Birgit v. Criegern
Erkenntnis
Spät hab ich `s kapiert, als Egon, Aktivist aus Argentinien
in Berlin erzählte an jenem Info-Abend im Jahr zweitausendneun.
Er erzählte von den Fabrikbesetzer*n in Argentinien, die dort seit Jahren die Produktion selbst führten
in der Fabrik Zanon,
gleichberechtigt und ohne Hierarchie: Politik hat eben nicht ihr Interesse.
Sie kamen zusammen, sagt Egon: regelmäßig, aber ohne starre Regel, über ihr tägliches Tun, beim Fußball beispielsweise, und berieten sich und beschlossen, die Fabrik Zanon zu besetzen,in der sie vorher zu schlechten Bedingungen angestellt waren.
Als sie Zanon besetzten, wurden sie unterstützt von den Anwohner*n des Territoriums, und sie lieferten Material und Waren aus ihrer Produktion und unterstützten die Anwohner*n des Territoriums.
So wurde ihr Arbeiten in der Fabrik solide durch gegenseitige Hilfe. So produzieren sie nun seit Jahren weiter, Beschlüsse fassen sie in den monatlichen Treffen auf den Asambleas im Freien, versammelt beim größten Baum im Ort.
Hierarchielos besprechen sie sich, so, wie sie sich vereint hatten, um ihr Leben zu verbessern, jenseits von Gewerkschaften und Parteien:
Politik hat nun mal nicht ihr Interesse.
…da hab ich das
zum erstenmal verstanden…
—
Europa
1.
Mit Staub unter den Sohlen laufen wie die Dichterin May Menassa[1]
müsste ich und müsstest du: abtun die Vehikel, Bus und Pe Ka We
und laufen, nicht barfuß, nicht belastet oder gehetzt, aber: mit Staub unter den Sohlen,
du und ich auf Highways und Autostraßen, am Rande der rauschenden Straßen
zu den Küsten dieser lang gewohnten Länder der Festung Europa.
Kein Navigator oder Netzplan sollte uns stützen,
kein Te Je Ve, keine Karosse uns befördern.
Erfahren, erlaufen, ersehen müssten wir wieder Landschaft und Leben,
und Dunkel und Hell einfassen ins nackte Auge: ermessen
Felsbrocken und Regenschlamm, Wachposten mit Nato-Draht,
Flutlichter, Trassen der europäischen Grenzplaner.
zu Fuß tappen müssten wir an den zerklüfteten, zerstückelten, zerrütteten Ufern,
frei schweifen im kalten Wind der einzäunten Gelände.
Vereinsamen müssten wir an unseren bekannten Stränden,
bis wir die Blicke der Anderen finden: Neuland
in den Augen anderer Fußgänger*.
Fußnote [1] May Menassa, Journalistin aus Frankreich, geboren in Irak. Sie verstummte bei einer traumatischen frühkindlichen Erfahrung, als der Bürgerkrieges in ihrem Dorf zu gewalttätigen Ausschreitungen führte, bei denen die Mutter umgebracht wurde. Aufgewachsen in einem Jugendheim, bahnte sich May Menassa ihren Weg zum Sprechen als Journalistin, wie sie sokumentiert in ihrem packenden Lebensbericht „Intacal al rubar wa amshi“ Beirut 2006 .
2.
Ein Problem sehe ich darin, dass mensch in der Welt nicht mehr gehen kann,
sondern eher noch surfen.
3.
Was ist unwegsamer als das Unwegsame,
frage ich mich, wenn ich die Geschichte von Odysseus lese,
diese sicherlich nicht übertriebene Geschichte des Mannes,
der sich einen Weg bahnte über Gewässer der Ägäis
ins Unbekannte, die Verleumdung im Rücken,
und der nichts Schlimmeres erfuhr als die Begegnung mit
Zyklopen und Sirenen, heute
würde er diese Gewässer nicht wieder erkennen,
FRONTEX durchpflügt sie Tag und Nacht,
Helikopter kurven darüber hinweg für Risk-Analysis-Projects,
und den Menschen, die aufbrechen von den Küsten Vorderasiens
und Afrikas
hilft keine List, da hilft keine List,
wo die Feindseligkeit wie der wind im Gesicht ihrer wartet.
Wäre es nur das Wasser, wäre es nur das Wasser,
und nur göttliche List, die einlädt zum fairen Kampf,
wäre es dies nur,
was sich ihnen entgegenstemmt auf ihren klugen umsichtigen Wegen,
was ihnen das ehemalige Abendland entgegenstellt!
4.Fliegende Notizen: Fassungslos und halbwahr
Sie landen an den Küsten von Lampedusa oder Lesbos, / Geflüchtete, die aus den Hungerregionen kommen
und aus dem Krieg./ Manchmal sehen wir im Fernsehen/ Mitarbeiter*n vom Roten Kreuz/ und erschöpfte Menschen, die in Aluminium gewickelt werden./ Auch Särge/ wurden seit zweitausenddreizehn gezeigt auf den Fernsehbildern,/ die große Bestattung von dreihundertfünfzig Toten/ im Oktober zweitausenddreizehn/ woraufhin, vierzehn Tage später das europäische Parlament/ beschloss, EUROSUR stärker auszurüsten: High-Tech, Infrarotkameras/ Helikopter,/ um Fluchtbewegung schneller aufzuspüren, Kontrolle aufzurüsten,/ die, beiläufig behauptet,/ doch auch lebensrettend sei.
Und dann besiegelte das europäische Parlament/ Wochen später die Schande Europas, / indem man beschloss, das Rettungsprogramm Mare Nostrum/ einzustellen, weil / es doch nur das Schleusertum ermuntere!
Das große Sterben im Mittelmeer/ an den europäischen Außengrenzen geht weiter,/ fassungslos schauen Rettungskräfte in die Kamera,/ wenn das Fernsehen filmt. Fassungslos oder erschüttert dreinzusehn,/ bleibt uns Europäer*n noch, wenn wir/ handlungslos sind,/ uns selbst die Hände binden!/ Und die Fassungslosigkeit inszenieren besonders gerne/ große deutsche Fernsehsender/ bei weinerlichen Journalist*enstimmen/ ohne auch nur ein paar Takte weiter/ zu reden von den vertanen verschleuderten Möglichkeiten/ der Politik/ die Lebensgefahr zu bannen, die Katastrophen einzu dämmen/ mit gesetzlichen Änderungen/ mit geöffneten Fluchtwegen/ mit geöffneten Köpfen!
Fernsehbilder von Lesbos oder Lampedusa: / Hier wird manchmal ein Boot von manchen Menschen gerettet,/ von zivilen Streifen oder vereinzelten Schiffen,/ aber an anderen Tagen/ werden Boote in libysche Gewässer oder nach Tunesien zurückgedrängt/ dann ohne Kameras, ohne/ Pressekonferenzen. An den Ufern von Lampedusa stehen öfter/ journalistische Teams bereit, zeigen atemlose junge Gesichter afrikanischer Flüchtlinge,/ fangen auch die Worte auf,/ wenn Erschöpfte berichten von ihrem Fluchtweg/ bis von Sudan, Eritrea, Nigeria….
Aber sie berichten nichts,/ die großen Fernsehsender Zett De Eff oder Phönix,/ über Dublin II und III, fatale Politik:/ darüber, dass Malta manchmal Hilfe unterläßt,/ um nicht zuständig zu werden für Gerettete, für Bootsflüchtlinge/ nach borniertem europäischem Gesetz. Sie berichten nichts vom Dublin-Gesetz/ in seiner langjährigen leidenbringenden Wirkung/ und nichts von der Wirkung des Wortes kriminell,/ das EU-Politiker seit Jahren streuen,/ brandgefährliches Wort, auf Flüchtlinge angewendet,/ das weiterschwelt, international verbreitet/ in Ressentiments/ und Meinungsmache/ ohne Hert oder Verstand.
Die große Presse, die großen Portale schweigen/ von der Kritik der Hilfsorganisation Borderline Europe: Mit EUROSUR könnten lebensgefährdende Manöver zunehmen.
5.
Fliegende Notizen: Zehn Jahre Festung Europa:
Geschätzte vierzehntausend laut Flüchtlingsorganisationen im Jahr Zweitausendzwölf,/ vierzehntausend tote Flüchtlinge, gestorben beim Versuch/ über das Meer nach Europa zu gelangen. Vielleicht viele Tote mehr im Dunkel./ Zu welchen Zeiten? Immer, regelmäßig/ muss mensch vielleicht sagen, und auch unbemerkt./ In 2005, indymedia und dann auch zögernd bürgerliche Zeitung:/ sechzehn Menschen wurden getötet beim Ansturm auf den Zaun/ in Melilla.
Teneriffa im April 2007:/ Ein Blick auf die Website von Noborderistas:/ denuncian Noborderistas/, denuncian en Teneriffa/ se produjo una imprudencia o neglegencia/ que es necessario investigar./denuncian a Salvamento Maritimo! Se produco/ una imprudencia/ una Imprudencia o neglecencia/ que es necessario investigar! Ein Flüchtlingsboot wurde von Patrouillen abgedrängt,/ siebzig Menschen ertranken in den Fluten.
„Borderline-Europe“ berichtete im Oktober zweitausendsieben:/ Vor der griechischen Insel Samos/
sind vermutlich 17 Flüchtlinge ertrunken./ Ihr Boot war beim Versuch gekentert, die Meerenge zwischen der Türkei/ und Griechenland zu überqueren. In demselben Monat / berichtete die Tagespresse/
über einen zufriedenen Minister Schäuble:/ Die Grenzsicherung in der Slowakei gehe gut voran.
Griechenland in 2008, Proasyl appelliert: / Küstenwachen zerstechen Boote/ von Geflüchteten, nehmen Trinkwasservorräte weg,/ setzen die Menschen auf Steininseln aus. Elias Bierdel von der Seenotrettung Cap Anamur/ hält einen Vortrag/ in einer kleinen Veranstaltungshalle in Berlin-Friedrichshain,/ zeigt Fotos vom Friedhof/ von Lampedusa, in Zweitausendacht:/ Es ist nicht genug Platz für die Toten: Man bestattet
Flüchtlinge unter Gehwegplatten. Zweitausendacht, ein Blick auf die Website/ der Bundeszentrale für politische Bildung./ FRONTEX gewinnt zunehmend an Bedeutung:/ Umfaßte das Budget im Jahr 2005 noch rund 6 Millionen EUR,/ belief es sich 2007 bereits auf ca. 35 Millionen EUR. Denken wir nach, überlegen wir/ Was bedeutet das für die europäische Volkswirtschaft, fürs geforderte Wachstum, dem/ man zu anderen Gelegenheiten die Fanfare bläst/ weil uns dies Wachstum so gut gelingt,/ weil unsere Sektoren für Rüstung/ Überwachungstechnik mit Software/ Personal und Forschung/ boomt und boomt…
Die tunesischen Fischer, die Flüchtlinge retteten,/ kommen vor Gericht in Agrigent in zweitausendzehn,/es wird Jahre später in Freispruch enden. Doch ihre Existenz war zwischenzeitlich/ ruiniert worden: Ihre Boote von der Polizei zerstört. Und weiterhin die Berichte in der Presse/ von einem gekenterten Flüchtlingsboot/ vor Spanien unter ungeklärten Umständen. / Flüchtlinge landen in Griechenland an./ Tote werden aus den Booten geborgen/ neben denen, die noch am Leben, entkräftet sind. Oktober 2013 , ein Boot kentert mit dreihundert Menschen/ vor Lampedusa. Acht Tage später ein weiteres,/ in dem vermutete sechzig Menschen starben.
Die Presse filmt die Leichen./ Helfer*n aus verschiedenen Ländern Europas machen sich auf den Weg.
Dublin drei wird im EU-Parlament befestigt. Immer noch bleibt die Regelung/ bestehen, dass Asylsuchende in dem Land bleiben sollen, auf das sie/ zuerst den Fuß setzten: Ergo in den Randstaaten, den / überlasteten Mittelmeerstaaten. Und so hält der Ticker weiter an/ man meldet weitere Tote./ Der Papst Franziskus schreibt das Wort vom Menschenmüll./ Der Schriftsteller Nuruddin Farah verfasst seinen Appell „Unbarmherziges Europa“ und fordert ein Ende mit der Abschottung./ Doch wer fragt nach ihnen im Parlament? Der Ticker geht weiter,/ Europa- das große Sterben und ein krampfhaft bemühter Wachstumsbegriff/ im Innern der Festung.
6
Fliegende Notizen: Welche Seele hat ein Recht auf Ruhe?
Die Toten, die nicht bestattet sind,/ irren für immer umher,/ sagt die Mutter einer Toten im Film Zulu-Love-Letter / von Suleman Ramadan,/ und sie will/ auf die Suche gehen nach der ermordeten Tochter,/ ermordet als Widerstandskämpferin / in einem politischen Konflikt fern in der Großstadt,/ um sie zu bestatten, ihre Seele heimzuführen zu den Ahnen. Unruhig, beklemmend entsteht mir/ unklarer Gedanke:/
Was wird aus den Toten,/ Menschenmenge Ertrunkener aus den armen Ländern,/ gestorben, erstickt in den Fluten/ an den EU-Außengrenzen,/ ohne Bestattung, ohne Zeremonie und Gedenken?/ Wohin gehen denn die Seelen/ ohne Kaddisch, ohne Heimführung ihrer Lieben? / Wenn Bestattung ein Luxus sein soll allein für die Menschen mit Paß!/ Und wie sollen wir leben/ wie möchten wir leben/ und gelebt haben/ wir Europäer*en/ ruhig , unbeirrt?/ in gleichem Tempo und Tun?/ während den Jahrzehnten des Sterbens, während der Uhrzeit des Umkommens? Und wie verdienen wir / ein Recht auf Ruhe/ für unsere Seelen/ wenn wir im Diesseits schon/ so ruhevoll sind/ während der Stürme an Leiden/ Leiden der Anderen?/ Welche Heimführung wohin? / Wie verdienen wir Heimführung, wir Europäer*en, wenn nicht sie/ vom afrikanischen Kontinent? Was für Menschen sind wir,/ wenn wir all das/ hinnehmen/ und wenn wir das hingenommen haben?
B.v.Criegern
Erinnerung
B.v.Criegern
(Ein Jahr vor der großen Flut) Hassan,
Berber in Tiznit,
wacher Blick und kernige feste Wangen,
schiebt sein Rad. Allez, ich zeig dir
die Altstadt!
Später Hinausspazieren.
Auf Vaters Landstück serviert er mir Tee.
Sprechen mit leisem Lächeln,
wir reden (Tafoukt heißt Sonne) von seinem und meinem Leben,
er erzählt von Freunden in Paris und von der Töpferwerkstatt.
Ich erzähl vom Leben in Berlin.
Tanmight, Hassan! Sanfter Humor Ende zwanzig
(Null Selbstdarstellung). Aber ernst teilt er mit,
er will reisen, bald, nach Stanbul.
Und au lendemain im Busbahnhof:
Weißt du, dass Freunde wegbleiben
wenn Erfolg versagt: Das nervt. Ich nicke
und reise aus der Ehrlichkeit
zurück
ins Land keiner Begegnung.
—–
Droge Immergleich
Sing nicht dein Bringtjanichts
Gehtnjanicht, die Litanei
Unbewegter, die doch traurig sind.
Ist das einzelne Wort wertlos, Widerwort warm von Atem,
Funke aus wachem Auge, Kritik?
Dann auch Ozean und alles.
Auf der Bahn ihrer gleichen Gültigkeit
rasen sie fort ins All, suchen neue Horizonte
fürs gleiche Geschäft und Absatz: Die Erfolgreichen
für Aufschwung, auf global geplayt,
Produktion des Gleichen,
Schablone gleich Schablone.
Optimistisch eskapistisch:
Die Giganten des Schweigens,
Hydra des Wachstums: materiell unverwundbar,
kranken aber an Einzigem,
einzigartigem eigensinnigen Wort,
Stimme Mensch.
BvC.
—
Frauen auf ihrem Weg
Marietta1, seit zwanzig Jahren in Europa,
ohne Arbeitserlaubnis hin- und hergeschoben
von einem Lager ins andre.
Ihre zornigen Worte:
Die Deutschen sagen mir manchmal, wir sollten
doch froh sein über das Essen in der Aluminiumpackung,
wir würden doch materiell versorgt.
Die Deutschen heben Münzen vom Boden auf,
sagt Marietta
ich schaue sie an:
Kleingewachsen
das Kreuz durchgestreckt,
Kopf erhoben, Blick gerade,
ein unauslöschlicher zorniger Humor
in den Augenwinkeln
nach zwanzig Jahren Lagerleben:
ein Stolz, der beschämt.
Ebla2 kam aus Liberia
und blieb in Berlin im Flüchtlingslager
in der Motardstraße im Industriegebiet
seit einem Jahr in der Motardstraße.
Fünf Blechcontainer im Industriegebiet.
Über die Dächer hinwegzieht
die graue Wolke vom Stromkraftwerk Vattenfall
Ebla hat Kopfschmerzen und morgens
wenn sie vor den Spiegel hintritt rinnt
etwas blut aus der Nase.
Khawla3 wohnt auch in der Motardstraße,
sie ist Professorin für Literatur aus Bagdad,
geflohen vor dem Bandenkrieg
nach dem Beginn des US-Krieges gegen Irak,
bei den Drohungen der Extremisten,
sie müsse aufhören zu unterrichten.
Für ihr Gegenüber hat sie ein
warmes geduldiges Lächeln .
Aber der Arm ist immer noch nicht geschient,
der rechte Arm: ein verkümmerter Kinderarm,
den hat sie sich gebrochen auf der Flucht
vor Monaten in Bagdad.
Ein deutscher Arzt hat den Arm angesehn,
doch ein deutscher Gips wurde noch nicht angebracht.
BvCriegern
2007-2009
(1) (2) namen geändert.
lager möhlau
die plattenbaukaserne im wald, drei kilometer entfernt vom dorf raguhn:
flüchtlingsheim möhlau
in sachsen-anhalt
ein altes kasernen-gebäude, seit der wende nicht renoviert nicht abgerissen
es ragt aus dem bestand von büschen und bäumen auf
neben zwei baracken, deren fenster
provisorisch vernagelt sind
zweihundert flüchtlinge leben in dem plattenbau,
davon zahlreiche kinder und jugendliche aus bosnien, aus russland, aus ghana, aus sierra-leone
in den engen treppenaufgängen der gelbliche fußbodenbelag aus nva-zeit
die grauen und verkeimten wände die türen aus altem sperrholz, die löcher aufweisen
draußen auf der versiegelten betonfläche toben die kinder herum
weil sie keinen fahrschein haben um in der stadt die spielplätze zu besuchen
oder die einkaufscenter anzuschauen
in der nacht hört man die wildschweine erzählt einer, der seit jahren hier wohnt
er hat von deutschland nichts kennengelernt
als den deutschen wald.
wenn du krank wirst kann es drei tage dauern, bis
der arzt kommt,
erzählt ein anderer.
zuerst muss der krankenschein beantragt werden
dann muss der krankenschein bewilligt werden
dann kann der arzt gerufen werden
dann kann der arzt kommen
zwanzig kilometer aus dessau
oder dreißig kilometer aus wittenberg.
die bewohnerInnen des flüchtlingsheims möhlau
schrieben einen offenen brief an das landratsamt
sie forderten wohnungen in der stadt. ein sprecher des landratsamtes
meinte gegenüber der zeitung: die schilderungen der bewohner in bezug auf möhlau
wären überzogen.
ach, hätten sie denn, die frauen aus dem kosovo,
die die wäsche im hof aufhängen und die männer, die zu fuß
kilometerweit zur ausländerbehörde gehen
für die duldungsverlängerung auch noch die zeit gemeinsam einen
überzogenen brief zu schreiben? b.v.criegern -august 2009
tote ohren/ oreilles mortes
aux oreilles mortes aux oreilles mortes
tout peut-etre dit
aux oreilles mortes rien n`est inouie
rien n`est inouie
in toten ohren ist immens viel platz
alles rauscht ratz fatz
diese spunde hinab
y a de l`espace y a de la place
vaste
gloug gloug gloug
ca s`en fout
gloug gloug
ca se perd dans la bonde dans le trou
in muschelsteinohren ist nichts unerhört
das geht verloren wie im spundbecken
alles darf ich sagen an allen tagen
gluck gluck gluck
in muschelsteinohren
in immenser tiefe im leck
gluck gluck
gluck und weg Birgit von Criegern -november 2009
—-
In der Stadtoase
von Birgit v. Criegern
Nachmittage in der Berliner Monade, Seligkeiten
zu zweit
unter der Ruheglocke
in der lächelnden Stadtoase
hören wir die Teegläser klirren und
sehen den Enten zu am Kanal.
Fernab von Bodengefechten und Hurrikanes sind wir
determiniert zu Gesprächen über neueste Katastrophen,
frei nur hierin: Zynismus zu verwerfen.
So verengen wir die Augen und probieren einen geraden Blick
im gekrümmten Raum.- 2010
Nell`oasi cittadina
Traduzione: Cristina e Giovanni Bataloni
pomeriggi nella monade berlinese, felicità
a due
sotto la campana del silenzio,
nella sorridente oasi cittadina
sentiamo i bicchieri del the tintinnare e
vediamo le anatre sul canale.
Lontano da combattimenti e uragani
siamo determinati a parlare delle ultime catastrofi,
liberi solo in questo: rigettare il cinismo
cosi strizziamo gli occhi e proviamo a drizzare lo sguardo
nel ricurvo spazio. (traduzione 2011)