Ein Kosmopolit. Erzählung

Ein Kosmopolit

Birgit von Criegern

Damals, als ich mich profilieren wollte…von Ehrgeiz erstarrt saß ich da und brachte nur Fragmente aufs Papier- auf einen Notizblock, mit Kugelschreiber. Ich war ja erst sechsundzwanzig, später fand ich, dass es darum ginge, das gute Leben zu verteidigen, und möglichst nicht sich und andere zu beschädigen…eine schwierige Sache an sich schon, schlidderig und eislaufkunstmäßig. Nein während die Gletscher abschmelzen, sollte mich die Kunst nicht mehr sehr interessieren…das Auftauchen von Bienen an deinem sommerlichen Fenster bedeutet heute eine Sensation bedeutet. Da ändert sich für mich die Bedeutung eines eleganten deutschen Jamben-Gedichts oder eines philosophischen Romans; und wenn die Welt enger wird, wird das Sprechen selbst schwieriger. Wer kann sich noch mitteilen, geschweige Kunst machen?

Ich radierte an den hundert Gedichtanfängen in meinen Notizblock. Ich saß eines Abends in jener Kneipe „Bateau Ivre“ während einer Pause von meinem Studium. Die letzte Hausarbeit hatte ich abgegeben, und die Prüfungsvorbereitungen mußte ich in den nächsten Monaten in Angriff nehmen. Aus meiner Wohnung, wo ich mit dem damaligen Freund lebte, war ich in die Kneipe geflüchtet. Der Freund profilierte sich besser als ich und drehte nun eben einen Film in unserer Wohnung. Weil ich zur Schauspielerei nicht taugte, sondern nur immer bescheiden an meinem Notizblock herumfingerte, war ich augenblicklich im Weg. Ich saß dann in jener Kneipe, die später zu einer wahren Legende in der touristischen Oranienstraße werden sollte, und trank Rotwein vor meinem Notizblock. Aus den Boxen fetzte Stevie Wonder mit „Helter Scelter“ und turnte meine künstlerische Aufgeregtheit noch an – bei einem Gedicht über Vanitas, nach Lessings Vorbild. Schon damals war in Kreuzberg alles erlaubt.

Ich bestellte das zweite Glas Rotwein. Keine Lust, nachhause zu gehen. Die Musik war gut, und der Typ am Nebentisch versprach noch einige Überraschungen: Mit beweglichen Blicken verriet er den einsamen Reisenden. Denn die studentische Kundschaft hatte eher die Gewohnheit, sich am Tisch blicklos in die Clique zu stürzen und Insider-Gespräche zu pflegen. Dieser junge Typ, schlank, aufgeweckt und mit einem Base-Cap verkehrt herum auf der Stirn, redete wie ein Wasserfall mit zwei Mädels, die er offenbar als selbst eingeladener Gast unterhielt. Er sprach mit Akzent. Vor den Mädels hatte er ein Fotoalbum aufgeschlagen. „In Pisa ist nicht viel los, kannstdu glauben! Außer Touristen keine Leute auf der Straße. Langweilig. In Rom ist das wirkliche Leben, es ist wie Berlin“, hörte ich seine Kennerworte. „Und woher bist du?“ fragte eine der Frauen. „Ich bin aus Rom, aber nicht von der Altstadt: Arbeitergegend, Mietshäuser, Peripherie, nicht schön, weißt du. Gute Leute, wenig Geld. Weißt du. Ich hab Ingenieur studiert, aber ich nicht das Geld gehabt, um fertigzumachen.“ Er redete dann weiter von Arbeitern in der römischen Bronx, Gitarrespiel an der Piazza di Spagna, „Serenade, Hippie-Musik, weißt du“, und mit Kennermiene: „Die Frauen verstehen Musik, sehr musikalische Frauen, kannst du glauben, ragazze, weißt du.“ Während sich die zwei jungen Biertrinkerinnen belustigt abwendeten, versuchte er sie mit mehr Worten zu gewinnen, mit mehr „ragazze“, „dolce vita“ und Berichten über seine Arbeit als Reiseführer im Forum Romanum. Er redete lebhaft, seine Gesichtszüge waren fein geschnitten mit einer leicht gekrümmten Nase und den vor Eifer zusammengekniffenen Augen.

Schließlich verloren die Mädchen ihr Interesse. Sie zahlten und zogen sich mit einem Gruß   zurück. Der Tisch und der junge Mann blieben verwaist.

Ich witterte Unterhaltung. Schon mit dem nächsten Song aus den Boxen schwang sich der Mann an meinen Tisch hinüber. Bei Bill Withers`“Harlem“ ergriff er die Gelegenheit, mir zu sagen, dass es sich um einen echten Arbeitersong handelte: „Der echte Soul, weißt du, es war Rebellion, Black Panther und Arbeiterklasse gegen Repression, nicht Imitation wie heute, oder Scheiße von Amy Winehouse.“ Der verstand was von Musik. Ich sagte ihm, dass Nina Simone zu meinen Favoriten gehörte. „Ja, Nina Simone, sie war eine leader für Black Power, sie war wichtig,“ sagte er mit sachlicher Miene. Mit seinem Fotoalbum war er an meinen Tisch gerückt, und ich hatte mein Notizbuch zusammengeklappt. „Du schreibst hier, am Tisch in Kneipe?“ fragte er verwundert. „Gedichte“, sagte ich knapp. Tatsächlich handelte es sich ja nur um hundert verschiedene Fragmente. „Die Deutschen haben gute Dichter“, sagte er, „Grande artiste, filosofe. Goethe, Nitsche, und diesen großen dicken Dichter Graff.“ -„Graf? Oskar Maria?“ -„Nein, Graff, Graff…Grass, Grass!“ „Ja, Grass“, sagte ich zustimmend. Ich lud meinen Bekannten zu einem Glas Rotwein ein, der sich als Antonio vorstellte. Und kam in den Genuß von mehr Unterrichtung, wie das ja bei männlichen Kneipenbekanntschaften nicht anders möglich ist. „Italianische Dichter, Weltlitterature,“ sagte er und kniff die Augen bedeutungsvoll: „Petrarca, Dante. Leopardi!“- „Du bist aus Italien?“- „Ja, Roma, ich war dort Reiseleiter. Manager für Touriste.“ Mit Routine klappte sein Mittelfinger das Album auf. Nun sah ich Antonio auf zahlreichen Fotos: Der junge Typ mit umgekehrtem Base-Cap, von zwei blonden lachenden Mädchen eingefasst, vor einem römischen Brunnen. Antonio, mit dem Base-Cap, von einer lachenden Mädchengruppe eingefasst, vor dem Colosseum. Antonio an einer appetitlichen italienischen Tafel, von einer lachenden Mädchengruppe umgeben.

„Fontana di Trevi, lustige ragazze…Hier, Touriste aus Espagna, nette ragazze..“ so bot er mir mit Kennermiene diesen Lebenslauf eines Reiseleiter-Dandys.

Ich erkannte jetzt, warum sich die zwei Frauen so schnell verabschiedet hatten. Antonio schien das Lächerliche an seiner Dandy-Selbstdarstellung gar nicht zu bemerken. Ich sah in seinen dunklen Augen aber auch eine Art Stolz des Globetrotters. Und seltsames  Mitteilungsbedürfnis. Was solls…ich erzählte ihm von meiner eigenen Rom-Erfahrung zwei Jahre zuvor. So unterhielt ich mich mit Antonio dann auch teils in italienisch. Ich erzählte ihm, zwei freundliche Pizza-Bäcker hatten mich abwechselnd zu angenehmen Abendessen eingeladen und unmäßig bewirtet. Einer von ihnen war aus Marokko gewesen.

„Ich habe viele arabische Einwanderer in Italien kennengelernt“, sagte ich, „in Rom und in Florenz, auch in Livorno. Viele Straßenmaler dabei. Sie sahen nicht besonders glücklich aus.“

„Ja, viele arabische Einwanderer, stimmt. Nicht besonders glücklich…“, sagte Antonio nachdenklich und ließ seine Augen in meinem Gesicht wandern. „Und was du machst hier so allein? Hast du keinen Freund?“ Ich sagte ihm, dass mein Freund zuhause geblieben wäre in der Wohnung, wo er einen Film drehte. „Bist du nicht langeweile, so allein?“ sagte er. Mit sachlicher Miene verlangte er meinen Kugelschreiber und fingerte am Tisch nach einem alten Rechnungszettel. „Kennst du das Spiel: Erkenne dich selbst?“ Während ich noch dachte, ob mein Bekannter unsittliche Neigungen hatte, erzählte er mir die Spielregeln: Male einen Baum, eine Leiter, ein Haus, eine Schlange und einen Fluss. Male, ohne nachzudenken. Ich konnte mich dunkel an dieses Spiel erinnern und gab nach. Welche Art von Kunstwerk dabei herauskam, kann ich nicht mehr genau erinnern. Antonio belehrte mich dann „nach Freud, ein austerricher Psycholog“, über meine Persönlichkeit: Die Schlange bedeute Sexualität, der Baum bedeute Lebensenergie, das Haus stehe für Sicherheit – der Fluss für Schwierigkeiten im Leben, die Leiter für Möglichkeiten. Irgendwie muss er dann mit sachlicher Miene gedeutet haben, wo auf meinem Bild die Sexualität  platziert war, und desgleichen, wo das Haus und der Baum standen, ob am Rande oder mehr in der Mitte, und ebenso, ob die Schwierigkeit, der Fluss, das eine vom anderen trennte oder nicht, ob die Leiter als Möglichkeit angelehnt war oder nur einfach so hilflos im Raum schwebte…

Das war ganz nett. Ich nickte ihm zu und meinte, er hätte psychologisches Interesse. Er sollte wieder studieren. „Wenig Geld, tu sai“ sagte er. „L`Academia di Roma e severo, estreng! Wenn willst Master machen, du musst kurze Zeit fertig machen. Wenn du arbeiten musst, du schaffst nicht.“ Ich nickte mitleidig. Manche männlichen Bekannten ärgern sich über solches Nicken, wenn ich mitleidig aussehe, wo sie Bewunderung erwarten. Mir geschieht das manchmal ohne nachzudenken. Aber Antonio schien es nicht zu merken.

Er wirkte gewisser Weise abgebrüht, als sei sein Stolz anders gehärtet von vielen Erlebnissen. Irgendwas schien mit diesem Reiseleiter nicht zu stimmen. Ich sah das an seiner Kennermiene, die mit einem gewissen Ernst alle Dinge der Welt berichten wollte. Ich bemerkte das auch an seiner Spielgewandtheit, als er mich fragte, ob ich die Abkürzung von Marlboro kenne und sie mir dann auf den Zettel, der für ihn zur Spielfläche geworden war, niederschrieb: „Men always remember love because of romance only“. Und ich teilte ihm soviel Aufmerksamkeit für seine Einfälle zu, weil ich immer schon neugierig war auf den Horizont, den vielerfahrene Leute beweisen können. Es muss nicht immer das plumpe Spiel des Geschlechts sein, das in Kneipengesprächen nach wenigen Sätzen angefangen wird. Und Antonio schien wirklich über Horizont zu verfügen.

Ich bekam die Sache dann doch rasch heraus, weil er mit soviel Stolz von der Welt redete und so sehr betonte, dass die reichen Leute, die nicht arbeiten müssen, wenig Erfahrung vom Leben hätten. Mithin erschien ihm mein deutsches Studentinnenleben sehr einfach und ich konnte nicht leugnen, hier beim Rotwein Gedichte zu versuchen. Ich sagte ihm dann auf den Kopf zu, dass ich mich auch in dem schwierigen Studium Islamwissenschaft versuchte und bereits arabisch sprach. Da erschien ein Eifer in seinen gekniffenen Augen, der sich nicht mehr beherrschen konnte. „Tahki Arabi?“ fragte er mit heller Stimme. Und fragte mich jetzt in arabisch, wo ich diese Sprache lernte, und weshalb. Und ich stolperte los und machte meine Sache nicht schlecht, und gelangte nun zur Lösung. „Ich muss dir etwas sagen, aber bitte nicht erzähle es weiter“, sagte er. Er heiße nicht Antonio und sei kein Italiener. Sein Name war Abdullah H., und er habe lediglich einige Jahre in Italien gelebt. Er sei geflüchtet aus Libyen und seitdem verfolgt. In Deutschland hätte er Asyl beantragt. Und mit einmal aufgeregt, förderte er sogleich sein Portemonnaie zutage und zeigte mir ein Ausweispapier: Mit dem arabischen Namen, Foto und allem was dazugehört.

Und ich hörte ihm mit Interesse zu, denn während ich nur ein einziges Mal mit zwanzig Jahren in Paris auf einer Sans-Papier-Demo war, und als Touristin in Brüssel und Paris manche Geflüchtete aus Westafrika kennengelernt hatte, so hat mich mein Studium in Berlin von der Bekanntschaft Geflüchteter völlig abgeschottet.

„Viele Probleme, tu sai,“ sagte er „In Deutschland immer Probleme“. Die sachliche Miene des Reiseführers mit den Blondinen im Album war jetzt abgefallen und machte einer drängenden Miene Platz. „Immer Problem. In Deutschland ich habe kein Asyl. Ich wohne in Heim. Sie geben kein Geld für Sprachkurs, ich habe selbst Kurs gezahlt bei Hartnack. Mein Geld, von meiner Arbeit. Ich habe kein Geld bekommen von Amt und ich darf nicht arbeiten und nicht reisen.“

Wieder sagte er: „Ich habe kein Asyl. Hier in Deutschland ich bin nur Duldungs-Mann.“ Bei dem nächsten Glas Wein versuchte ich jetzt seiner wortreichen Erklärung in drei Sprachen wechselnd zu folgen, in der er mir den „Duldungs“-Begriff deutlichmachen wollte. Ich verstand dieses Wort nicht, zumal ich davon weder in Brüssel noch in Paris je gehört hatte. Und seine jetzt dringlich bewegte Regung, mir dies verständlich zu machen, glaubte ich erstmal mit Misstrauen beargwöhnen zu müssen. Heute weiß ich, was in diesem gewendeten Dialog vor sich ging. Erst nach Jahren, als mir nach beendetem Studium noch viele Duldungs-Geflüchteten begegnen sollten, wurde mir klar, dass es hier um eine Normalität ging, in der

Abgelehnte Asylsuchende, die achtundneunzigprozentige Mehrheit, in einer Kategorie landen. Ohne gesicherten Aufenthalt harren sie, gut hunderttausend vor der syrischen Fluchtbewegung und sicherlich viel mehr seitdem, in einer schlechten Unterkunft aus. Die Abschiebung ist ihnen theoretisch auferlegt, wird aber von allen, die es vermögen, gerichtlich angefochten um eine zweite Asylprüfung zu erlangen. So verbleiben sie im ungesicherten Status namens „Duldung“.

Deshalb sagte mir Abdullah, kurz Abduh: „Mein Asyl wurde abgelehnt, aber ich kann nicht reisen. Deportazione heißt für mich Tod. Was wissen die europäische Leute von meiner Situazione? Ich will Asyl haben ein zweites Mal. Deshalb bin ich Duldung-Mann.“

Ich verstand immer noch nicht und verschanzte mich noch hinter misstrauischem Schweigen. Wir schwiegen dann beide missvergnügt, bis Abdu mich aufzuheitern versuchte. „Und was lernst du, wenn du Islamwissenschaft studierst?“ Ich sagte ihm, es ginge da um die Geschichte und Kultur der arabischen Welt, auch wenn dieses Thema so groß wäre, dass mir klar sei, ich könne nur einen kleinen Teil daran bearbeiten. „Ja, aber wie kannst du Islam lernen? Anta Muslima, bist du  Muslima oder come si fa?“ Nein, ich sei keine Muslima, sagte ich ihm und beteuerte, nicht zum ersten mal im Gespräch mit muslimischen Leuten: Ihtammu, ich interessiere mich für diese Kultur!

Abdu lehnte sich zurück und lächelte herablassend oder melancholisch mit dem fein geschnittenen Mund. „Wie kannst du den Islam wirklich verstehen, wissen, wenn du bist nicht muslimisch?“- „Und du, bist du Muslim? Immerhin tu beves il vino.““Ja, ich bin Muslim,“ lächelte er selbstsicher. „In Zeiten ich praktiziere. In anderen Zeiten, wenn das Leben ist hart, ich praktiziere nicht. Ramadan ist wichtig für mich. Dann du siehst mich niemals trinken oder essen am Tag, und la khamr!“

Und Abdu erzählte mir, dass es auch muslimische Gruppen gäbe, die in manchen Zeiten Wein tränken, zum Beispiel Berber-Religionen, die ihre alte Lebenspraxis mit dem oktroyierten Islam vereinten. Oder Sufi-Angehörige, die sich an die Weisheit großer Lebenskünstler und Dichter hielten wie den großen Hafis. „Es sind die Islamisten, die mich vertrieben,“ erzählte Abdu:

„Sie haben keine Toleranz und bedrohen das Leben der guten Muslims. Sie sind keine wirkliche Muslims“. Die Islamisten hätten versucht, ihn Abdu zu vereinnahmen. Sein Vater sei politisch tätig gewesen gegen Gaddafi, ihn hätte die Regierung ermordet. Als er, der Sohn, vor der Regierung flüchtete, um nicht ebenfalls ermordet zu werden, hätten ihn radikale Islamisten zu gewinnen versucht: „Du machst mit in unsere Sache und du bleibst bei uns in Sicherheit“. Er hätte das aber abgelehnt und sei übers Meer abgehauen nach Italien.

„In Italia ich habe erfahren, was destino ist. Willst du wissen, was destino ist, Schicksal?“

Ich wollte es unbedingt hören. „In Italien ich war in Florenz untergekommen bei einem Verwandten, Amm Walid. Aber leider die islamistischen Gruppen hatten die Adresse gefunden von meinem Onkel Walid. Leben wurde Gefahr. An einem Nachmittag ich arbeitete in Restaurant. Ein Mann saß an einem Tisch und redete mit mir subito, er redete ernst und deutlich. Er sagte zu mir: Ragazzo ich kenne dich nicht, aber ich habe dein destino erkannt und du bist in Gefahr. Bleib an meinem Tisch und warte, was ich dir sage. Ich verstand ihn nicht, aber ich blieb an seinem Tisch, und der Mann redete weiter mit mir. Dann subito er nahm mich an der Hand und drückte mich hinunter, er mir ruft: Unten! Ich beuge mich in Reflex, und über meinen Kopf geht eine Kugel. So hat mich destino gerettet in Gefahr. So war ich gerettet in Gefahr vor einem Revolverschuss, der ging vorbei an Kopf. Sofort ich mußte  flüchten aus Florenz. Ich bin nicht mehr zuhause gegangen zu Amm Walid. Ich bin geflüchtet mit neuem Namen nach Rom, ein clandestino.“ Nachdenklich nahm Abdu sein Glas in die Hand und sagte: „Das Schicksal ist das, was wir nicht verstehen. Es ist nicht immer wichtig, ob du trinkst Wein oder ob du gehst in die Moschee an jeden Freitag, oder an jeden Tag. Du musst hören auf dein destino. Der Dichter Khalil Gibran hat es geschreiben: Wenn das Leben spricht, werden alle Winde Worte. Und du verstehst, was dir Gott sagen will.“

Ich wusste nun nichts mehr zu erwidern. Abduh redete weiter:

„Die Islamisten, die jeden Menschen bestrafen wollen, der Wein trinkt, sind keine gute Moslems. Ist nicht auch der Wein eine Schöpfung von Gott? Kann der Mensch die Trauben herstellen, kann er irgendeine Pflanze selbst herstellen? Der Mensch kann gar nichts. Er muss die Schöpfung achten und Gott danken.“Ich nickte zu dieser Einstellung, zumal ich selbst eine Vorliebe für den Wein hatte. Aber auch, weil mir die Dichtung von Hafis und von Omar Khayyam, in einer Hand der Koran und in einer Hand der Pokal mit Wein, sehr gefiel. Ich zitierte Abduh aus meiner Kenntnis und er lächelte zufrieden. „Ein Glück, ich habe dich getroffen! Sudfa halwa“.

Ich erinnere weiterhin, dass mich Abduh an diesem Abend noch auf die Straße hinauszog und mir eine andere Kneipe zeigte, die in der gleichen Oranienstraße lag und nur den Unterscheid zeigte, dass hier das gemütliche Mobiliar gegen einen gewissen protzigen Stil mit roten Wänden und Ledersesseln vertauscht war. Doch war ich so nachgiebig, hierherzuwechseln, weil Abduh offenbar von einem Vorteil beim Gastwirt profitieren konnte, den er hier offenbar kannte. Und seine Weltkenntnis machte mich zuvorkommend. So tranken wir hier noch einige Gläser Wein und war das Gespräch jetzt den banalen Nöten Abduhs gewidmet, der Geld brauchte.

Wir wechselten zwischen unbefangenem Kokettieren und existenziellen Fragen Abduhs in fast flehendem Ton. Bald machte er mir ein Kompliment für meine Augen, bald versuchte er mir die Duldung zu erklären. Bald sagte er mir, ich wäre keine normale Deutsche, weil ich viel lächelte und wenig redete. Dann wieder wurde er drängend und bittend.

„Viel Problem jetzt, “ sagte Abduh. „Ich muss heute abend wieder nach Hamburg fahren. Ich bin in Heim in Hamburg. Aber ich habe kein Geld für die Karte.“ „Warum bist du nach Berlin gefahren, wenn du kein Geld hast?“- „Ich musste nach Berlin fahren. Ich habe Problem jetzt: Mein Asylverfahren ich mache jetzt noch einmal, ich mußte zum Amt für Migration und hier Antrag abgeben. Dann ich kann noch einmal das Gerichtsverfahren machen. Ich muss das Verfahren noch einmal machen.“ So versuchte er mich jetzt zu überreden, dass ich ihm das Geld, vierzehn Euro fürs Ticket nach Hamburg, gebe. Ich sagte nein und ärgerte mich. Dass ich ihm den Wein bezahlte, hatte ich sowieso schon selbstverständlich akzeptiert. Er schien zu glauben, dass ich im Geld schwamm.

„Ich durfte nicht fahren. Aber ich mußte fahren. Che cazzo!“ sagte er wütend, und wollte mir auseinandersetzen, was mich noch mal mit Misstrauen erfüllte: Indem er den Zug nach Berlin bestieg, hatte er sogar noch das Recht gebrochen. Denn ein Gesetz mit Namen Residenzpflicht verbot ihm eigentlich, ohne Erlaubnis des Ausländeramtes seine Stadt zu verlassen. Warum hatte er denn die Erlaubnis nicht bekommen, fragte ich ihn. „Sie sagen immer nein. Wenn ein Flüchtling kommt und sagt, er braucht dies und er braucht das, sie sagen immer nein!“ Ich sah ihn verwundert an, und hörte wiederum zum erstenmal ein Wort, das mir später erst noch oft begegnen sollte. Und Abduh, der abgebrühte Kosmopolit, mußte sich auf einen bittenden Ton versteigen, indem er meine biedere Unwissenheit von diesem ausgrenzenden, ja rassistischen deutschen Gesetz gegenüber Duldungs-Flüchtlingen und meine biedere deutsche Moral zugleich überwinden mußte. Der Prekäre hat es immer schwer mit seinem Nischendasein- wenn die Privilegierten noch nicht mal die Worte für die Verhältnisse kennen, die den Schwächeren knebeln. Tatsächlich würde ich mich später intensiv mit der Residenzpflicht befassen und feststellen, dass sie erstmals von den Nazis auf polnische Kriegsgefangene angewendet, und später in 1980 vom Innenministerium aus der Schublade geholt wurde- um sie auf Asylsuchende wieder anzuwenden. Wie abgefeimt!

Mein nachdenkliches Schweigen versetzte ihn vielleicht in Verzweiflung. Abduh wurde schweigsam. Plötzlich lachte er heraus und sagte, er hätte ja heute Geburtstag und ich sollte es als ein Geburtstagsgeschenk betrachten. Ich sah ihn lachend an. Und noch mal wurde der Ausweis aus dem Portemonnaie bemüht. Es stimmte: Es war, sagen wir, der sechzehnte Juni. Es war sein Geburtstag.  Doch auch dieses Argument sollte mich nicht überzeugen. Es wurde spät und ich bezahlte die Drinks. Abduh warf sich ebenfalls in seine Jacke und ging mit mir auf die Straße.

Ich nahm den Weg zur U-Bahn, und vom Görlitzer Bahnhof fuhr ich in Richtung der Warschauer Straße, wo ich in die S- Bahn umsteigen wollte. Abduh sah neben mir aus dem U-Bahn-Fenster, als die Bahn über die Oberbaumbrücke fuhr und die Lichter am Osthafen und eine damals noch nicht von der Investmentgruppe verstellte träumerische Aussicht auf die Skyline mit dem Fernsehturm und der Spree sichtbar wurde, und er murmelte:

„Die Stadt ist schön. Rom ist schön und Berlin ist schön…“

Unter leichtem Nieselregen gingen wir zum S-Bahnhof, und ich erinnere mich, dass ich nun erst, beim Abschied, daran dachte, ich müsste später in den Spiegel sehen und mich an das Erlebte erinnern. Und Abduh, der neben mir herlief auf dem nassen Asphalt mit seinen alten Turnschuhen, wunderte sich vielleicht über diese wechselhafte, aber trinkfeste Studentin. Vielleicht wunderte er sich, als ich dann doch noch, während die S-Bahn einfuhr, mein letztes verbliebenes Geld hervorsuchte, vermutlich nicht ganz vierzehn Euro, und ihm gab.

„Also viel Glück für dein Verfahren, Abduh! Buona fortuna.!“ Er schaute mich aufgebracht an und fragte: „Ist es OK für dich, ist es auch kein Problem für dich? Grazie! Ragazza! Grazie e shukran!“

Er sagte mir Ma´as-Salama und winkte mir, als ich aus dem S-Bahnwagen hinaussah. Jener Abend bedeutete wohl einen dieser kleinen Schritte, die mich weiterbrachten zu  Kenntnissen über gewisse Lebenswirklichkeiten und prekäre Härten, die ich in meiner studentischen Abgeschiedenheit nicht kannte. Und noch einige Zeit lang versuchte ich weiterhin, mich zu profilieren…während ich mich langsam davon überzeugte, dass es notwendig ist, dass hierulande jeder Mensch leben kann mit erhobenem Kopf, ohne diesen Kopf in Gefahr zu fürchten. Und dass, zu diesem Zwecke, aus Duldung Asyl gemacht werden sollte.