Straßenrealität zum Bühnenwerk verarbeitete, irrt hier und greift in ein Arsenal von blonden Pferdeschwänzen, Wurst-Frühstücken und Truppenübungen.Es eignet diesem Kriegsroman, dass er uns nicht etwa aufrüttelt und beunruhigt, sondern im Gegenteil, siehe die Rezension des Deutschlandradios: „`Kriegsbraut` ist ein sprachlich präziser, durch eine erzählerische Ruhe bestechender Roman, der keine politischen oder religiösen Debatten führt, sondern diese behutsam in die Figurenrede einbaut und so über den Krieg mehr zu sagen hat als Dutzende von Leitartikeln“. Noch haben wir hierzulande kaum Filme und Berichte von den Opfern der Bombardements in Afghanistan bezeugt, da wird unsere Vorstellungskraft von einem Schriftsteller derart schlecht bedient, dass er uns beruhigt!Die Bühnenfassung interessiert mich nicht, habe ich doch den Roman bereits angefasst: Überzeugt habe ich mich, dass er keinen interkulturellen Gehalt hat. Denn er birgt leider inhaltlich, was der Titel verspricht: Eine Bundeswehr-Geschichte, in der die Kriegführung der Bundeswehr in Afghanistan ausgeschmückt und illustriert wird mit persönlicher und emotionaler Besetzung dieses Soldatentums. Nicht erwähnt werden die wirtschaftlichen Motive bei dem deutschen Kriegseinsatz am Hindukusch, hingegen bruchlos akzeptiert ist hier die politische Begründung mit einem humanitären Einsatz gegen die Taliban, wie sie uns von Anfang an vom Bundestag geliefert wurde.So hat der Roman auch nichts an Reflektion aus migrantischer Sichtweise auf dieses Thema zu bieten, denn der Autor folgt hier, gemäß der Gepflogenheit von „Spiegel“-Journalismus, der Perspektive der nationalen Politik. Äußerst tendenziös ist, dass diese deutschnationale Sicht in den zahlreichen Dialogen der deutschen ProtagonistInnen- und eines einzigen afghanischen Sprechers- zur Geltung kommen darf, während sie in der Handlung an keiner Stelle ins Wanken gebracht wird von irgendeiner Opferstimme, die die Folgen vom militärischen Beschuss fühlbar machen würde- oder auch von der Beschreibung der Opfer in Verzweiflung, Hilflosigkeit und Verwundbarkeit. So darf dann tatsächlich sich der Satz „Niemand ist unbeteiligt, niemand unschuldig“ leitmotivisch in den Medien und auf der Rowohlt- Homepage wie ein Fazit verbreiten lassen.Aus deutscher Perspektive wird der Krieg erzählt- es ist die Perspektive der Protagonistin Esther Dieffenbach, die ihrem Leben eine Richtung geben will und deshalb als Bundeswehrsoldatin zum Kriegseinsatz nach Afghanistan reist. Was bringt sie bloß zu diesem Entschluss? Zunächst: Sinnlos schweifendes Dasein, das in Berliner Episoden geschildert wird. Esther streift unbekannt umher, nimmt ein Taxi, steigt in einer Pension ab.Sie erlebt nichts, noch nichts. Da geben Einzelheiten von Banalität das Gepräge ihres Umfelds, wie die Handwerker „im grauen Kittel und Latzhosen“, die im Frühstücksraum sitzen mit dem Zollstock in der Hand: „Sie teilte sich das Bad mit ihnen, konnte aber nicht klagen. Auch Jasper hatte es nie geschafft, alle Barthaare aus dem Waschbecken zu entfernen, und sie hatte kein Geld für eine andere Bleibe.“ (S. 19) Trockene Gedankengänge Esthers haften den täglichen Kleinigkeiten dicht an, das liest sich drollig. In dieser ereignislosen Zeit hat sie keinen festen Partner, weiß auch beruflich nicht weiter. Sie arbeitet dann in einer Bar und lernt einen der Gäste kennen. Der ist Filmemacher und steht in Kontakt mit Warner Brothers. Er hat „den ganzen Abend mit dem Deutschland-Chef des Verleihs verhandelt, weil er dessen Geld brauche, um den Film über die Riefenstahl machen zu können.“ (S. 21) Hier hat sich also ein Ereignis angebahnt. Thilo, der Filmemacher, will seit sechs Jahren einen Film über Leni Riefenstahl drehen (später soll es die Hermannschlacht sein), erörtert wird, ob die Darstellung eines küssenden Führers angebracht sei. Wir bemerken: Ein richtiger Bar-Kumpel aus dem „Spiegel“-Milieu! Und mit diesem Protagonisten kann Esther ihren Alltag verlassen, bevor sie etwelche Haltung in ihrer täglichen Monotonie entwickelt hätte -sie beginnt eine Liebschaft mit Thilo, bei Plaudereien, Erotik und mit einem schönen Dinner, wenn der Kellner sie mit knirschender Pfeffermühle bedient. Hübsch angerichtete Essen scheinen eine Vorliebe des Autors zu sein und werden öfter erwähnt. Der Handlungsstrang bietet also Sensationen als bewegende Motive, um Esther aus ihrer unberaten-schweifenden Zeit zu retten. So geht es weiter: Nach einer gewissen Zeit mit Thilo, in der sie immer noch über ihre berufliche Weiterbildung nachdachte, beschließt Esther, sich auf ein Werbeplakat der Bundeswehr hin zum Soldatentum zu rüsten. Nach der Vorbereitungszeit fliegt sie zum Hindukusch, wo sie auf ihren Truppeneinsatz wartet.Im Camp vertreibt sie sich die Langeweile bei Gesprächen mit den Soldaten und dem Truppenleiter, erzählt von ihrer eigenen DDR-Vorgeschichte, plaudert mit den anderen über Familie, Liebschaften und über persönliche Eindrücke angesichts der Gefahren. Und sie fährt auf Erkundungen in die Landschaft aus. Der linear durchgehaltene Erzählstil führt zur eigentlichen Liebesgeschichte hin: Esther lernt den afghanischen Schulleiter Mehsud kennen, und während ihrer wiederholten Gespräche verliebt sie sich. Eine Beziehung kann aber nicht angeknüpft werden, sondern wird von den Regeln des Krieges verhindert. Esther reist zurück nach Deutschland – um später doch wiederum als Soldatin nach Afghanistan zurück zu kehren. Mit einer scheiternden Liebesgeschichte bringt der Roman eine sentimental-ratlose Nuance auf. Doch es ist kein Anti-Kriegs-Roman sondern ein Buch, das den deutschen Kriegseinsatz rechtfertigt. Kurbjuweit selbst dazu in einem Interview mit der Katholischen Militärseelsorge:“Als Schriftsteller fälle ich keine Urteile, ich beschreibe. Als Journalist habe ich mich immer wieder für den Einsatz der Deutschen in Afghanistan ausgesprochen. Die deutsche Bevölkerung insgesamt ist jedoch skeptisch. Das führt auch dazu, nicht hinsehen zu wollen, sich mit dem Unwillkommenen nicht zu befassen. Die Soldaten sind aber in unserem Auftrag dort, das Parlament hat sie nach Afghanistan geschickt, und das Parlament repräsentiert die Bürger. Ich finde deshalb, dass wir den Soldaten wenigstens unsere Aufmerksamkeit mitgeben sollten, ein offenes Ohr und Auge für ihre Entbehrungen, Ängste und Dilemmata. “ (www.katholische-militaerseelsorge.de)Die politische Ausrichtung des Romanautors ist klar: Über die Tatsache, dass die deutsche Bevölkerung in Umfragen seit Jahren zu großem Anteil gegen den Kriegseinsatz war, stellt er die Tatsache des Regierungsbeschlusses- Gefolgstreue ist angesagt.Diese Gefolgstreue wird an der Figur Esther nun einigermaßen schmackhaft- in ihrem Kriegseinsatz widmet sie sich der Aufgabe, den Schulbesuch von Kindern zu gewährleisten. Und mit Episoden von alltäglichen Verrichtungen im Bundeswehr-Camp wird der Soldaten-Alltag zum erzählerisch tragenden Motiv.

Tendenziös ist diese deutliche Einseitigkeit in der Darstellung der Bundeswehr-Episoden, während zum Beispiel der Autor mit seiner dargebotenen Geschichte nicht im geringsten erwägt, Flüchtlings-Thematik als ein auch unter deutsche Verantwortung fallendes Ereignis zu skizzieren, sprich, auch ein Fluchtmotiv infolge von Destabilisierung durch den Militärschlag anzudeuten – und sehr genehm für die deutsche Regierung klammert er die Tatsache der afghanischen Flüchtlinge völlig aus, die in Deutschland in miserablen Lagern und Wohnheimen ausharren müssen und von Abschiebung bedroht werden.

Wie lautstark ist uns dieses Schweigen, wenn wir bloß mit offenen Augen durch den deutschen Alltag gehen!
Doch wen sollte diese selektive Sicht des Autors verwundern, war doch der „Spiegel“ nie Kriegsgegner. Im Gegenteil, das große Interesse dieser Zeitschrift seit 2001 an den Stimmungen in Bundeswehr-Übungscamps, die sich für den Nato-Militärschlag vorbereiteten, sorgte für seitenlange Reportagen mit heroisierendem Unterton noch und noch.

Ganz erstaunlich ist aber die Definition von schriftstellerischer Haltung seitens Kurbjuweit:

Er urteile nicht, er „beschreibe“ nur. Wie nicht gar. Die großen SchriftstellerInnen der Weltliteratur hätten nicht geurteilt, von Heine (der den deutschen Fürsten und Teutonen vom Exil aus seine Spott-Lyrik zuteilte), Heinrich Mann (der das kriecherische Untertanentum der Kaiser-Anhänger satirisch anpackte) bis Böll (der sich um die Ehre der Katharina Blum vor der Pressemeute sorgte)? Und die großen Anti-Kriegs-Autoren hätten nicht – und zwar beschreibend- geurteilt? Oskar Maria Graf, wenn er Erfrorene, Hingemordete und Wahnsinn schilderte in „Wir sind Gefangene“? Ernst Toller in seinen Jugendmemoiren, dessen Ich-Erzähler, vor einem Reststück von Leichnam stehend, erkennt, wie alle Menschen in ihrer Verwundbarkeit und Ärmlichkeit gleich sind? Kurt Tucholsky in seinen Gedicht-Appellen, die vor der Beschreibung einer Leiche nicht zurückscheuen? Oder der afrikanische Autor Ken-Saro Wiwa, dessen Soldat „Sozaboy“ am Ende seiner wohlgemuten Soldatenreise nur noch das Hinsterben und Verzweifeln der nigerianischen Brüder und Schwestern bekundet?

Sie haben dem Autor Kurbjuweit voraus, den Krieg selbst durchlebt und durchlitten zu haben, und eine kompromisslos humane Haltung im Appell Nie wieder Krieg! hinüberzuretten für Überlebende und Nachkommen.

Doch das ist nicht sein Fall. Ja sicherlich, wir wissen schon: Kurbjuweit würde es eher mit Hemingway halten als etwa mit Karl Kraus. Denn Hemingway,der wird in einem Dialog im Roman erwähnt. Nun, dieser hat sich seinen Manneskult in seiner eigenen Erfahrung im spanischen Bürgerkrieg erworben. Kurbjuweit schafft das jedoch mit ein paar Besuchen im Bundeswehr-Camp und an der Schreibtastatur.

Aber hätte er, Kurbjuweit, doch wenigstens wirklich intensiv sich der Beschreibung gewidmet, so wäre dies schon eine Leistung! Doch auch da läßt er die Leserschaft ja am langen Arm verhungern. In seinem Buch, das von Medien als ein packendes zeitgeschichtliches Werk gepriesen wird, fehlen doch etliche Beschreibungen: Es sind keine Verzweiflungsschreie und Klageschreie von verwundeten AfghanInnen zu hören, es ist kein Anblick eines in Ruinen stehenden Dorfes oder eines klaffenden Bombenkraters gegeben, es werden keine verwundeten und entstellten AfghanInnen begegnet. Kurbjuweit hat seine Figur nun mal mit dem Geschick ausgestattet, solchen Anblick nicht zu Gesicht zu bekommen.

In einer der wenigen Episoden, da wirklich von einem stattfindenden Gefecht berichtet wird, welch karge Szenerie: Der Boden bebt, Esther sieht „Staub, Feuer“. (S. 243) Aber wir bekunden keinen Schock vor dem Ergebnis von Waffengewalt, keine hinreichende Ahnung von der sinnlichen oder seelischen Wirkung, die Phosphorbomben, Streumunition, DIME- und Uranmunition am Menschen anrichten, würden sie erlitten oder auch nur als Augenzeuge mitverfolgt. Und diese Waffen, die bei dem Nato-Militärschlag Anwendung fanden, werden im ganzen Roman nicht einmal als solche benannt und eingeführt. Wir haben es nur mit dem säuberlichen „Wolf“, dem Panzer der deutschen Einheit, und den „Apachen“, den Hubschraubern der Amerikaner zu tun.

Es ist auch kein Blut zu sehen der afghanischen Opfer. Sondern, wenn uns Blut ausdrücklich in einer Beschreibung begegnet, so nur das der deutschen SoldatInnen! Eine ausführlicher geschilderte Verwundung betrifft die Soldatin Esther selbst durch den Kugelbeschuss der Taliban-Kämpfer.

Der Autor verschont uns auch mit einer intensiven Beschreibung von Leichen oder von verkrüppelten oder entstellten Menschen. Beinahe verschämt, so scheint es, geht der Erzähler hiermit um. Gemetzel oder, im sauberen Sprachgebrauch des Romans, „Gefechte“, gibt es nur wenige, und mehr wird hierüber geredet, als es erlebt wird.

Ein solches Gefecht wird ausführlicher geschildert, und da konfrontiert Esther tatsächlich direkt Tote, und wie gerät hier die Schilderung? Wie wird hier Kurbjuweit seinem Anspruch, zu beschreiben, gerecht? Nach dem Beschuss eines Gehöfts, bei dem sich Taliban aufhielten, erblickt Esther afghanische Tote, aber nur von hinten (!) (S. 243) , und: „So wie sie da saßen, war klar, dass sie Tote waren, klein, unvollständig, schwarz, reglos. Sie sah weg, bevor sie alles gesehen hatte. Ein Blick zum Hof, dann rannte sie zurück (…) “ (S. 244).

Er lässt hier Esther wegsehen, der Autor Kurbjuweit, der den Deutschen, die den Militäreinsatz in Afghanistan nicht unterstützen wollen, vorwirft, wegzusehen (s.o.)! Warum tut er das? Sehr wahrscheinlich doch, weil er selbst keine Leichen gesehen hat, und mit einer solchen erzählerischen Aufgabe, die Toten ausgiebiger zu schildern, überfordert ist. Wiederholen wir die vier Adjektive: „Klein, unvollständig, schwarz, reglos“. Dass Tote gewöhnlich reglos sind, zählt nicht zu beeindruckenden Neuheiten, verbleiben also drei Adjektive.

So ist auch den Rezensenten, die seine Erzählkunst so sehr preisen, entgegenzuhalten:

Nein! Eben verfehlt wurde sie, die Aufgabe, uns von Medienreizen verstumpfte KonsumentInnen versuchsweise in ein Vorstellungsvermögen zu bringen über das, was Kriegsgewalt bedeutet, was Getötetwerden und Zerschmettertwerden von bewaffneter Menschenhand bedeutet.

Ziemlich säuberlich sieht sich dieser Krieg doch an, bei dem Esther die meiste Zeit mit Plaudereien im Camp oder mit dem Schulleiter verbringt. Ausgiebig widmet sich der Erzähler auch kleinen Betulichkeiten: Hier reibt Esther ihre Haut trocken und cremt sich mit Feuchtigkeitscreme ein, dort geht sie zum Frühstücksbuffet, das im Briefing-Raum angerichtet ist, es gibt: „Wurst, Käse, Gürkchen, Brot, Butter, eine Terrine mit heißer Suppe…“ (S. 249).

Weil es übrigens das Jahr 2006 ist, das der Autor für den Einsatz seiner Soldatenfigur gewählt hat, hat er sich auch einer Verpflichtung entledigt, über den bekanntgewordenen späteren Skandal der Tanklaster-Bombardierung von Kundus schreiben zu müssen, bei der wissentlich ZivilistInnen mit unter Beschuss kamen und zu den siebzig Todesopfern zählten.

Verwiesen sei hier zwar, dass der Roman auch ein Eingeständnis von Schuld der deutschen Kriegführenden eröffnet in der Episode, in welcher Esther das Vorhandensein von Zivilisten verleugnet. Sie weiß von einer jungen Frau und zwei Kindern, die in einem Gehöft am anderen Flussufer leben, die sie dort zuvor gesehen hatte. Kurz darauf folgen Schüsse von jener Seite. Als sich daraufhin die amerikanischen Truppe zum Rückschlag bereitmacht, wird sie gefragt, ob sie Zivilisten gesehen habe. Esther verneint, wie es scheint aus Gedankenlosigkeit (in diesem Augenblick hat sie die Zivilisten nicht gesehen, weiß aber, dass sie noch dort sein könnten), und bei dem anschließenden Beschuß der gegenüberliegenden Seite werden „fünf Taliban“ und die Frau und ihre Kinder getötet (S. 244 f.). Das Bewusstsein von dieser Schuld wird ihr belastend bleiben. Vom Leser/ der Leserin wird dieses Ereignis wohl unter menschliches Versagen verbucht werden, nachdem die Identifikation mit der Bundeswehr-Soldatin von Beginn an geboten wurde, und Esther in ihrem Wunsch, zu lieben und mit Mehsud glücklich zu werden, als Sympathie-Figur in der Geschichte erhalten bleibt. Denn das trägt diesen Identifikationsroman: Die Botschaft, dass das Soldatentum eine menschliche Angelegenheit sei. Und über ihr menschliches Versagen erschreckend, wird die Soldatin Esther noch einmal so menschlich. Und wie viel mehr noch menschlich, als sie sich in Mehsud verliebt und bemerken muss, dass es im Krieg Regeln gibt, und dass diese Liebe nicht möglich sein kann!

Bei dieser romantisierenden Tendenz und bei soviel persönlich-menschlichen Episoden rückt die Politik hintan in der Perspektive (eine Tatsache, die von den Rezensionen begrüßt wurde).

Kurbjuweit bietet eine Liebesgeschichte aus deutscher Perspektive, nachdem das deutsche Militär zehn Jahre lang Krieg führte und politisch eine martialische Vormachtstellung und Gewaltausübung durchsetzte. Das politisch Angenehme des Buches dürfte darin begründet liegen, dass es zu dem Zeitpunkt erschien, da die Einzelheiten von den zerstörten Strukturen, von anhaltenden Selbstmordattentaten und von den militärischen Menschenrechtsverbrechen an der Bevölkerung zunehmend bekannt wurden, und das Regierungskabinett unter Merkel, sogar dieser anfangs so deutlich durchführungswilligen kriegswilligen Kanzlerin, einen Truppenabzug in Aussicht stellen mußte.

Um Politik geht es im Roman nur in den Plaudereien oder Gesprächen der Figuren – also in unverbindlichen Erörterungen, in denen auch das Flapsige und Situative zu Gebot steht. Und da geht es dann, in den Gesprächen zwischen Esther und Mehsud – der den Krieg angesichts der Taliban-Kämpfer für notwendig erklärt – um den Anschlag auf das World Trade-Center und über Unterschiede von Islam und Christentum. Mehsud führt aus, dass der Islam die Transzendenz als seinen eigenen Wert verbucht habe, das Christentum wiederum die Rationalität (welch einfache Wertaufteilung!), lässt gar eine Kritik anklingen, wenn er die Rationalität des Christentums bespricht – „ihr kauft euch euer Paradies zusammen, und je mehr ihr gekauft habt, desto größer ist eure Angst vor dem Tod. Wenn ihr sterbt, verliert ihr das, was ihr für das Paradies haltet. Wir gewinnen es. Das ist der Vorteil der Transzendenz…Das hat Atta erkannt: Wenn der Islam den Westen herausfordern will, muss er ihn bekriegen, da hat er einen Vorteil“ (S. 235) Wir hören aus diesen Erörterungen den Dauerbrenner heraus, der den „Spiegel“ stets interessierte, und der unter dem Titel „Wie gefährlich ist der Islam?“ behandelt wurde. Zwar gibt es ein interaktives Moment, wenn sich im Roman die beiden Figuren unterschiedlicher Religionskulturen ineinander verlieben- doch das bleibt romantisches Element, wenn in ihrem Gespräch sich wiederum eine simple Rollenzuweisung von „wir“ und „ihr“ formuliert.

Wenn wir nach einer moralischen Quintessenz suchen, nämlich der Schuldfrage, müssen wir andere Gespräche Esther-Mehsud konsultieren. Dass die Talibankämpfer das Land mit Verschleppungen und Destabilisierung erschütterten, wird von der Figur Mehsud ausführlich berichtet, aber dagegen finden Misshandlungen und Ermordungen von Nato-SoldatInnen an der Bevölkerung keine Ausführung. Und in der am meisten verdichteten Schuld-Erörterung im Buch dürfen sich uns die Haare sträuben darüber, wie wenig komplex sie ausfällt:

Mehsud beruhigt Esther über ihren Militäreinsatz: „Die Deutschen haben so viel Schuld auf sich geladen, dass sie schon ein bisschen mehr nicht aushalten können…Niemand ist so wie die Deutschen, die Deutschen sind die nettesten Soldaten der Welt, sie schießen nicht, sie winken. Weil sie denken, dass sie unschuldig bleiben, wenn sie winken. …Wenn sie den Mohnbauern zuwinken, statt ihre Felder abzubrennen und sie zu erschießen, gibt es billige Drogen in Deutschland, an denen die deutschen Kinder verrecken. Ist das Unschuld?“ (S. 175)

Kein Mitleid also mit den Mohnbauern! Was ist mit den deutschen Kindern? Bauen die Mohnbauern keinen Mohn mehr an, so bleiben die deutschen Kinder am Leben. Hat Kurbjuweit obiges Statement wirklich von einem afghanischen Sprecher gehört, oder legt er Mehsud nicht eine deutsche politische Rechtfertigung in den Mund? Ja doch, packen wir das Übel an der Wurzel und fangen bei den Mohnbauern an – an der vermeinten Wurzel, während die großen Drogenkartelle, von den schwerreichen Händlern in einem Filz mit Politik und Wirtschaft kontrolliert, weiter nach Kundschaft Ausschau halten! Und dann der Wortabtausch ebendort: „Wer unschuldig sein will, muss zu Hause bleiben.“ –“Aber wer zu Hause bleibt und zusieht, wie in Afghanistan ein neuer Bürgerkrieg ausbricht, macht sich auch schuldig.“- „Einigen wir uns darauf: Solange es Afghanistan gibt, ist niemand unschuldig“.

In solchen Sätzen wird simplifiziert, bevor überhaupt ausgeführt wurde, was militärisches Eingreifen an Gewaltausübung mit sich bringt. Ohne dass überhaupt erwähnt wurde die Zahl der Opfer, der geschätzten 70 604 Menschen mindestens, die – inklusive NGO-MitarbeiterInnen, afghanischen Sicherheitskräften, ISAF und OEF-Soldaten bis August 2011 ( Bericht der IPPNW „Body Count- Opferzahlen nach zehn Jahren Krieg gegen den Terror, – ums Leben kamen.
Kein Gedanke in diesem „Schuld“-Dialog an die längst von soziologischen Stimmen und von FriedensforscherInnen formulierte These, dass eine Gewaltspirale beschleunigt wurde, die nicht durch noch längere Militärgewalt zu enden ist. Keine Erwähnung auch von Ressourcen, die eine Rolle in diesem Krieg spielen könnten und von einem deutschen Motiv – das Präsident Köhler erfreulicherweise offen aussprach-, am Hindukusch aus wirtschaftlichen Interessen die Vormachtstellung militärisch zu behaupten.

Nein, für Kurbjuweit steht fest: Wer zuhause bleibe, mache sich schuldig- wer nicht den Gebrauch der Panzerfaust, die Anwendung von Streumunition und Urangeschossen lerne, der mache sich schuldig.

Also, die Folgerung für die/den LeserIn: Der Krieg müsse weitergehen, bis endlich Ordnung hergestellt sei – eine Durchhaltemoral der deutschen Regierung, die wir aus ihren Bundestagserörterungen schon kennen, und die hier einfach wiederholt wird.

Auf vier Buchseiten steht diese magere Schuld-Erörterung. Auf fünf Buchseiten jedoch widmet sich der Autor einer anderen Art von Gesprächsführung: Einem Besäufnis-Dialog der SoldatInnen in ihrer Stube, die eine Flasche Wodka leeren und anhand einer Puppe, die sie „Fatima“ nennen, Witze reißen. Zoten aus dem Bundeswehrlager zählen nun mal auch zu Reizen aus den Stimmungsberichten und zum „Spiegel“-Jargon, der hier wieder zur Geltung kommt. Die Soldatinnen, Fantasien über „Fatimas“ Leben spinnend, werfen ihre Projektionen auf die Puppe. Vor der Tatsache, dass keine afghanische Frau in dem ganzen Roman eine Stimme erhält, ist diese stimmlose Fatima als Objekt der Afghanistan-Projektionen und hemmungslosen Klischees der deutschen SoldatInnen höchst interessant. Zuerst dichten sie ihr eine Familie mit acht Geschwistern an, dann eine Zwangsheirat, dann sexuelle Einzelheiten, eine Abtreibung mit einem rostigen Nagel und noch mehr niveaulose Dinge, die hier aus menschenverachtendem Bundeswehr-Jargon ganz einfach reproduziert werden. Die Stimmlosigkeit „Fatimas“, der Puppe, dürfte KulturforscherInnen interessieren, die über das besprochene und stimmlos gemachte Objekt in der rassistischen und kolonialen Praxis publiziert haben, wie Mita Banerjee im Essay „Ethnizität als Buhfrau der Nation? Über disziplinäre Umwege und die (Un)möglichkeit ethnischer (Selbst)Artikulation“(im Buch „Re/Visionen. Postkoloniale Perpektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Unrast-Verlag 2007) oder Kien Nghi Ha (mehrere Essays im gleichen Buch).

Die zugeführten Beleidigungen werden im Roman nicht etwa später, an einer anderen Stelle, gesühnt und beantwortet von einer afghanischen Stimme, womit der Erzähler eine Gleichbehandlung der Sprecherrollen herstellen würde. Nein, Kurbjuweit möchte mit diesem Primitivismus des Bundeswehr-Jargons einfach eine weitere Sensation anbieten.

Ergo ist dies nichts weniger als ein interkulturelles Buch. Es ist eine beschönigende Leistung zum Thema der deutschen Kriegführung in Afghanistan und ein Unding in der Kulturlandschaft. Zu hoffen ist, dass jugendliche LeserInnen darauf nicht reinfallen, sondern sich lieber für ein Dasein in Niveau und respektvollem Umgang mit Menschen entscheiden, und sich von der Bundeswehr fernhalten.

Doch über das Thema des Afghanistankrieges müsste transportiert werden, wovon wir noch nahezu nichts gehört haben, nämlich die Stimme der afghanischen Opfer von Militärgewalt, anstelle eines Fiktionsromans von deutscher Stimme über einen Krieg, den obendrein der Autor nicht selbst durchlitten hat. Die Mitteilungen der Überlebenden müssten in Wirklichkeit interessieren, wenn wir noch des Interesses fähig sind.

Angenehm für die politische Ordnung dürfte es jedoch sein, das Identifikationsangebot mit der Figur Esther! Esther, die hier vermeintlich in einen Irrtum tappte, stellt den guten Glauben der SoldatInnen unter Beweis und steht damit ein Stück weit ganz einfach für den Inhalt von Aufrichtigkeit und Treue, den die Bundeswehr in ihrer Propaganda täglich verbreitet. Und in dieser apolitischen Darlegung über einen politisch brachial durchgesetzten und durchgehaltenen Krieg wird die heutige lügenhafte Werbung der Bundeswehr bei Jugendlichen in keiner Weise angeprangert. Wirbt diese heute doch an Schulen und selbst in der Teenie-„Bravo“ mit vermeintlichen Beach-Parties und Sportvergnügen- Kurbjuweits Schilderung verharmlost die Bundeswehr durch Verschweigen von der kalkulatorischen Politik.

Und verschweigt des weiteren in der politisch willkommenen Darstellung die brachiale Wirtschaftsordnung, die die deutsche Militärpräsenz in den Ländern des Südens für ihre Absicherungsmöglichkeiten profitbringender und monopolistischer Art will.

Jedoch, da die deutsche Kulturlandschaft sich längst gewöhnte, mit kritiklosen Erzeugnissen ständige Selbst-Bestätigungen an die gesellschaftliche Ordnung auszuteilen, und die daraus folgende Langeweile zugleich mit Sensationen zu würzen, so muss sie dieses sudelnd schweigende und verschweigende Buch eben auch respektieren und gar belobigen.

In Subkultur und Nischenkultur verbleibt die Literatur von menschlicher Selbstbehauptung gegen die höhere und systematisch rüstende Gewalt, auch von menschlich körperlichem Erleiden der abstrakten Verordnung. Ferne liegt den Polit-Illustratoren zum Beispiel die Schilderung eines Menschenschicksals unter alltäglich herrschender Ignoranz – etwa mit Blick auf die deutsche Abschottung gegen Flüchtlinge aus den Kriegen. Da wäre viel zu benennen, da wäre ganz einfach ein Abschiebestopp zu fordern.

Nein, erzählerisch oder packend sind sie nicht, die Illustratoren der „großen“ Politik. Anstatt Schicksale zu erzählen, zeigt Kurbjuweit das Bestreben, die Bundeswehr und den Afghanistankrieg in einen linearen und seichten Ablauf zu packen, der wesentlich von Plaudereien bestritten wird, und damit den Krieg fassbar zu machen. Vor so viel Fassung sind wir fassungslos. Das Unfassbare muss unsere schlafenden Sinne beunruhigen, muss uns herausfordern zum Scheitern unseres Vorstellungsvermögens –zum bewussten Scheitern. Es geht nicht darum dass wir uns den Krieg gut vorstellen können sollten, sondern unser Weniges an Vorstellung vor dem Phänomen Gewalt sollte uns aufdämmern. Das wäre viel. Selbst wenn wir wissen, dass wir uns das Unfassbare nicht vorstellen können, wissen wir mehr, als wenn wir es gar nicht versuchen. Und gelangen dann hoffentlich, endlich, zur einzigen Forderung: Schluß mit diesem Militäreinsatz, und nie wieder Krieg!

-2012

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