Kulturkritisches

Chirikure Chirikure – die poetische Kunst der Allegorien und der subjektiven Suche

B.v.Criegern

2. .01.2014

Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, auch das ist nur scheinbar.
Franz Kafka, Baumstämme.

„Demokratie ist das Instrument, mit dem die Eliten die Massen überall unter die Knute zwingen, Demokratie ermöglicht es der herrschenden Elite, die einen ins Gefängnis zu werfen , die anderen der Armut preiszugeben, und macht sie zu den alleinigen Inhabern der Macht. Wer weiß, was für ein Volk gut ist? Wer weiß, wen das Volk am meisten liebt? …Geh nach Moskau, geh nach Zaire, geh nach Bonn, geh nach Kairo oder komm nach Mogadischu. Die selbst ernannten Führer werden es dir sagen.“
Nuruddin Farah, Vater Mensch (Close Sesame).

Seit ich zwei seiner Performances besuchte, fiel die Poesie und Performancekunst von Chirikure Chirikure in mein Tagträumen und Kalkulieren hinein, bis in mein tägliches Bewegen auf der Straße. Chirikure Chirikures Poesie verbleibt einfach im Gedächtnis, so wie er seine besondere Perspective von täglichen Gewohnheiten oder Empfindungen übermittelt, und vom Leben und Kämpfen von EinwohnerInnen Simbabwes erzählt.

Da hört mensch seinen Texten zu, kurzen, silberhellen Absätzen in präzisen wendigen Worten, die einander folgen bis zur vollendeten Allegorie oder Fragestellung, einer neuen Perspektive. Philosophisch und aufmerksam erscheinent die Persönlichkeit Chirikures, und wenn er liest, führt er oftmals zu witzigen Spitzen und Reflektionen hin – doch, wohlgemerkt, erstehen seine Themen und Tableaux von einem tiefen Grund, und seine Sprache zeichnet die Verwundbarkeit oder die Vorsichtigkeit nach, das Wirken oder das Kämpfen der Menschen. In seinen Versen erzählt Chirikure von einem Lebensgrund, dessen Tiefe mit Episoden und Erfahrungen aufwartet. Ein besonderer Intellekt schließt hier zu einer deutlichen Positionierung oder witzigen Haltung auf, im Nebel von Bitterkeit und Gewohntem, die lyrische Stimme macht die menschlichen Regungen oder Handlungen auf diesem Grund fühlbar. Und sie eröffnet einen Kenntnisschatz und die bewahrten Legenden der Geschichten seines Stammes.

Mir erscheint diese Art von Literatur als wohltuende Anforderung an unsere reflektiven und hörenden Fähigkeiten, schließlich hatte ich schon seit langem Durst unter der zeitgemäß armen deutschen Literaturproduktion. Wie viel könnten die hoch ausgezeichneten AutorInnen der heutigen Institutionen hiervon lernen. Denn wie mir scheint, benutzt eine Mehrheit der ErfolgsschriftstellerInnen das Wort wie ein abgepacktes Produkt für eine generell befestigte Auffassung ( die sich zu gut an die mediale Auffassung derselben Wendungen anpasst), selten nur mit einem Hintergrund in individuellen Haltungen.
Ist es nicht so, dass der irgendwie sterile Charakter ihrer Themen daherrührt, dass sie ohne Bezug auf persönliche Erfahrungen vorgehen, oder auf Klasse oder Umfeld? Ich muss sogar vermuten, dass ihre einzige zählende Bezugnahme den großen Medien und Politiken gilt.

Doch Chirikure gibt der Poesie Leben und Wahrnehmungen zurück. Alle seine Gedichte wurden in Shona, seiner Muttersprache, verfaßt. Wie mensch in der Ausführung zu seiner Gedichtsammlung „Aussicht auf eigene Schatten“ (Wunderhorn-Verlag, Heidelberg 2011) lesen kann, entschied er sich klar für seine Muttersprache anstatt für das koloniale Englisch, und positionierte sich damit für die autochthone Bevölkerung. Simbabwe erlangte die Unabhängigkeit erst in 1980.
Zu seinen Shona-sprachigen Texten hat Chrikure später die englischen Übersetzungen geliefert. Bei seinen Performances, bringt er Shona und Englische Texte zu Gehör. Und in seinem Buch können alle Gedichte auch in der deutschen Übersetzung von Silvia Geist gelesen werden. Zum Buch gehört auch eine CD mit der Stimme und der Wiedergabe des Autors selbst von seinen Gedichten.

Ich erhielt erstmals Zugang zum Klang der Poesie in der Shona-Sprache bei Chirikure`s Performances, selbst eine deutsche Hörerin, die nie in Simbabwe war. Der Autor, der in Paderborn lebt und in Simbabwe geboren ist, öffnet das Denken. Zum ersten Mal am 4. Juli 2011 erlebte ich eine Performance von Chirikure Chirikure im Rahmen des kulturpolitischen Forums Africavenir. Nun sah ich ihn wieder beim Dialogforum über „Globalisierte Welt und Gesellschaft“, das von der Performance-Künstlerin Anja Pollnow beim Heinrich Böll-Bildungswerk organisiert wurde in der Kreuzberger „Expedition Metropolis“ im Kulturtreff der „Desinfectionsanstalt“. In diesem Rahmen ereignete sich am Wochenende des 16/17 November ein Austausch über Gesellschaft, Migration und mentale Entwicklung mit Diskussionen und Workshops von BerlinerInnen, AktivistInnen, Demonstrierenden, StudentInnen und KÜnstlerInnen. Die Redebeiträge von Kulturschaffenden wie Abdi Demera ( Theaterinitiative in Moabit sowie Offene Türen e. V.) und Dawit Shanko (Listro e. V.), Chirikure Chirikure und der Künstlerin Pollnow und von Interessierten aus dem politischen und nachbarschaftlichen Umfeld wie dem Ökonom Michael Fischer und dem Gemeindepfarrer Peter Storck von der Heilig-Kreuz-Kirche führten zur Diskussion über gesellschaftliches Handeln und Verantwortung. AktivistInnen des Berliner Protest Camps der Refugees am Oranienplatz nahmen teil und wiesen darauf hin, dass solidarische Praxis Räume für gemeinschaftliches Handeln und Leben eröffnen kann. So wurde als Hauptinteresse der Beteiligten die Frage nach dem gemeinschaftlichen Handeln und der Solidarität besprochen, sowie die Frage, wie rassistischen Praktiken gegenüber MigrantInnen begegnet werden kann, und wie die migrantische Äußerung und Sprache auf die tägliche Gesellschaft und in die Migrationspolitik wirken könne.

Chirikure`s poetische Performance fand am zweiten Tag der Konferenz statt. Was bedeutet Performen im Grunde? Ich bin keine Expertin, denke aber, dass es in der gemeinsamen Bewegung begründet liegt, die der/die Künstlerin herbeiführen kann. Ich möchte sogar zu einer besonderen Interpretation des Performance-Begriffs übergehen, das an die Asamblea- Versammlung anklingt (oder die griechische Agora), die gemeinschaftliche Zusammenkunft zum Wunsch des Sprechens.
Chirikure nimmt uns in seine reflektierende Arbeit auf, mit hinein in Augenblicke, soziale Beobachtungen und Naturerscheinungen. Und die Subjekte seiner Gedichte leben und fragen in der globalen Welt wie auch in der Gesellschaft von Simbabwe. Das Land wurde nach der kolonialen Berlin-Konferenz von 1884 von der englischen Herrschaft kontrolliert, die rassistische Segregation brachte, und selbst heute sieht das Land Mangel und ökonomische Probleme – die rühren noch her von verbliebenenen Abhängigkeiten und von fortschreitenden ökologischen Problemen wie der Trockenheit. Und schließlich bedeutet auch die Regierung Mugabes heute Unterdrückung und Gewaltkate gegen die EinwohnerInnen.

Mit einem politischen Beispiel gibt das witzige Gedicht „Shabeens“ ein Denkm al für die Bars, in denen AfrikanerInnen, die arme Schicht, zusammenkamen, um zu trinken und sich gemeinsam auszutauschen, um frei über die täglichen Ereignisse zu reden. Diese Bars waren vom kolonialen Regime verboten, doch verschwanden sie nie. Und Chirikures Text übermittelt eine klare lebenserfahrene Haltung im Zwei-Sätze-Gedicht, indem er formuliert, dass diese kleinen Kneipen andauerten und weiter andauern würden als informelle Treffs, in denen man gute Witze über die tägliche Politik macht.

In „Directions“ (deutsch: „Zurichtungen“) konfrontiert das einzelne Individuum das politische Kommando in der Zeit, da die BürgerInnen Simbabwes zu einer „Look-East-Policy“ eingeschworen werden sollten – zur „Ausrichtung nach Osten“ der Regierung. Mit einem formulierten lyrischen „Ich“ wird hier aus der Selbstreflektion eines Menschen heraus gesprochen, der sich positioniert, „sitting on the globe“, „ich sitze auf der Erde“, die sich in ihrer eigenen Richtung dreht, unabhängig von der politisch gewollten Richtung für Denken und Schreiben. Und hier nimmt der Autor Bezug auf ein großes Thema, das nicht einmal bis heute von vielen eurozentristischen SchriftstellerInnen der Gegenwart angerührt wurde, ( zu welchen ich etwa die Büchner-Presi- und Döblin-Preis-AutorInnen der vergangenen zwölf Jahre zähle): Chirikure gibt uns hier die Relativität der Richtungen und Ausrichtungen zu verstehen, während eine kommandierte Zurichtung den absoluten Blick und die absolute Haltung intendiert. Und das kann auch bei zugerichteten Formen der Schreiben/Lesen-Praxis unter politischen Anforderungen geschehen. Beispielsweise mit der Anforderung, eine einzige Sprache zu nutzen, während andere verboten werden, als eine koloniale Praxis. Oder mit dem textuellen traditionellen Gebrauch, von links nach rechts zu schreiben oder in nur einem bestimmten Buchstabensystem. In unserer zeitgemäßen deutschen Kultur sehe ich nur wenige Ausnahmen, mit denen das traditionelle westliche Text-Verständnis irritiert wird. Zum Beispiel durch Yoko Tawada. In „Talisman“ nimmt Tawada manche deutschen Gepflogenheiten zum Objekt für den philosophischen Blick und hinterfragt etwa die Gewohnheit, auf Computer und andere Alltagsgegenstände Aufkleber mit Parolen anzubringen, als eine mögliche Glücksbringer-Tradition, so wie sie auch die Aussage von „Nein danke!“ in den gängigen Parolen von „Atomkraft-nein danke!“ hinterfragt.
Chirikure teilt mit Tawada die Fragestellung in Bezug auf produzierte Gewohnheiten und ihre Anleitungs-Wirkung in einer Kultur. Und er teilt offenbar auch mit Nuruddin Farah den
Kritisch- politischen Geist, der im Roman „Maps“ in einer Episode über Unterdrückungsgesten reflektiert, die sich für den kindlichen Protagonisten an das Schreibenlernen haften (Suhrkamp 2004, erstmals 1992, S. 134 ff.) .
Auch wird im Roman die Dominanzpolitik der Regierung besprochen, die während des somalisch-äthiopischen Konflikts einen einzigen Sprachgebrauch verlangt, den des
Somali.

Im Gedicht „Stolen Light“ („Gestohlenes Licht“), in dem der Autor die Chimanimani –Berge beschreibt, wird offenkundig eine Gedankenbewegung auf außergewöhnliche Art übermittelt. Das Gedicht beschreibt diese Berge, die immer von Nebel eingehüllt sind und keinen Blick auf ihren eigenen Schatten erlangen können. Es ist ein Text von besonderer gedanklicher Beunruhigung über dieses Problem, das vor Augen steht. Dieses philosophische Gedicht geht in eine Tiefe, die mir aus keinem anderen zeitgemäßen Gedicht der letzten Jahrzehnte erschien. Mit einem Schritt geht der Gedanke über die Erscheinung, mit einem weiteren über die Imagination hinaus- bei konsequenter Richtung. In dieser feinen Wahrnehmung, die nahe an die Dinge sowie an die natürlichen Schöpfungen herangeht, sehe ich mich an Kafkas Blicken erinnert. Doch mutmaßlich anders als Kafkas Subjekte reisen die Subjekte
Chirikures durch die Weiten eines eingewiesenen Individuums auf dem Weg zum gemeinschaftlichen Suchen nach Wahrheit.
Chirikures Bezugnahmen übermitteln das Wissen und Erzählen aus überliefertem Erbe der Vorfahren und führen dieses Wissen zusammen mit den individuellen Wahrnehmungen des Augenblicks. Dennoch würde ich ihn in seiner sensiblen Wahrnehmungen von Machtgefügen, die den Raum und sogar die Körper durchkreuzen, mit der Sensibilität Kafkas vergleichen. Und in Gedichten von täglich erlebten Aspekten läßt Chirikures Blick deutlich die Sicht des individuellen Menschen in Konfrontierung zur überwätligenden Präsenz der Macht treten. Hier wie dort können wir ZeugInnen dafür werden, dass die poetische Sprache in ihrer Kraft anwächst, je feiner und bescheidener das Individuum selbst die wahrhaftige Szenerie in Berührung nimmt.

Dieser Autor ist deshalb in seiner unabhängigen Kunst außerordentlich wichtig für uns und die Gesellschaft, um Aufmerksamkeit wiederzugewinnen oder zu entwickeln, und um den individuellen Blick zu schulen.

Chirikures Texte stellen individuelle Wahrnehmungen der erscheinenden Objektivität gegenüber, die manchmal festgezurrt erscheint in einem menschlichen Lebensraum, der von Linienziehungen des Habituellen oder Verlangten durchzogen werden. Das manchmal erscheinende Ich oder die übermittelnde Stimme von Erfahrungen führen zu einer Art Erkenntnis vor der Verhüllung bitterer Lebenskämpfe und Überlebenskämpfe.
Die Bewegunsrichtungen der Sätze führen tief zu menschlichem Handlungsgrund oder Positionieren. Ist jede Art von Gewohnheit konstruiert? Vielleicht in einer besonderen Auffassung, aber die befestigenden Motive müssen jeweils beobachtet werden.
Chirikures Texte vollführen also eine Entlarvung.

Mit seinem Blick auf konkrete Lebensaspekte formt sich eine Stimme, die sich manchmal an das Subjekt annähert, das die Legenden seines Stammes singt, die Überlieferung eines Volkes und einer Familie wahrt, und wiederum manchmal als soziales Individuum satirischen Charakters spricht. Unverkennbar ist die politische Eigenschaft des Autors, dessen lyrische ProtagonistInnen auch auf dem Weg sind, La Parola und das unabhängige Sprechen zu formen. In der Haltung des Autors, der sich für eine unabhängige Bevölkerung positioniert, an deren Erbe und Denkart er teilhat, verorte ich ihn ebenso neben Farah wie übrigens auch neben der Autorin Emine S. Özdamar mit ihren großen Prosa-Romanen (u.a.) „Die Brücke am Goldenen Horn“, „Das Leben ist eine Karawanserei, aus der einen Tür kam ich raus, aus der anderen ging ich rein“.

In seinen Performances rezitiert Chirikure frei, während er sich im Raum mit der Energie der Verse bewegt, die Rythmen moduliert und zur Botschaft des Textes den direkten Blickkontakt mit dem Publikum sucht. Chirikure, von feinen nachdenklichen Gesichtszügen, ist hierbei von unleugbarer persönlicher Präsenz. Er setzt auch den Wechsel ein, was Stimme und Bewegungen betrifft, und führt von einem gesenkten Sprechton mit reflektiver oder mitteilsamer Note in persönlicher Atmosphäre plötzlich zum bewegten Rufen und Aufrütteln hin. Mit persönlicher Dynamik wirkt er so auch an einer besonderen Angelegenheit, die für uns Zuhörende, wie ich vermute, Gewicht haben kann: Er nutzt die verschiedenen Ränge des Sprechens.

Angeregt, erfahren wir hierbei, dass diese Literatur vom Stoff des Intellekts und des Lebens ist. Und Chirikures Performance entdeckt uns, was die konservative deutsche Literaturproduktion vergessen machte: Dass Poesie auch einen wichtigen Aspekt beinhaltet,
was das Nehmen und Erteilen des Wortes angeht; und: dass der Text des Dichters nicht nur textuell sein muss. In konservativen deutschen Leseveranstaltungen beansprucht der Text stets seine Textualität, fast immer, als höchste anzustrebende Geltungsweise. Die Bildungsveranstaltung in einem akademischen und hoch ausgezeichneten Rahmen scheint den sakrifizierenden Effekt für solche Art von Dichtung zu erteilen, woran sich ein Publikum, in einem Klassenverfahren, anschmiegen soll. Dabei bleiben wir hungrig nach Bezugnahmen und nach Individualität solcher Texte, die, wie ich denke, oft für ihre eigene Textualität hergestellt wurden,. Und welch verführerisches Projekt stellt heute solche Art von Literaturproduktion dar, wenn textuelle Texte und Wörter inflationär werden in politischen Stellungnahmen, Ansprachen und medialem Sprechen!

Jedoch sehe ich Chirikure als einen außerordentlich wichtigen Autor für unsere Tage, der, vielleicht subversiv, auf jeden Fall dynamisch und gänzlich poetischer Intellektueller, zeigen kann, dass das Sprechen wiedergewonnen werden muss mit Denkakten, mit individueller Bezugnahme und mit Positionierung. Benötigten wir denn nicht solche Art von Inhalten in einer geschwätzig-medialen Kultur hierzulande, wie auch in der globalen Welt oder im „globalen Dorf“? Und schließlich trägt Chirikures Wirken mit seinem kritischen Potential und seiner souveränen Entlarvung objektiver Erscheinungen zu einem kulturellen Prozeß bei, der wohl nicht so sehr mit „universeller“ Literatur zu tun haben sollte, als vielmehr mit interkultureller Dichtung und mit dem Voranschreiten der europäischen Literatur und Gesellschaft. Hierbei müssen wir abwarten, ob die deutsche Entwicklung so konservativ bleibt wie in den vergangenen Jahren. Noch heute verbleiben hohe konservative deutsche SchriftstellerInnen in einer nebligen homogenisierenden Politik, und praktizieren sogar Andersheit und Othering oder Schweigen gegenüber immigrativer und migrantischer Kultur.

Ein weiteres Beispiel soll hier noch erfolgen für die komplexe Dimension der Gedichtthemen, in denen Gewohntes und tägliche Episoden in geistvoller Weise ins Auge gefaßt werden, aber doch auch ein tiefes Fühlen für die menschliche Geworfenheit und Bedürftigkeit laut wird.
Im Gedicht „Thina bomba/We bomb“ („Wir bomben)“ in regulär-rhythmischen Sätzen, die vorwärtssprechen bis zum direkten Schluss, reflektiert der Autor das Aufkommen des Bombens. In diesem Text demonstriert er die Stärke des lyrischen Sprechens, das das Undenkbare zurückverfolgt. Und mit dem angewendeten „Wir“ handelt es sich um eine klar positionierte lyrische Äußerung: Die deutet nicht abstrakt auf eine Erscheinung hin, sondern nimmt selbst Stellung in einer Gruppierung, die sich als die Menschengemeinschaft erweist.

Mit dem anklagenden Sprechen bis hin zum Schreien „We bomb! We bomb!“ geht hier ein menschliches Subjekt auf der seltsamen Konsequenz vom Menschlichen zum Inhumanen voran – es ist ein Wegmarsch in Versen. Liegt der Beginn bei der menschlichen Sprache per se: „One person said, talking is too slow, better use fists“, so wird einer Konsequenz nachgegangen- über die Fäuste und die Steine hinfort. Am Schluss: „Thina bomba! We bomb!“ Das Gedicht handelt nicht von konkreten politischen Kräften der Weltordnung. Dieses Stück poetischen Sprechens handelt vom Nicht-Bewältigten und Nicht-Bewältigbaren. Es ist der Text des subjektiven Denkens über umgebende Gewalt, die nicht menschlich begriffen werden kann, aber dennoch ihre menschlich produzierte Geschichte hat! Die einzig verbliebene Macht für das lebendige Individuum kann in diesem Moment der absinkenden Menschheit die Bewegung sein, mit der es die Entwicklung hindurch verfolgt, und die Verortung in der Selbstanklage. Hier wirkt individuelles Sprechen , der Mut, in Worte zu fassen , was gewohntermaßen verschleiert wird im menschlichen Alltagsfokussieren – und politisch verschleiert wird von Schemata der „Gerechtigkeit“, von Regierungen der Länder und speziell von der umfassenden NATO-Werteordnung bei deren militärischen Politik.
Und hier erweist sich mir eine weitumfassende Bewegung in diesen regelmäßigen Sätzen, die die Klärung bringen für das, was wieder gespürt werden muss:
Für das, was es heißt, ein menschliches Subjekt zu sein, das solchem Faktum ins Gesicht sieht, dem Faktum der Geschichte von Subjekten, die eine überwältigende Objektivität hergestellt hatten. Denn trotz dieses ungelösten Widerspruchs im Aufkommen der Bombe werden wir nämlich nicht vom Gedicht aus unserer Verantwortung losgesprochen. Diese Art von Erkenntnis, die ich hier aus dem Gedicht entnehme, klang für mich außerdem nur bei einem einzigen europäischen Philosophen des 20. Jahrhunderts an, der in ähnlicher Weise an unsere Verantwortung appellierte, bei dem Werk von Günter Anders ( „Endzeit und Zeitenende“ und andere Werke).

Die Widersprüchlichkeit: Wir verfolgen die unmenschliche Konsequenz einer speziellen menschlichen Entwicklung – und auf diesem Wege erhellt das Gedicht die Bewegungsrichtung des faktenbildenden Objektiven, das in den großen Negationsprozessen durch Machtpolitiken voranschritt bis zum 20. Jahrhundert. Negationen, was die menschliche individuelle Subjektivität betrifft und die (immerzu proklamierten) Ziele von Menschheits-Fortschritt und Vorankommen- Negationen aus einigen der vergangenen Jahrhunderte.
Die historische Trennlinie kann, anhand des Gedichts, nur in den Reminiszenzen des Hörers/der Hörerin stattfinden. Der Text überantwortet außerdem an den Hörer/die Hörerin die Deutung, je nach dem Talent, sich zu beunruhigen und Geschichte für die eigene Erkenntnis zu rekapitulieren.

Doch sicherlich setzte im Maßgeblichen das Aufkommen von Vernichtung mit kolonialer und imperialer Gewalt an, die vor mehreren Jahrhunderten begann. Wir wir heute bekunden müssen, wurde sie nicht abgestellt oder aufgearbeitet von den Nationen , die für diese Gewalt und die Hegemonie in der Welt verantwortlich zeichneten ( in der heute noch Bande von postkolonialer Praxis und von Abhängigkeiten.-Kontrollierung durch bestimmte Staatenbündnisse gegenüber anderen, oder durch Wirtschaftspolitik, erhalten bleiben). Und sie wurde nicht aufgearbeitet von Gesellschaften aus diesen Nationalkonstrukten, wie z.B. von der deutschen Gesellschaft, in der heute ein gewisser Anteil das faschistische Erbe wieder vertuschen will. Bomben und Machtpolitiken hatten angesetzt, wie wir wissen, in den starken Staaten des industriellen Nordens und fortgedauert mit den ideologischen und reellen Bündnissen der kapitalistischen Länder Europas und der USA. All das kann ins Bewußtsein treten, während der Autor hier ein universales Bild von der Gewaltentwicklung gibt. Hier verfaßte Chirikure offenbar einen Text für die Zivilisation des 20. Jahrhunderts und die Postmoderne, die sich oft selbst als einen kulturellen Zenith einschätzen will. Doch diese pessimistische Wendung des Sprechens hier bedeutet, so wie ich viele Pessimistischen Tendenzen bei guten AutorInnen las und aufgriff, den Gefallen für uns, der in Wachsamkeit und Menschenrespekt gründet. Was ist die besondere poetische Handlung an diesem globalen Aspekt der Gewaltproduktion in den Tagen des zivilisatorischen Dunkels? Es ist das Blicken und das Durchqueren von einer Individuen-Stimme die poetisch hinführt zu einer Art von Gesang: „We bomb! Thina bomba!“

Chirikure Chirikure, „Aussicht auf eigene Schatten. Gedichte“, Afrika Wunderhorn-Verlag 2011 (Heidelberg)

Chirikure Chirikure – the poetical art of sensibly-found allegories and regaining the subjective speaking

by Birgit von Criegern

In his vigorous performances, the author Chirikure enters the moment by his poetical work of speech to a voice and his intellectual art

2.01.14

Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, auch das ist nur scheinbar.

Franz Kafka, Baumstämme.

 „Demokratie ist das Instrument, mit dem die Eliten die Massen überall unter die Knute zwingen, Demokratie ermöglicht es der herrschenden Elite, die einen ins Gefängnis zu werfen , die anderen der Armut preiszugeben, und macht sie zu den alleinigen Inhabern der Macht. Wer weiß, was für ein Volk gut ist? Wer weiß, wen das Volk am meisten liebt? …Geh nach Moskau, geh nach Zaire, geh nach Bonn, geh nach Kairo oder komm nach Mogadischu. Die selbst ernannten Führer werden es dir sagen.“

Nuruddin Farah, Vater Mensch (Close Sesame).

 Since I visited two of his events, the poetry and performing of Chirikure Chirikure fell into my everyday-dreaming of calculating and moving in the streets. Chirikure Chirikures poetry will just remain in your memory by transmitting his unique perspective to daily-lived habits or feelings, and by telling about life and struggling of Simbabwe people.

You listen to texts of short, silver-bright paragraphs of precise, agile words that follow up to a completed allegory or question, up to a kind of new perspective. For, the philosophical, attentive-appearing personality of Chirikure Chirikure often leads to witty points and reflections – but well-understood, the themes and tableaux arise from deep ground, his speech lines out the vulnerability or the caution, the working or struggling of people. In his verses, Chirikures texts tell about a field of life that`s deepness awaits behind the episodes and the experiences of life. There is a special intellect who opens up to a clear-couraged or a witty position in the fog of bitterness or of habits. The lyrical voice brings out the spirit of a human moving or handling on this ground. And it opens up to a richness of knowledge-takings and of keeped legends in the story of his tribe. To me, this kind of literature seems a beneficial demand to our reflecting and listening qualities while I thursted a long time under a poor contemporary german literature-production. What a plenty could the highest-classed writers of the today-institutions here learn! Because it seems to me, a majority of the successful writers often uses the word like a packed-up product to a general fixed understanding (that adapts too well to the media-understanding of these terms) , scarcley coming out of individual attitudes. It seems to me, that the somehow sterile character of their subjets is caused by their managing without references to a personal experiences, class or surroundings; I must even suspect that their only important reference goes to the high media or policy.

But Chirikure reputs life and observations to poetry. All of his poems were originally written in Shona, his motherlanguage. As you can read in the explication to a collection of his oeuvre in „Aussicht auf eigene Schatten“ (Wunderhorn-Verlag 2011), he clearly decided to use this motherlanguage instead of the colonial language of English, in positioning for the hereditary people. Simbabwe had been conquering it`s independence in 1980.

To his Shona text`s, Chrikure later on realized English translations. On his performances, he brings his Shona and English texts to the audience listening. And in his book there you also read german translations by Silvia Geist. To the book, a CD added livers also the voice and performing of Chirikure from his poems.

 And like that, I could enter into the sound of Shona poetry at Chirikure`s performances by getting to know, as german born listener who never was in Simbabwe, this language at first. The rythmical order of the Shona sentences while also ranging in the sounds of (philosophical) speech, gives a melodic but meanwhile communicative character to the ears. Not-knowing you can meanwhile start understanding- this might be a message for our listening-teaching during this intercultural happening.

Afterwards, the author gives the english translation of the same poem. And you can go on and listen fully understanding, and rational interpretation can move on. The author living in Paderborn, born in Simbabwe, opens minds. First time I had witnessed a performance by Chirikure Chirikure, was at his event at the 4th of July 2011 in the cultural and political forum of Africavenir. He impressed me by his text performances in short sharpened sentences with his changeful voice, accompanied by music to some of his poems.

Now I saw and heard his performing another time at the dialogue forum about „Global World and Society“, organized by the performance artist Anja Pollnow at the Heinrich Böll-Bildungswerk, in the location of the Kreuzberg „Expedition Metropolis“ in the building of the „Desinfectionsanstalt“. In this frame at the weekend of the 16/17th November, the exchange about society ,migration and developping minds took place with diskussions and workshops of Berlin-people, activists, demonstraters, students and artists. The speaking of cultural workers like Abdi Demera and Dawit Shanko, Chirikure Chirikure and the artist Pollnow, and of socially interested persons as the economist Michael Fischer and the parson Peter Storck of the Heilig-Kreuz-Church led to discussion about responsibilities with the interested audience of neighbours, students and others – without any artistic barriere. Activists of the Berlin protest camp of the asylum-strikers took part and gave the advice that a solidarish praticing can and should widen the space for a common living society. The interest of the forum talking was about the evolving of common acting and solidarity and also about hinderings of racist limitings to migrants and their expression in everyday society and migration politics.

 At the second day of the meeting, Chirikure`s performance took place. Now what means performing? I`m not a special expert, but I think, it is the common moving brought about by the artist. I even could refer to a special interpretation of performance sense, that is a Asamblea ( or of greek Agora), the community gathering around a will of speech.

Chirikure takes us into his reflecting work, wherein he enters on moments, social observations and natural appearances. And the subjects of his poems live or question in the global world or in the society of Simbabwe. The country had been reigned over, after the Berlin colonialist conference of 1884, by the colonialist english control and their racist segregation, and even today sees big needs and economical problems out of remained dependencies and of advancing ecological problems as aridity. And the Mugabe gouvernment today means oppression and violent acts against the inhabitants.

 As a political example, the witty poem of „Shabeens“ gives a monument to the bars where the Africans, the poor people met for having a drink and gathering for a communication and talking in an independent way of the daily occurances. They had been forbidden under the colonialist regime, but never had been disappearing. And Chirikure `s poem brings a clear attitude of life-experience into the two-sentences- poem, by the formulation notion that these bars have lasted and would ever last on as informal locations, where good jokes are made on daily politics.

 In „Directions“, the single individual faces the political commandment, when Simbabwe citizens are supposed to adapt to the „look east-policy“ of the gouvernement. With a formulated lyrical „I“, here is spoken out the self-reflection of a human positioning „sitting on the globe“ that rotates in its own direction, independent to the politically wished direction of thinking and writing. And here he refers to a grand theme that is not even today being discovered by many europacentristic thinking writers of contemporary poetry ( to whom I count especially the Büchner-price-and Döblin-price-authors of the passed twelve years): Chirikure here also gives to understand the relativity of directions while a commanded directioning wants an absolute looking and taking of attitude, and this can also arise from a commanded writing/ reading practice, politically required: For example, the requiring of a single language use by forbidding others, as colonialists practiced. Or the use of a textual tradition by writing from left to right or by writing in only one required letters-system. Beneath our contemporary german culture, I do see few exceptions who bring to irritation the traditional western text-understanding: It is e. g. a Yoko Tawada („Talisman“ and other works), to who Chirikure here shares his question-asking about produced habits and their conductioning-effects in a culture. And he also seems to share his critical sense and political dynamics with Nuruddin Farah, who in his roman „Maps“ reflects in an episode about oppressive gestures of writing-teaching to the child-protagonist, and of politics of dominance by demanding a single language-use ( during the Somali-Ethiopian conflict) .

 In „Mutserendende/The sliding game“, Chirikure describes the characteristical children`s game of riding a log of a cuttened old piece of a tree tronk and going down the hill. A conclusion speaks out elegantly and meanwhile comprehensively simple an allegory: that some people`s way of living can just be the same. And the text, performed by the furious movements of the author, brings this transmission of a custom of childhood-living in the author`s referred society to a happening of understanding. So the european non-used listener gets to know and gets to experience at once. We can take part in this experience. The lyrical sight on the things and on the people gives observations and obviously discovers new alliances of sense out of appearances. So, to me Chirikure also appears as a poetical discoverer of allegories and of new speech-materials out of situations and natural things. There is a kind of cosmos, a Chirikure-landscape, that opens in the sometimes astonishing and witty formulations.

 Especially the poem of „Stolen Light“, that describes the Chimanimani Mountains, obviously brings an extraordinary piece of thought-movement. It is the poem that describes the Chimanimani mountains that, surrounded by fog, can never gather a look at their own shadow- the poem of a subjective anxiety of thought about this problem in front of the eyes. This philosophical poem goes deeper than what I ever read in contemporary poem-writing of from the last decades. By one step, the thinking goes beyound appearance, by a second, beyound imagination -but the thought going consequently on. As all of the other mentionned poems, it can be read in Chirikure Chirikures collected poems in the book „Aussicht auf eigene Schatten“ of the Africa Wunderhorn-Verlag 2011 (Heidelberg).

Here in his fine way of perception, going close to the things and as well to the natural creatures, I remember Kafka looking-glasses. But other than Kafka`s subjects, I think that

Chirikure‘ s subjects travel the dimensions of an individual instructed that always is on the way of community-searching of truth. Chirikure`s references bring the telling of knowledge from heritage and ancestors together to the individual observations of the instance. Nevertheless I`d compare his sensibility of recognizing the power`s cross-lines through space and even bodies to the sensibility of a Kafka. And in poems of daily-living aspects, clearly, Chirikure`s poetical view confronts the individual human`s sight to the power`s overwhelming presence. Here and there, we can also witness, that the poetical speech grows in it`s force, the finer and modester the individual occupates the landscape of matter.

So this author by his independent art of speech is extraordinarily imporant to us and to society, to our evolving or regaining attention and individual clearing up.

 Chirikures texts confront individual perceptions to appearing objectivity, sometimes fixed-up, in a human living space crossed-through by lines of habits or even commandmends. The sometimes arising „me“ in the texts or the voice-transmitting of experiences lead to a kind of knowledge shining from a bitter dust of living and surviving landscape. The moving acts of the sentences go deep to human acting and positioning. Is any kind of habit a constructed? Perhaps in a general meaning it is, but the means of fixing are to be followed. Chirikure`s texts do the revealing work. As Farah, I esteem him a very political author who souvereignly works out la parola, speech in artistic and reflecting way. Looking at concrete aspects of living, a voice is built, that sometimes approaches a legend-chanting subject, keeping the heritage of a people and a family, and that sometimes speaks as a social individual with satirical touch. In his using of pointed svelte sentences in a masterful esthetical language, I feel reminded Emine S. Özdamar. Certainly, he also shares her positioning for a people `s independence, whose heritage and spirit the author takes part in.

 By performing, the author recites his texts freely, moving in the room on the energy of the rhythms and the message forming out. With an undeniable personal presence Chirikure, of a fine thoughtful feature of the face, he goes on and interweaves the room with his thought. And he uses changes – such of voice and movements. So he goes on with souvereign changes from a slow-sepaking reflective character or notice-spreading in a personal atmosphere up to furious shouting and shaking up. By personal dynamics, he works also on a special thing for us, that is needed I think: He moves on the different ranges of speech.

Animated such, you know, that this literature is of the stuff of intellect and of life. And Chirikure`s performance rediscovers what the conservative literature-production did forget: That poetry also has an important aspect of taking and giving speech, and the poet`s text not only needs to be textual. In the conservative german lectures, a text always claims its textuallity for – almost- the highest-intentionned effect. The lecture in an academical and high-priced frame seems to give the safricife for that kind of poetry, to that an audience, by class-procedure, should adapt. So we remain hungry of references and of individuality from that texts that are- I think- often been produced for textuality itself. And what a seducive project is this kind of literature-production in a time when textive texts and abstract words are inflationing by political speech and media-publicity.

 Meanwhile, I esteem Chirikure as an extraordinarily important author to our days, who, perhaps subversive but anyway dynamical and fully poetical intellecutal, can teach us

that speech is to be gained again by thinking-acts, by doing individual references and positioning. Wouldn`t we need this message in a media-fussing-infected culture of here and of the global world or „village“? And further on, Chirikure`s work by his critical potential and his souvereign deveiling of objective appearances have to be supported- they take part in a cultural progressing that is, for me, not about a “universal” literature, but about an intercultural necessitiy to the german society. And here, we will have to see if development remains conservative. At present, high german authoritarians remain in a misty homogenizing politics and practice “otherness” or silence to the immigration and migrative culture.

 Another example for the complex dimension of the poem`s themes, where customs and episodes of daily life are witty looked at, but also a deep feeling for human`s shelteredness and needing arises, is given here. In the poem“Thina bomba/We bomb“ in regular-rhythmened sentences, speaking straight up to the point, the author reflects the coming up of bombs. In this poem he demonstrates the strenght of the lyrical speaking that remarches the unthinkable. And by the used “we”, it is clearly a positioned lyrical speaking: Not abstractly lining out an evidence, but taking part in a group that is deveiled as the human`s group.

By the accuseful speaking up to shouting, here a human subjective marches on the strange consequence from the human to the inhuman, a marching in verses. It starts at the way of human`s talking. „One person said, talking is too slow, better use fists“. A consequence is being followed – over the fists and the stones. In the end: „Thina bomba. We bomb.“ The poem doesn`t talk about concrete political forces of the world. This piece of poetical speech handles about the not-handled. It is the text of the subject thinking on surrounding violence that cannot be human-comprehended but nevertheless has its human-produced story. The only remained power to the individual living at this moment of down-going (wo)mankind is the moving by going through the development, and positioning in the self-accusage – that is, against someone`s self. It is speaking coming from the individual, the

courage of putting to words what is habitually veiled by human living everyday focus – and by politically produced schemes of „justice“, by political gouvernments of the countries or of the large Nato-world-system of values.

And here I discover a large movement in the regular verses that clear out what is to feel again: What it means to be a human subject in confronting this fact, confronting history of the subjects that produced overwhelming objectivity. For this unsolved contradictory in the up-coming of the bomb, it doesn`t meanwhile discharge us from responsability. This kind of knowledge I tear from the poem, and feel reminded of one single european philosopher of the 20th century who appealed us in a similar way to this responsibility, Günter Anders ( „Endzeit und Zeitenende“ and others).

 Contradictory: We follow the inhuman consequence of a special kind of human development – and in this way the poem reveils the line of objectiving fact-building that went on with great negation-processes by power-policies. Negations in concern to human individual subjectivity, negations of the respect to humans and to people and to the (nevertheless proclamated) aims of (wo)mankind progressing and moving on – negations since some of the past centuries. A historical cut-line can, out of the poem, only be fulfilled by the listener`s ideas and by the listener`s talent for anxiety and researching in history.

But for sure, the up-coming of the destruction started with colonialist and imperialist violence some hundred years before. And as we can see today, it has not been handled or worked off by the nations that brought this violence and hegemony (with still remaining ties of postcolonial practice and dependence-controls by gouvernment-alliances or economical policies). And of society-cultures living in these nations, as, for example, the german society forgetting and playing down our fascist heritage. Bombings and power-policies have been starting and developing, as we know, in the strong countries of the industrial north, by the ideological pact of the capitalist countries of Europe and the US. All these can be coming to the mind while the author gives a universal picture of the violence-developing. Here, Chirikure gives a text to the civilization of the 20th century and further on, which often esteems itself a cultural zenith. But this pessimist turn of speech here means , as I lectured many of the pessimist sentences of the good authors- the favor to us , that consists in awareness and human respect. What builds the special poetical acting to the global point of violence-producing in the days of civilization twilight? It is the looking and going through by the individual`s voice, in a poetry leading to a kind of chant: „We bomb. Thina bomba.“

Chirikure Chirikure, „Aussicht auf eigene Schatten. Gedichte“, Afrika Wunderhorn-Verlag 2011 (Heidelberg)

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Von der Selbstbehauptung der Geflüchteten: Die Theaterperformance „Die flüchtige Republik/ La République en fuite/ the fleeting Republic“

Birgit von Criegern

Juli 2013

 Fa- ukhruj ma´na ila hadha al-lail al-khali min al rihma! (Mahmud Darwish, Fi Hadrat- al- ghaiab)

Und geh  mit uns hinaus in diese Nacht, die kein Erbarmen kennt! ( Mahmud Darwish, „Anwesend abwesend“)

Vom 22. Juni bis zum 29. Juni bot das Refugee-Camp am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg ein Kunstfestival mit einer Ausstellung, mit Filmen und Workshops sowie mit dem Theaterstück „La République en fuite- die flüchtige/ the fleeting Republik“. Das Refugee-Camp gab damit auch einen künstlerischen Beitrag während der langen Phase des politischen Wirkens am Platz. Im Umfeld bildeten die Aktionen des Refugee-Camps eine wichtige Struktur mit AnwohnerInnen und Initiativen, die Politik von unten erwirken und sich der kommerzialistischen Welle entgegenstellen. Hier in der Umgebung des Kottbusser Tors haben die Refugee-AktivistInnen seit fast zehn Monaten ihre Zelte und die Infostruktur errichtet, um Bewegungsfreiheit und Bleiberecht zu fordern. Eine Minute zu Fuß entfernt befindet sich das „Camp Kotti und Co“, in dem AnwohnerInnen seit zwei Jahren für den Erhalt der Nachbarschaftskultur mit bezahlbaren Mieten streiten – „I love Kotti“, beharrlich, gegen Sozialkontrollen und Kiez-Aufwertung. Und ebenfalls am U-Bahn-Knotenpunkt Kotti liegt   das jüngere Taksim-Platz-Solidaritätszelt, in dem AktivistInnen eine Wandzeitung aufgebaut haben und ihre Solidarität mit den MieterInnenkämpfen von Istanbul erklären.

Zu diesem Zeitpunkt benötigte das Refugee-Camp zufällig wieder besondere Unterstützung, da im Juni mehr Schwierigkeiten auftraten. Nach meiner Ansicht kamen diese Schwierigkeiten in diesem Moment einzig und allein von außen – mit der lebensgefährlichen Messerattacke durch einen Passanten gegen einen Camp-Bewohner, wie viele AugenzeugInnen vom Camp berichteten. Leider schrieben einige Zeitungen nach dem 17. Juni von „Streit“-Angelegenheiten zwischen dem Refugee-Camp und dem AnwohnerInnenumfeld – der neutrale „Streit“- Begriff widerspricht aber gänzlich der Pressemitteilung des Camps bei www.http://asylstrikeberlin.wordpress.com. Gemäß dem Bericht des O-Platz-Camps erfolgte am 17. Juni eine von außen ausgehende lebensgefährliche Gewalttat durch einen Passanten gegen einen Schwarzen Aktivisten, sowie noch dazu rassistische Verbalattacken durch dabeistehende Passanten. Die von den AktivistInnen selbst hinzu gerufene Polizei habe dann Pfefferspray und noch andere handgreifliche Repression gegen die Camp-BewohnerInnen eingesetzt, so die Erklärung der Asylstrike-Bewegung.  Die Camp-BewohnerInnen waren selbst zu diesem Zeitpunkt ganz offensichtlich nur mit den Transparenten und Flugis des Infopoints „bewaffnet“ und mit ihren Stimmen, mit denen sie sich energisch gegen die handtätige Gewalt und rassistische Verbalattacken wehrten. Ein relativ guter Bericht bei der RBB-Abendschau vom 19.6. ließ allerdings auch einige von den Opfern zu Wort kommen, die bei Polizeiübergriffen verletzt oder beleidigt wurden. Der letzthin anberaumte „runde Tisch“ des Bürgermeisters Schulz mit dem Camp und BewohnerInnen in der folgenden Woche sei übrigens in der ersten Sitzung positiv verlaufen, berichtete das Refugee-Camp.

 In der betreffenden Woche wurde täglich das Theaterstück „The fleeting Republic“ der KünstlerInnengruppe von den Arts Vagabonds Rezo Afrik Benin auf dem Camp-Platz aufgeführt. Die große Thematik von Flucht und Unterdrückung wurde mit einem Handwerk von szenischem Spiel, Rezitation, Dokumentation und Musikverarbeitung übermittelt. Die Selbstbehauptung Geflüchteter durch Europa wurde hier, nicht nur wörtlich, unter ein Zeltdach gebracht: multilingual und musikbegleitet, gestisch, mit Rückgrat und Einsatz der KünstlerInnen. Die Akteur, selbst Flüchtlinge und Aktivisten des Camps, trugen hier auch Lebensberichte vor, die ihre eigenen waren. Sie verkörperten ein Stück von ihrer eigenen Biographie und übermittelten damit den Zuschauenden die Möglichkeit, teilzunehmen an einem Moment der Selbsterklärung und der direkten Zurückweisung der Verwundbarkeit. Es erschien mir als ein Akt der Kommunikation, in dem die Spieler hier diesen Moment öffneten: Hier konfrontierte ich die Differenz und die Unfreiwilligkeit, indem die Berichte der Refugee-Künstler von Gewalt und Verwundbarkeit dem Gehör eines Publikums überantwortet wurden, das wie ich unmittelbar in eine Bewegungslosigkeit verwiesen ist, nur den Respekt des Hörens und Rezipierens aufgreifen kann. Dass dieses Publikum selbst aus dem Antira-Umkreis der sympathisierenden UnterstützerInnen herkam, änderte ja nichts an der allgemein gefühlten Andersheit in diesem Augenblick. Sind wir nicht auch Zuschauende, als europäische Weiße in der geschützten bürgerlichen und staatsbürgerlichen Ordnung, in den täglich überwältigenden Machtstrukturen des EU-Apparates? Nur im individuellen Verschwinden liegt unsere Chance, indem wir an „Break-Isolation“- Kämpfen Geflüchteter teilnehmen, die No Border –Forderung stützen. Hier in dieser Theaterperformance fühlte ich zumindest den schwer erträglichen Abstand. Die Aufmerksamkeit der etwa fünfzig ZuschauerInnen an diesem 29. Juni schien zu zeigen, dass mensch die Differenz anerkennt und den Respekt sucht. Um uns im Unerträglichen zu positionieren, müssen wir uns zuerst den Unterschieden stellen.

  Der Regisseur Christel Bageedi und die Schauspieler Yahya, Mamadou, Ilhan und Keita sowie die musikalischen und technischen Ausführenden bespielten den Platz selbst, sowie das Innere der Zelte und die Bühne im „Zirkuszelt“. Musikalische Mittel, Bühnenspiel und mediale Projektion (mit Fotos und Dokumentarischem) wurden vereint. Dass dieses Performance-Theater den freien öffentlichen Raum – unter anderem- bespielte, ist wohl kein Zufall der künstlerischen Wahl gewesen. So wie die Schauspieler ihre eigenen Lebensberichte aus einem Dasein der schutzlosen öffentlichen Wirklichkeit lieferten, wurde hier der öffentliche Raum beansprucht, um im Künstlerischen zu sprechen.

 Im Freien in der Mitte des Camp-Platzes eröffnete die Szenerie mit einer Musikdarbietung; Violine und Trompete spielten eine getragene melancholische Melodie. Zum fortgesetzten musikalischen Spiel erschienen die Akteure und marschierten mit den Fahnen mit Aufschrift We will rise der aktuellen Refugee-Camp-Bewegung über den Platz. Ein Mann stieg in ein Gefährt, einen alten Einkaufswagen, und ein zweiter Spieler schob ihn über den Platz. Der Mann im Wagen winkte und schwenkte mit glücklicher Miene die Hände zum Gruß in Siegerpose. Dazu präsentierte sein Begleiter Stichwort-Themen auf Schildern in fünf Sprachen, darunter: „Symbols- symboles, Symbole, maalim“. „Heimat“, „Home, endroit“;  „Mein Weg, my way, tariqi, mon chemin“; „hier: huna, here, ici, burasi“. In diesem Moment des Spiels befanden sich Darsteller und ZuschauerInnen am Straßenrand, genauer gesagt bei der Bushaltestelle an der Oranienstraße, und Vorübergehende nahmen gleichfalls Anteil am Geschehen.

Anschließend führten die Darsteller das Publikum in die Zelte der BewohnerInnen und boten uns Plätze  auf den Schlafstätten an, empfangen von zwei Bewohnern: „Don‘ t be shy, just come in. Here is where we live“: Hier, in einem einfachen Zelt, in dem Schlafsäcke auf Matratzen aufgelegt sind, für vielleicht vier Personen, und kein Zentimeter Raum vergeudet werden kann. Auf einfachen Obstkisten als Tisch aufgebahrt liegen Nahrungsmittel hier und dort, an einer Schmalseite steht ein Fernseher. Der Zeltbewohner Bashir  kommentierte ironisch für die Besucherinnen: „We watch Fußball, you know!“, und er bot den Gästen Äpfel an. Es sei wichtig, sagte er uns, sich einmal in die Situation der Geflüchteten hineinzuversetzen: „This is our way of living. We`re not bad people, you know.“

 Es folgte der Wechsel zum Bühnenspiel im großen Zelt (dem Zirkuszelt). Hier wirkte im Hintergrund der Sitzreihen eine Musik-Combo von vier Sängerinnen. Im Vordergrund war ein Bühnenraum frei sowie ein Monitor mit DVD-Bespielung angebracht. In diesem Moment setzte eine musikalische Darbietung von vier Sängerinnen an mit der Liedzeile „Kein Mensch ist illegal“, die in Form eines Kanons wiederkehrte. Die Harmonie erinnerte mich an die melancholischen Klänge mittelalterlicher Stücke- meditativ, getragen, entsprach sie der feierlichen Musikeinspielung vom Beginn der Performance. Auf das erste Lied folgte eine Liedvertonung des Brecht-Gedichts über den Pass, „den edelsten Teil des Menschen“, begleitet von Gitarre Geboten wurden auch musikalische Aufzeichnungen von Stücken aus Mali.

So nahmen die ZuschauerInnen in den Sitzreihen im Zelt Platz, während ein musikalischer Raum mit nachdenklicher Grundstimmung aufgemacht wurde. Dann traten die Schauspieler mit den Fahnen We will rise vorne im Bühnenraum auf, riefen: „Freedom of movement is everybody`s right“. „Solidarité avec les sans-papiers!“ Minutenlang erfüllen sie das Zelt mit dem Rufen; es ist das Rufen der No Border- Kämpfer, von Schauplätzen der Demonstrationen in Deutschland und in Europa, die heute kaum noch zu zählen sind: Von Würzburg, München, Passau, Regensburg bis Dortmund und Düsseldorf, von Bramsche-Hesepe bis Harbke, von Büren bis Berlin-Grünau und Eisenhüttenstadt. Wir können diese Rufe heute aus der Antira-Szene evozieren und an zahlreichen Städten festmachen, aber auch an ihnen die Reglosigkeit der deutschen Verwaltung festmachen, die nur Stück um Stück reagieren muss, genötigt wird.   Im Anschluss werden die Flaggen beiseitegelegt, die Gruppe formiert sich zum Spiel. Ruckartige Bewegungen gehen durch die Gruppe: Nachdenken, Abstützen. Zögern. Nach-vorne-beugen. Warten. Dann sehen die Spieler, in eine Reihe aufgestellt, dem Publikum entgegen. Dazu wird ein Text gesprochen, übersetzt in drei Sprachen:

„Wir sind Geflüchtete, aber was heißt das? In den Ländern, aus denen wir kommen, in unseren geplünderten Häusern, unseren heimgesuchten Wohnstätten, aus denen wir geflüchtet sind, da nennt man uns bei unseren Namen. Aber hier? We are Refugees, but what does it mean? In the countries we fleed, in our pillaged homes, we are called by our own namens. But here, we are Asylum-Seekers, Migrants, Criminals, Illegals. Wir haben unsere Heimat verlassen, unsere Familien, Kinder, Freunde…Was sind die Gründe? …Nous avons quitté nos maisons, nos pays, nos familles, nos enfants, nos amis. Pour quels raisons? Ce soir, nous sommes la pour parler de nous. Vous etes la pour ecouter nos histoires. Tonight we will get to know each other. There is no pity and no laughter, but the space for reflection and exchange about ourselves and our lives. Ici il n`y aura pas de pleurs. Pas de ris. Il n`y a que des possibilités de reflexion et d`échange a propos de nous et notre vie. Soyez les bienvenues dans la république de fuite.“

 Es folgt eine Video-Bespielung mit einem Mitschnitt von der jüngsten Eskalation und den Polizei-Übergriffen am Refugee-Camp Oranienplatz, vom 16. Juni nach der Messerattacke: Aufgewühltheit, Geflüchtete und UnterstützerInnen, die in der Begegnung mit den Uniformierten diskutieren.

Dann wieder bewegen sich die Darsteller vorne im Bühnengrund. Ein Mann stellt sich auf und proklamiert. „Wir, Geflüchtete, Migranten, kommen aus verschiedenen Orten der Erde. Wir kommen , Geflüchtete, die die Bomben der NATo überlebten, kommen von Lampedusa mit verschiedenen Pässen. …Wir sind Flüchtlinge, die durch Dublin II unterdrückt werden. … Wir kommen, weil unsere korrupten Regierungen die Bevölkerung ausbeuten und weil die Westmächte Geschäfte machen mit Öl, Gold, Holz, Phosphat, Coltan. … Nous, réfugiés de différent lieux du monde, venons parce que nous avons survecu les bombes de l`OTAN. …Nous, combattants, révolutionnares, activeistes, nous disons Non a l`exploitation des gens et `a la regle capitaliste.“

„Wir fordern: Die Schließung aller deutschen Lager. Den Stopp der Abschiebungen. Den Stopp aller Arten von Diskriminierung in der deutschen Gesellschaft. Die umgehende Integrierung in die deutsche Gesellschaft…“ „Kein Lebewesen ist illegal, außer im Kapitalismus, für den nur der materielle Wert zählt. L `homme ne peut etre profit pour l`homme“. Und: „Wir sind menschliche Wesen, keine Tiere. Nous sommes des etres humains, pas des animaux“. Dann stellt sich ein Akteur alleine, vis-a-vis- vor das Publikum:

„Ich bin Keita S., ich komme aus Mali, ich bin ein landwirtschaftlicher Arbeiter. Wegen Mangel in Mali bin ich geflüchtet…ich mußte einen Ausweg für mich finden. In der Wüste zwischen Algerien und Libyen wurde ich sehr müde und schwach…In Libyen blieb ich zwei Jahre lang und habe gut gearbeitet und Geld verdient. Aber 2011 war das Jahr, in dem ich durch den NATO-Krieg alles verloren habe. Die libyschen Polizisten haben uns direkt nach Lampedusa geschickt. Ich ging mit anderen auf ein Schiff. Auf dem Schiff war ich drei Tage lang ohne Essen.“

Szenarien folgen: Auftreten alle vier Männer, sie agieren, schreiten durch den Raum. Sie beugen sich, gestikulieren in wechselnden Situationen. „Cultiver!“. „Land bearbeiten!“ Dann konstrastiert dazu eine neue Situation: „Internet“. Ein Mann tritt in die Mitte, setzt sich pantomimisch an einen Internetplatz, den Sitz der Welt, der Welt-Flüchtlinge. Sein Kopf sinkt auf die Hand, gestützt, wartend, mit der anderen Hand bearbeitet er die Tastatur. Mehr benötigen wir nicht, und wir sind eingewiesen: Das Internet-Café ist der alltägliche globale Ort der Menschen: Um  Arbeit zu suchen oder Infos, um mit der Familie und Freunden zu kommunizieren- wenn Geflüchtete auf ihrem ungewissen Weg weit fort sind, den Kontakt zur Familie noch wahren wollen und doch die neue Existenzform suchen. Neue Situation: „Bateau- Boat- Schiff“. Die Akteure laufen kreuz und quer, blicken pantomimisch aus. Sie suchen, warten auf das Schiff. Sie schwanken und laufen.

Es folgt der Bericht eines weiteren Akteurs: “ I `m Ilhan, I come from Turkey,. If you travel, you never have money. …You have many problems, and people don`t know you. They always treat you as a foreigner. You can get into prison easily. I got into prison. …After I went to Deutschland, I had no Papiere.“ Eine andere Szenerie wird angesagt: „Kampf- lutte- battle“. Kämpfen: Ein Text wird gesprochen: „La lutte pour les réfugiés est nécessaire, pour leurs déclarations et leur droit humain au cœur de l `Europe“.

Krieg. „War, guerre, harb.“ Die Akteure laufen in einem Chaos durcheinander und kreuz und quer, begleitet von infernalischer Musik. Was sie hier wiedergeben, ist sicherlich Erlebtes, das sie in die spielerische Formulierung fassen; in der reduzierten Form, wenn sie mit ihren Körpern und Gesten die ausgelieferte Position mimen, zeigen sie uns viel, während uns heute im medialen Kontext hoch technisierte Simulationen von Krieg und Eskalationen nichts mehr übermitteln. Was können wir uns noch vorstellen vom Krieg, von den aktuellen Interventionen der NATo in Libyen, Elfenbeinküste und Mali, und von der täglichen Folge der europäischen Ressourcensicherung in Subsahara und Nahost? Was führe ich mir vor Augen von einem säuberlich benannten „Maschinengefecht“ aus TV-Sendungen, selbst wenn mir heute auch das Rattern der MG`s authentisch von BBC-Korrespondenten ins Wohnzimmer geliefert wird? Ich kann mir den Krieg nicht vorstellen, bin aber genötigt, mir ihn vorzustellen, wenn ich nicht weltlos und verantwortungslos leben will. Diese Pantomime hier gibt uns die Möglichkeit an die Hand, uns in ein Weltgefüge mit unfaßlicher Gewalt hineinzudenken. Da übermitteln diese Akteure uns einen Moment von Hoffnung, eine Gabe der Kommunikation. Sie sind selbst Opfer und Umgetriebene vom Krieg und geben unserer Beschränktheit ihr Spiel von erlebter Wirklichkeit an die Hand.

 Der Darsteller Yahya steht vor dem Publikum, während die anderen Schauspieler zurücktreten, ein drahtiger Mann in der Kapuzenjacke, der in einer leisen aber konstanten Stimme erzählt: Er komme aus dem Sudan, flüchtete nach Libyen, wo er nicht bleiben konnte. Er ging auf ein Schiff nach Italien, dort lebte er mehr als ein Jahr, aber er konnte die Verhältnisse nicht mehr ertragen. „In Italien macht man keine Unterschiede zwischen den Geflüchteten. Du bist Flüchtling, heißt es immer, wir machen keine Unterschiede. Du bist Flüchtling, du hast keine Rechte.“ Danach begab er sich unter Gefahren nach Deutschland, wurde in ein Lager verwiesen. Als er vom Refugee-Camp am Oranienplatz erfuhr, ging er hierher, und er sagt: „In Berlin gibt es gute Leute. Am Oranienplatz fühle ich mich gut, I´m OK here. Ich danke Ihnen, Leute aus Berlin.“

 Dazu schließt sich die DVD-Leinwandbespielung mit Texten an, die die EU-Gesetzgebung und Politik in ihrer Unmenschlichkeit erörtern: Der strukturelle Rassismus der Lager-Verwaltung. Die Dublin II-Regelung, deren Abschaffung gefordert wird. Seit zehn Jahren ist dieses EU-Gesetz „Dublin II“ in Kraft, das vorschreibt, dass Geflüchtete im europäischen Land den Asylantrag zu stellen und dort zu verbleiben hätten, das sie zuerst erreichten. Um den  katastrophalen Verhältnissen in Lagern in den Mittelmeerstaaten wie Griechenland und Italien auszuweichen, kann es dann für Flüchtlinge nur den Rechtseinwand geben, um auf vorübergehende Asyl-Mißstände in diesen Ländern hinzuweisen und , z. B. in Deutschland auf einen Asylweg zu verlangen. Etwa in Malta hat die Dublin II-Regelung schon dazu geführt, dass der dortige Staat bei Seenotrettung für Flüchtlinge im Mittelmeer zögert oder bewusst tatenlos bleibt- mit dem Hintergedanken, dass die Geretteten dann alle in Malta verbleiben müssten ( so berichten zum Beispiel die italienischen MitarbeiterInnen der Organisation „Borderline-Europe e.V.).

Von der deutschen Lagerunterbringung berichtet die DVD-Präsentation ebenfalls: Schikanen durch Heimleitungen und Ausländerbehörden, verweigerte Reiseerlaubnisse, Zermürbungen durch Isolation und Arbeitsverbot. In Halberstadt leben die Menschen zu mehreren zusammengedrängt in einem Zimmer, sie bekommen 134 Euro im Monat zum Überleben ausgezahlt; in Burg müssen die Geflüchteten in der Unterkunft am Rande der bewohnten Gegend verbleiben, erleben eine restriktive und harte Verwaltung, erleben ein öffentliches Umfeld, in dem sie von Nazis bedroht werden.

Ein Moment der Ruhe. Ilhan sitzt müde niedergesunken und rezitiert Verse von dem Schriftsteller und Dichter Turgay Ulu , auch dieser ein Oranienplatz-Refugee-Aktivist. „Um uns ist Nacht, unsere Häupter sehen zum Himmel“- es sind tiefe Worte von dieser Situation in einem umstellten Dasein, in einer Welt der Verfolgung. Die Worte erzählen davon, isoliert zu werden von rassistischen Gesetzen und der Apparatur in der Gesellschaft und Verwaltung, die Geflüchtete ausgrenzt, „damit die bürgerliche Ruhe nicht gestört wird“. Und sie erzählen von den Momenten, in denen diese Geflüchteten zusammenkommen, wenn ihre Empfindungen aufleben, wenn sie gemeinsam ihre Lieder singen in vielen Sprachen.

 Im Spiel und Auftreten der Akteure lag eine große Klarheit. Aber eigentlich zeigten mir diese Darsteller auch die Unmöglichkeit von bürgerlicher traditioneller Kultur heute. Denn im Grunde stellten die Refugee-Spieler hier beschämend das Bühnenwirken auf den Kopf. Sie nahmen den Bühnenraum zum Sprechraum, um sich zu äußern und sich gefahrlos hier in den Raum zu stellen, während sie mit den gleichen Äußerungen der Selbstbehauptung auf der europäischen Straße, im öffentlichen Raum, riskieren, Polizeigewalt und Inhaftierung zu erleben. So spielten sie gewissermaßen nicht, sondern nutzten hier das freie Wort in der Kreuzberger Kunstszene. So sehe ich etwa den Geflüchteten, der zu Beginn der Szenerie im Wagen als Sieger vorangefahren wurde und der sich mit glücklichen Siegergesten dem Publikum präsentierte, als einen, der in diesem Augenblick wirklich ankommen und das Ankommen ausagieren konnte. Ist doch der Augenblick des Ankommens der Flüchtlinge in der repressiven europäischen Ordnung getilgt und verunmöglicht, weil ab der bloßen Berührung mit dem Grenzgebiet Verfolgung und körperliche und seelische Verletzung aufwarten.

So konnten die Spieler im Spiel erst sich selbst wirklich artikulieren (auf der Ebene des Migranten, nicht auf der Ebene der individuellen Pläne und Ansichten), sprich: So wurde hier die Bühne zum Ort der bloßen Freiheit, zu sprechen ohne rassistische Unterdrückung. Was das von Räumen in Berlin und in Europa aussagt, sollten wir uns merken. Damit zeigten sie mir auch, dass das Agieren im Theater unter den körperlich und seelisch zerstörerischen Instrumenten der alltäglichen europäischen Ordnung kein ästhetisches mehr sein kann. Die Ästhetik geht. Sie ist heute nur der bürgerliche Ballast in einer selektiven Weltordnung. Das Publikum, das ohnehin täglich Publikum vor einer überbordenden EU-Verwaltung wurde, kann kein Publikum mehr sein, wenn es zu denken und zu streben beginnt .Wenn im Agitprop-Theater und in Brechts epischem Theater das Publikum ein entspanntes sein sollte, damit die überlegte Haltung ganz aus eigenen Interessen heraus erfolgen konnte (siehe „Das epische Theater“ in Walter Benjamins Besprechung, Angelus Novus, 1988, Suhrkamp), so hatte uns in der europäischen Sozialisierung jahrezehntelanger Konsum schon längst in die Besinnungslosigkeit befördert. Heutiges bürgerliches Theater versucht dann noch, mit Formen von Schock oder Ekel die künstlerische Sensation zu erwirken, die den Konsumismus noch einmal reproduziert. All das wird uns noch mehr von der Welt entfernen und unsere Sinne betäuben. Zuhörende und Suchende müssen wir sein, und die handelnden Qualitäten in der Begegnung wiederlernen, die wir in jahrzehntelangem Konsumismus verlernt haben.

Der Gedanke der Performance-Künstler jedoch, der die „Republique en fuite“, die „flüchtige Republik“, formulierte, zeigt mir den gegenwärtigen und zukünftigen Entwurf an, wenn wir authentisch in der Welt sein wollen. Im migrantischen Sein proklamieren sie die Republik, die heute schon wirkt und sich ihren Weg erkämpft. Die nationalen Grenzziehungen werden einerseits verworfen, und andererseits proklamieren die  solidarischen Refugee-AktivistInnen Identität in einer eigenen Form von Republik. Die  Kraft ihrer Forderungen und ihrer Präsenz im europäischen Raum wiegt die Konstruktion von nationaler Identität der europäischen Regierungen auf, so erklären sie.

Auf das Spiel der Akteure folgten die DVD-Projektionen, Zusammenschnitte aus zahlreichen Dokus, auf den Monitor an der Wand geworfen:

1999- zwei junge Guineer starben, als sie sich in den Frachtraum eines Flugzeugs nach Europa einschlichen und dort erfroren oder erstickten. (Ich habe noch die Zeitungsnotiz der Berliner Zeitung von damals in Erinnerung: Die beiden jungen Männer hatten einen Abschiedsbrief an Europäer geschrieben für den Fall, dass sie sterben sollten: „Unsere Leute leiden und brauchen Hilfe.“ ) O-Ton-Berichte: Leute in Senegal und Mali erzählen von abgewehrten Fluchtwegen: „Moroccon policemen opened fire , they killed people…. My friend got his feet burnt in the desert. ..Very recently, they killed peolpe in Ceuta.“ Theophile Obenga: „Amnesty knows what is going on, but do they invent in any way?“

„The European Politics say: Yes to African ressources, but the African Peopl have to kep out“. Aminata Traore, writer and former minister of cultural affairs of Mali: “ The european politicians should just stop this pillage of thev ressources that ist gionig on…Since threee decades we know what is going on, but when will the responsible ever change the situation?“

Die deutschen und europäischen Lager müssen geschlossen werden. Das europäische Grenzregime mit Dublin II und III und mit dem Wiedererstarken von Polizeigewalt und rassistischer Repression muss abgeschafft werden. Auf ein zweckloses Mühen vor der Machtstruktur der europäischen Ordnung zu verweisen, müsste bedeuten, sich mit der Zuschauerposition zufrieden zu erklären – im Leben genauso wie in der Kultur. Und dass es unerträglich ist, bewegungslos zu bleiben,  verdeutlichte mir auch diese Performance.

„Roma Renaissance“. Eindrücke von Verwandlung und Kraft in Bildern der Kunstausstellung in Berlin-Kreuzberg

Birgit von Criegern

26.05.13

 „Die Ehre der Nahrung“ heißt das Bild von Guzstáv Nagy: Eine große Grafik, Filzstift, schwarz, auf Papier, weiß, eine starke Form, schwunghaft und klar:

Die Figur neigt sich tief, bis in den Buckel hinein, einer Schale zu, die, am unteren Ende des Bildrandes, deutlich dasteht (und doch skizziert ist nur auf das Allernötigste). Das wird klar: Der Mensch verneigt sich vor dieser Ehre, dieser Schale. Die Figur weist uns das Profil, scharf umrissen die feine Nase, Mund, Auge. Jedoch der Körper zeigt keine Einzelheiten, rundet sich hoch bis in den oberen Bildabschluss hinein und dringt durch an den unteren Bildrand, ohne Füße, ganz Beugung. Geführt wird diese Form Mensch, hingeworfen, vom Stift in einer starken Schraffur – entschieden, gedankenhaft klar und grob.

„Jesus hat das Brot vermehrt“, lese ich unter anderem bei den Sätzen des Künstlers auf der Bilderläuterung: „Es ist eine der Voraussetzungen des Lebens“. Dass der Mensch aus diesem Bild mir so gut einleuchtet, kommt das denn notwendig aus einer religiösen Zeichnung? Es lässt mich an einen Satz der späteren, katholischen Simone Weil aus „Zeugnis für das Gute“ denken, den ich hier mal sinngemäß zitiere: An einem bestimmten Punkt im Unglück angelangt, müsse der Mensch einwilligen, nicht jemand, sondern etwas zu sein. In diesem Bild geht es sicherlich um Würde oder Bescheidenheit, denke ich mir: menschliches Müssen und Wollen werden hierin offenbar eins. „Was ist der Mensch?“ (Anders als: „Wer ist der Mensch?“)- ist diese Frage zu beantworten? Große Frage – sie wird bei Hannah Arendt in „Vita activa“, einleitendes Kapitel, als quasi „göttliche“ Frage von Kirchenvater Augustinus zitiert, Frage nach dem Wesen des Menschen, die nicht beantwortet werden könne. Eine große Frage, so tragend, dass sie immer wieder geschaffen werden könnte, natürlich. Von wem sonst wenn nicht von den KünstlerInnen. Ich finde: Eine Frage zu schaffen, diese Frage wieder zu schaffen, bedeutet einen wichtigen Akt, mit dem wir Luft zum Atmen gewinnen können. Außerdem kann ich nicht vergessen, dass ein medialer „Oh Mensch!“-Pathos von Wohlfahrtsorganisationen und Produktwerbungen aus Think Tanks, oder Werbung für Produkte oder für politische Strategien, mir heute quasi- Menschliches entgegenhält und mich ideologisch verkleben, vernebeln will. Sachzwänge und Kapitalströme werden dem menschlichen Bedarf übergeordnet, und das Diktat möchte sich auch noch in Menschenvernunft und in Zuwendung kleiden. Das ist erstickend und ich glaube zu fühlen, dass Erneuerung von der Seite der Kunst oder Philosophie, allein bereits bei so viel ideologischem Überbau, gut täte.

Jedoch es ist keine philosophische Vorliebe, mit der hier gerade die Rom-KünstlerInnen aus Ungarn die Frage wiederaufnehmen, die so verschütt gegangen ist. Sie wirken vor der Tatsache von Diskriminierung und Verfolgung der Rom bis heute. Und in der Ausstellung geht es wohl um die Frage nach Menschsein, doch auch um die Frage nach Identität und Community-Verortung. Diese Aspekte verbinden sich in dem vielfältigen Schaffen dieser KünstlerInnen. Und die tiefe Fragestellung, die ich heute in bildender Kunst kaum noch gewohnt bin, kommt aus ihrem Wirken als Rom-Künstler mit dem großen Vorhaben der „Wiedergeburt des Rom-Menschen in Europa“.

Aber vorher noch einmal zu dem Bild von Nagy mit einer religiösen Gestaltung des Menschen: Darin zeigt sich auch der Mut zur Einfachheit und zur Ruhe. Beispielsweise neigt diese Figur in diesem Bild dem Boden zu – während wir in der europäischen Profit-Gesellschaft (nach wie vor) dazu angehalten werden, manisch zu rotieren für traumhafte Schnäppchen, große Gewinne, tolle Erfolge. Auch denke ich, dass in unserer Landschaft der Discounter für angelieferte industrielle Nahrungsmittel, in unserer konsumistischen Zeit, ein Künstler mit dem Stift bewehrt, die Sprache rührt, unabhängig: und nach der Voraussetzung des Lebens fragt. Ich glaube, vor disem Bild genauso wie vor den anderen Werken hier in der Ausstellung zu erleben, dass ein langzeitiger Trend der bildenden Kunst, effekthascherisch, wie ich empfinde, wohltuend fernbleibt. Während so häufig in Gegenwarts-Kunst an Optik herumgefeilt wird und Eindrücke in der Netzhaut hängenbleiben – so dringen diese Bilder hier übers Auge in Denken und Erinnern hinein. Auch die zeichnerische Kraft in der Ausführung wirkt impulsgebend und lebendig auf mich. Zwischen Erfahrung und Hand bewegt sich der Gedanke? So ungefähr!

 In der Ausstellung der Romnij-Künstler mit ihrem Projekt „Roma-Renaissance“ werden kraftvoll Reflexionen angestoßen, die sich zwischen Rom-Sein und Menschsein – in Europa und gar in einer Idee Europa verortet- bewegen. Es wird erzählt, jedoch vor allem: gesprochen. Hier wird nicht dokumentiert, nicht konkret von der anhaltenden Ausgrenzung der Roma und Sinti in Europa berichtet, sondern auf dieser Erfahrung aufgebaut: ein „Haus“, eine Wohnstätte für den Menschen. Die Künstler ergreifen das Wort, und die BetrachterInnen sollten es aufnehmen. Das Sprechen steht nicht jedem in jedem Moment frei in einer europäischen Landschaft, die von so viel politischen Plänen, auch von ideologischen „Steuerungsprozessen“, und von faktischen Unterdrückungen gegen Minderheiten, durchklüftet ist.

 „Sostar?“- Die Frage „warum?“ wurde mit Filzstift auf blauen Grund im Bild von József Choli Daroczi zahlreiche Male über das Papier geschrieben und geworfen. Teilweise von Gold eingekränzt spielerisch, in die Kreuz und Quer zügelt die sichere Schrift, schwarz, über den Grund. Dass die Frage tanzen wird, wenn die Antwort schweigt, kann mir – vielleicht – Hoffnung machen: in dieser Ausführung zumindest. Ich denke an den Plural des Zweifels, der „Verzweiflung“ bedeuten kann. Aber das Schreiben, hier in einer sehr appetitlichen und ästhetischen blau-goldenen Wiedergabe, bedeutet, eine Gewißheit zu halten oder gar: einen Grund wiederzugewinnen? Fraglich: Was geschieht, wenn sich PartnerInnen oder Mitlebende dem Diskurs, dem Austausch entziehen? Es bedeutet Stärke, ihnen die Frage vorzuhalten, aber Kunst, sich selbst auch dauerhaft noch diese Frage vorzuhalten – ein Lebens-Projekt, farbig-lustvoll, experimentierend mit Papier und Stift. Da bringt das Bild für mich die persönliche Fragestellung: „Ist der (die) Andere eine Grenze, oder setze ich mir selbst die Grenze?“ Der Künstler József Choli Daroczi ist Schriftsteller wie auch Guzstáv Nagy.

In der Bilderläuterung wurde festgehalten, dass sich am 24.4.2013, also zwei Tage vor der Ausstellungseröffnung, eine „Künstlergruppe Sostar“ bildete. „Zu sechst möchten wir eine einheitliche, künstlerische und kulturelle Erneuerung formulieren, in der sich Roma innerhalb der Kultur entfalten können. …“

 Bild und Wort, das heißt hier: Malereien und Installationen sowie ein Video sind zu betrachten in der Ausstellung „Roma Renaissance“ von elf Künstlern, die sich auf Initiative des Künstlers und Kurators André Raatzsch zusammentaten. Hier formt sich ein Raum des Sprechens in der Galerie Kai Dikhas am Moritzplatz in Werken von André Raatzsch, Choli Darozci József, Guzstáv Nagy, Norbert Tihanics, András und Henrik Kállai, Nihad Nino Pusija, Lith Bahlmann und Moriz und Otto Pankok. Die Werke entstammen der Lebenswirklichkeit der Teilnehmenden, so erläutert die Ankündigung der Galerie. Wer noch kann, bis zum 7. Juni, probiere es aus. Tiefe und Elan sind spürbar.

Das bewegende Moment ist allerdings groß. Es ist das Vorhaben, nach den Vorbereitungen zur internationalen KünstlerInnen-Werkstatt in Budapest „die Wiedergeburt des Roma-Menschen (ungar. Cingányság) in der europäischen Kunst- und Kulturszene“ zu erzielen und zu formulieren. Diesen Weg beschreiten sie mit einem Manifest (unterzeichnet von Lith Bahlmann); vorangestellt wird der Satz des Dichters und afroamerikanischen Bürgerrechtlers Langston Hughes (1902- 1967): “Wir wissen, dass wir schön sind. Und hässlich auch…. Wir bauen unsere Tempel für morgen, so stark und mächtig wir es vermögen, und wir stehen auf der Spitze des Berges, innerlich frei.“

„Wir, deutsche Künstler_innen und Intellektuelle aller Generationen und unsere Freund_innen kommen sofort, wenn Roma uns in ihr `Haus Europa“ rufen, zunächst als Gäste, später als Freund_innen. Wir möchten, dass Roma und Sinti fortan Autor_innen ihrer eigenen europäischen (Kultur-) Geschichtsschreibung werden. (…)“.

„Langston Hughes gewidmet“ ist auch der Holzschnitt von Otto Pankok, das einzige Werk hier, das schon aus dem Jahr 1967 herrührt und die Verortung und Verbindung in Nähe zu der emanzipatorischen Bewegung der afro-amerikanischen KünstlerInnen dokumentiert. Die anderen Werke wurden beinahe sämtlich in der 2013 anberaumten Werkstatt „Roma Renaissance“ geschaffen. Um Lebenswirklichkeit geht es hier spürbar; auch die Wiederaufnahme von Mythen, teilweise im Bild eingesetzt, wirkt: Die starken Symbole, die mir so gut bekannt sind: An einer Stelle werden sie deutlich erschüttert und kontrastiert. An einer anderen Stelle rücken sie eine starke Botschaft ins Empfinden hinein!

 Wenn das „Haus Europa“ proklamiert wird, läßt mich das an einen neuen Bau denken – und der geht von (bodenhaftender) Tiefe bis in benötigte Höhe, aber nicht in den Himmel. Das Projekt dieser Medienkünstler und Dichter scheint mit dieser ermutigenden Absichtserklärung auch zu verweisen, was überflüssig ist: der politische Überbau. Und eine Megalomanie, die wir heute schon beinahe als Gewohnheit im Alltag zu übernehmen haben. Noch etwas fällt mir zum „Haus“ ein: Was die EU-Politik noch nicht unternahm, einen schlicht menschenverträglichen und wohnlichen Charakter Europas aufzustellen, formuliert das Selbstverständnis der Romni-Künstler hier. Der Charakter des „Europa“ bei den TechnokratInnen in Brüssel und in den Regierungen (die deutsche ist da fast vorneweg) erzielte nicht ein „Haus“ oder ein Ziel, das von der Gewinn- und Wettbewerbsmaschinerie abweichen würde: Sie errichteten einen Frontex-Zaun, der heute überragend und aggressiv dasteht und der wohl auch konjunkturell in die arbeitstechnische Welt und ideologisch in elitär gesinnte Köpfe hineingeflochten und- gedrahtet ist! Europa wird allgemein gepredigt und real errichtet als eine wachsende Maschine – ökonomisch wie auch militärisch-technisch und militärisch-aktiv wachsend und außerdem als eine Festung gegen „illegale“ Arme. Das „Haus“ im Manifest der „Roma Renaissance“ verstehe ich als einladend für die, die am Frieden arbeiten: Hierzu gibt mir das Werk „Pacha- Friede, Slobodia-Freiheit Kultura-Kultur“ von Guzstáv Nagy den Verweis: „In unserem Kontext benötigen wir zuerst Frieden.“ Darauf aufbauend möge die Kultur sich beweisen. Die Botschaft ist diskurserneuernd, sicherlich, und – eine Art „Geschenk“ von der künstlerischen Roma-Gemeinschaft. Das überlege ich mit Erinnerung an eine Definition von Isidora Randjelovic in einem Essay von 2006 („Auf vielen Hochzeiten spielen. Strategien und Orte widerständiger Geschichte(n) und Gegenwart(en) von Roma Communities“ in: „Re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color“, Mysorekar, Nghi Ha und Laure al-Samarai, 2007, Münster):

„…Es ist auch wichtig, die Suche nach und die Wiedergabe von eigenen Erzählungen nicht im Sinne einer kulturalistischen Identitätssuche zu verfolgen, sondern diese als Strategie gegen eine repressive und eingrenzende Erinnerungskultur zu verstehen. Indem das ‚Eigene‘ als Strategie und nicht als essentialistische Zuweisung genutzt wird, kann es eine Wirkkraft entfalten, die einem Geschenk oder einem Angebot gleichkommt, das je nach Kontext angenommen oder abgelehnt werden kann.“

Am Rande bemerkt, unterminiert das Rufen ins „Haus Europa“ der Roma-Renaissance-Künstler vielleicht auch ein antiziganistisches Klischee von den unsteten Wanderleuten.

Von einer Erneuerung, von Freundschaft sogar wird gesprochen in einer immer noch fortdauernden Geschichte der rassistischen Ausgrenzungen, auch der politischen Ausgrenzungen und – denken wir zur Zeit an Ungarn unter dem Wiedererstarken des braunen Mobs- der Pogrome gegen Roma und Sinti. Ist es ein Prozeß des Sprechens und Schaffens auf den Spuren, unter anderem, der eigenen Kräfte?

Außerdem taucht für mich die Frage auf, ob sich die Künstler -und eine Künstlerin- auf ein „Eigenes“ oder mehrere differente „Eigen-Eigenschaften“ beziehen, und: wie das Verhältnis von Message und Publikum, Message und Community ist. Dazu gibt der Text der Kunstinitiative von „Romanistan.Crossing Spaces in Europe“ etwas Erläuterndes zur Hand: „Phänomene wie Ethnisierung, Exotisierung, Folklorismus oder kulturelle Homogenisierung sollen hinterfragt werden. Angesichts der Erfahrungen mit Diskriminierung und Stigmatisierung der Romnija und ihrer Künstler_innen in allen europäischen Ländern sind dies drängende Fragen und müssen nicht nur innerhalb der Communities selber, sondern breit diskutiert werden.“ In die Initiative „Romanistan“, die von der IG Kultur Österreich und dem Programm der Kultur der EU mit drei Roma-Kultur-Vereinigungen zusammen ins Leben gerufen wurde (2010 bis 2013), ist diese Ausstellung in Berlin-Kreuzberg eingebettet.

„Wir deutsche Künstler_innen und Intellektuelle aller Generationen und unsere Freund_innen möchten, dass Roma und Sinti ihre eigenen Häuser bauen, in denen sie uns ihr Verständnis der europäischen Kultur vermitteln können. Dort möchten wir uns zu ihnen setzen, um ihnen zuzuhören.“ So das Manifest. Also denke ich: Könnte ein Teil des Projekts darin liegen, dass angedeutet wird, dass Nicht-Romnij in Europa lernen sollten, Gast zu sein und sich zurückzunehmen? Und Gehör zu geben? Und noch eine Überlegung: Die Proklamierung entlarvt geradezu den anti-humanen Charakter der zeitgenössischen EU-Politik – ohne ihn zu benennen.

 Stark, mythisch, wie ein spirituell ausstrahlendes Bild- ich denke an die Triptychen von Beckmann – und zugleich appellativ steht dieses Gemälde vor mir: „Rom Som“ ( „Ich bin Rom“), von dem Medienkünstler András Kàllai, ein Gemälde in Acryl und Öl. Ja, es ist vielleicht auch in etwa so groß wie die Beckmann-Gemälde, und, wie manche von dessen tiefbewegten Szenarien auch, aufgeteilt in eine Triptychon-ähnliche Fläche. Dreimalig konfrontiert wird hier jeweils eine frontale Gestalt, dreimal ausgehalten wird der Blick auf eine ruhende Gestalt von Symbolkraft. Wie bei christlichen Flügel-Altären verlangt von uns hier die Form Kontemplation, doch kurz darauf, anschließend, bemerke ich inhaltlich Anderes, Appellatives und Verstörendes.

In der dominierenden, breiteren Mittelfläche zeigt das Triptychon eine große, bis zum oberen Bildrand aufragende symbolische Figur: Frauenfigur mit verbundenen Augen, Iustitia versinnbildlichend. Ihre weiblichen Gesichtszüge sind vom Pinsel klar herausmodelliert. Doch unmittelbar unter ihrem Kopf, Unruhe einbringend für meine Betrachtung, winden sich zwei Schlangenköpfe, grün-golden die eine und schwärzlich die andere, die vor ihrem Körper erscheinen. Sie fügen sich nicht in eine glatte Symbolordnung. Die Rätselvollen lassen mich sowohl Klugheit assoziieren wie, andererseits, das Unabsehbare, Triebhafte in der Freud-Traum-Symbolik.

In blauer Farbe durch und durch gestaltet, so verschmilzt die hohe Frauenfigur Iustitia mit einem bekannten Symbol: dem Sternenkranz der EU-Flagge, die vor ihr schräg aufgepflanzt, über die Mittelachse geht, und ihr Körper führt auf mittlerer Bildhöhe, tiefer, zur Figur eines Unbekannten: eine bräunlich-verschattete dunklere Figur, eine Kopfpartie- das Haar? – dunkel und gerundet wie eine Jakobinermütze oder starke Frisur.

So sehr deutlich also die Signale hier einsetzen, wenn wir „Iustitia“ erblicken und dann das Europa-Symbol, das uns aus jedem Medienbild Eindeutigkeit und Hymnus vermitteln will, so fragenvoll wird die Botschaft im weiteren Bildinhalt: Da sind die Schlangenköpfe. Und den Verschatteten entdecken wir nicht als Zitat eines „Labels“ oder eines politischen Konstrukts, können ihn uns nicht sofort deuten. Steht er für die vielen Unbekannten in einem bürokratischen Europa, das sich nur mit dem Ausschluss von Geflüchteten und von Minderheiten behauptet, oder für die nach Wirkung suchende Menschenperson, den Menschen „vor dem Gesetz“ (Kafka)? Oder deutet er hier den Inhalt einer antirassistischen Community an – parallel zur afroamerikanischen Emanzipationsbewegung – die an der Basis wirkt und die von „Europa“, lebenswirklich, nicht wegzudenken ist?

Der Unbekannte ist in eine karg angedeutete Landschaft gesetzt vor zwei flächigen Rechtecken, die an Torflügel erinnern, über einer Bodenfläche. Vor dieser Bodenfläche ragt, nicht zu übersehen, eine blutige Axt von links ins Bild.

Und hiermit ist das mittlere Bild komplett. Iustitia- Europa- verschattete Gestalt- blutiges Werkzeug am Boden. Hier bietet sich unmissverständlich eine künstlerische Perspektive auf das großangelegte politische Europa, das –dogmatisch- unzählige Male mit dem Symbol des Staatenbundes zitiert wurde, hier als ein seltsam bewegungsloser Ort, fast wie ein blutiger Tat-Ort: Ein deutlicher Bruch mit dem ideologischen Europa, ein Urteil und eine menschliche Perspektive auf die EU, die nun schon 20 Jahre in Kraft und „Geschichte“ ist und die mit Gewaltaxt und mit Blut in Verbindung gebracht wird.

Dabei erscheint das Symbol der Axt sehr signalhaft, reduziert. Was kann auch daran abgebildet werden, an dem Leiden der Menschen an der Abschottung an den EU-Außengrenzen, unter einer Gewalttätigkeit „EU“? Aber ein Denkmal für die Opfer eines aktiv abwehrenden Europa zu schaffen und das bekannte Sternenbanner-Symbol damit zu verbinden, das dadurch als ein dogmatisches Banner erscheint, das ist ein künstlerischer Akt, den ich mir dergestalt merken will.

Hier geht es offenbar um den Blick des Romnij-Künstlers auf dieses Sternenbanner. Erinnern wir uns daran, dass beispielsweise Deutschland seit 2009 ein Abschiebeabkommen mit dem Kosovo über Roma und Sinti in Kraft lässt, bei dem schon tausende Menschen zurück geschoben wurden – entgegen den Appellen von Roma-Verbänden (und von Flüchtlingsverbänden und vom EU-Kommissar für Flüchtlinge Hammarberg). Es wurde damals politisch beschlossen und anschließend per Verwaltung ausgeführt, Roma, die in der Kriegszeit geflüchtet waren, nun wieder nach dem Kosovo zurückzuschicken, ungeachtet, dass sie in Deutschland bereits Freundschaften oder berufliche Anknüpfung gefunden hatten, ungeachtet, dass ihnen im Kosovo nach den Kriegsunruhen eine schlimmere rassistische Verfolgung drohte als vor dem Krieg. Und auch, dass auf die Abgeschobenen ein perspektivloses Ausharren in Ghettos ohne Aussicht auf Erwerb und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben wartete, hielt die Bürokraten nicht von ihrem Plan ab.

Auf der linken Seite, frontal wie die Iustitita auch, jedoch kleiner und nur in einem Nebel-Grau verwirklicht, so steht vor mir eine schemenhafte Gestalt, ganzheitlich klar umrissen von Kopf bis Fuß, in der Silhouette deutlich gezeichnet mit einem Hut. Die Gestalt erwächst mit den Füßen aus der Schrift „Justice“, die flammt oder auch: sich wie eine Wurzel windet. Doch keine deutlichen Zeichnungen geben uns Gesicht, Miene oder andere Einzelheiten zu erkennen. Nur ein Merkmal, schriftlich ausgewiesen in einem Schild, das von der nebelhaften Person vorgehalten wird, „Rom Som“, ragt an ihr hervor. Ich konfrontiere offensichtlich den bezeichneten Menschen, der vor allem anderen seine Bezeichnung aufweist, und seinen Ursprung zu Füßen. Hier wird die Stereotypisierung und Kollektivierung im identitären „Rom“- Wort deutlich; nicht eindeutig ist für mich jedoch, ob diese Gestalt sich selbst aktiv bezeichnet oder infolge von stetiger Fremdbezeichnung hier in einer Erstarrung verbleibt.

Hier entzieht sich die Individualität dem Beschauerblick, wenn zugleich die Schrift von der Rom-Identität vorgewiesen wird. Sichtbar bleibt jedoch ein Anderes: Werden, stille geborgene Kraft, zeitliche Potentialität, steckt hier vermutlich in den Wurzeln und der gelblich leuchtenden Schrift „Justice“. Ich erinnere mich an Randjelovics Essay (s. oben), in dem sie feststellt, dass Unsichtbarmachung zeitweise in der Erfahrung von Romnij auch zu einem existenziellen Schutz vor struktureller Ausgrenzung dienen konnte, während andererseits oft im gesellschaftlichen Leben „Diskriminierung durch Sichtbarmachung“ erfolge.

Betrachten wir den dritten Teil des Gemäldes, das Bild rechts von der dominierenden Iustitia-Gestalt:

Hier blicken wir in Helle und Klarheit einer männlichen Gestalt ins Auge. Diese zeigt uns das Gesicht, ruhig blickend, und den Körper in rudimentärer, schurz-ähnlicher Gewandung: die Gestalt des Menschen, die in ihrer Größe und Symmetrie die „Rom-Som“-Gestalt spiegelt- und sie wandelt und beantwortet. Zu Füßen dieses Menschen befindet sich eine weiße Fahne, die ich mir als Symbol des Friedens deute. Hier, über diesem Symbol, verhüllt nichts mehr den direkten menschlichen Blick. Und dieses einfache Sein als Mensch und Person zugleich- mit individuellen Zügen-, das, denke ich festzustellen, ist hier ein Moment in einem Prozeß, unerreicht aber präsent. Denn getrennt sind die „Rom Som“- Figur zur Linken und die Menschengestalt zur Rechten von der dominierenden Europa-Szenerie, das heißt auch: Von einer Erfahrung der Gewalt im Namen dieses Europa. Und diese EU zeigt sich mir hier als Faktum – ein unbewegter Tat-Ort mit blutigen Spuren, ein Stück Geschichte!- und als Raum, in dem die Politik mit dem fait accompli über den Menschen hinweggeht und an den Minderheiten Ausgrenzung und Leibes-Verletzungen verübte. So erblicke ich vor allem hier im Bild das Faktum und die Geschichte Europa, geurteilt mit unguten blutigen Merkmalen und berichtet aus der Romnij-Perspektive, und die Idee des Menschen, bewahrt in den Wurzeln des Rom und in der weißen Fahne. Aber Hoffnung? Sie wird nicht im Bild von irgendeiner Bewegung getragen. Vor allen Dingen ist es eine Demonstration, die uns hier zuteil wird. Bewegung wird nur erfolgen, wenn die Betrachterin/ der Betrachter die Idee „Gerechtigkeit“ aus dem Bild auffängt und räsonniert.

Kraftvoll ist das Gemälde ausgeführt in Farben und in Vision der Gestalten, ist der Duktus des Malwerkzeugs und die Vereinigung der Symbole.

Gegenüber befindet sich das Gemälde von Henrik Kàllai „Magischer Humanismus“, es ist Acryl auf Leinwand. „Auf der linken Seite ist unsere Vergangenheit zu sehen, in der sich die Kultur durch den menschlichen Maßstab bestimmte. In ihm liegt die Erfahrung der indischen Rom-Völker der vergangenen 6000 Jahre. Bildlich bestimmt dieser Gedanke auch die Roma-Flagge, die folgendes bedeutet: Wir sind geboren, wir leben und wir sind jemand.“ So erläutert der Künstler im Text. Das Gemälde zeigt ein bewegtes Szenario; grob unterteilt ist es in eine linke und eine rechte Seite. Auf der linken Seite vollzieht sich ein Wogen von Figuren, nackten menschlichen Gestalten, die sich vom unteren Bildrand bis nach oben bewegen in Tanz, Umarmungen oder auch suchender Bewegung; ein aufsteigender Reigen von Menschen. Auch ein nachdenkliches Gesichterpaar, etwas größer gestaltet, blickt aus dem Reigen frontal mir der Betrachterin entgegen. Diese Seelenkörper oder Gestalten einer großen Familie in der Geschichte, lebhaft in rot, pastell- und violett-Farben vom Pinsel erschaffen und bewegt, strömen nicht in vollkommenem Gleichklang, aber in einem Miteinander. Von der Zeit geführt, oder die Zeit führend? Es ist „Bukadel“, wie der Text unter dem Bild erklärt: „Die Verwandlung“. Doch von der mittleren Achse, von links her, bis an den rechten Bildrand reichend, fängt der große Grund einer Flagge- nur locker umrissen – diese Bewegtheit auf. Und der fängt sie auf in mehr Ruhe. Es ist die Flagge der Rom in grün und blau, mit einem großen mittigen Rad. In der Mitte des Rades ist die frontale Menschenfigur aus der Renaissance-Zeit, die Leonardo da Vinci entwarf, gemalt:

„Da Vincis vitruvianischer Mensch ist bewusst in der Mitte der Flagge gemalt, da wir sowohl den Humanismus erleben möchten, als auch die Wiedergeburt und die Innovation des ‚Roma Menschen‘ (ungarisch Cigànysàg) in der europäischen Kultur im Geiste des Humanismus.“

Soweit die große Aufteilung des Bildes, das sich in einer gewissen inneren Harmonie, in einer erzählerischen Kraft befindet. Aber vom Symbol des da-Vinci-Menschen herüber bewegt sich eine Gestalt nach links, zu den wogenden Menschen, hin: Es ist die blaue Silhouette eines Geflügelten mit gesenktem Kopf, in großer Leichtigkeit bewegt, einleuchtend, verblüffend wirklich gestaltet: ein Engel? Die Geistigkeit des humanistischen Gedankens, die sich der menschlichen Gemeinschaft der Romni-Vergangenheit nähert?

Es sieht aus, als käme ihnen, den Bewahrten in Erinnerung, Beflügeltheit zu, während zugleich der Opfer gedacht wird: Und das geschieht auch hier in diesem großen Ideen-Wurf: Unter der Flagge, rechts am unteren Bildrand, ist ein Friedhof in Kreuzen: hingeworfen vom Pinsel in visionärer Gewissheit, deutlich stehen sie da, die Mahnmale für zahllose Gestorbene. Und ein Menschenpaar – Frau und junger Sohn? – blickt von diesem Friedhof herüber, von dieser Stätte der Erinnerung an die Toten, die Ermordeten, aufmerksam dem Betrachter entgegen. Noch einmal die Ausführung des Künstlers:“Aber was bedeutet es, Europäer zu sein? Was geht zuende und was werden wir zukünftig sein? Was wir jetzt werden können, ist ein Prozeß, dessen Bestimmung nicht nur die Aufgabe der Roma ist, sondern auch die der Europäer.“  (Die Ausstellung „Roma Renaissance“ in der Galerie Kai Dikhas bleibt bis 7. 6. 2013, Eintritt frei. Prinzenstraße 85, Berlin-Kreuzberg)    – 2013

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Plaudereien im Afghanistankrieg

Birgit von Criegern

( Ossietzky-Magazin, Dezember 2012)

Mit großem Ernst behandelten die Feuilletons der Tagespresse Dirk Kurbjuweits Roman »Kriegsbraut« (Rowohlt Verlag, 2011) als ein komplexes Kulturwerk, das sie für seine »Erzählkunst« und für etwelche Eigenschaften lobten. Homogene, feierliche Rezensionen etablierter Kulturforen, die Werken journalistischen Stils und flacher Ausarbeitung zuteil werden – nichts Ungewöhnliches. »Kriegsbraut« ist ein Roman, der den deutschen Bundeswehreinsatz in Afghanistan emotional besetzt und in Episoden bebildert. Feuilletonisten, die solches feiern, müssen die Botschaft der großen Anti-Kriegsromane der Literaturgeschichte schlicht vergessen haben. Aber wer weiß, ob nicht ein skrupelloses Kulturministerium die »Kriegsbraut« einmal SchülerInnen als Pflichtlektüre vorlegt?

Kurbjuweit ist seit 1999 Spiegel-Mitarbeiter und Autor mehrerer Romane. Das tendenziöse und von der Presse so belobigte Buch hat es jetzt zu einer Bühnenfassung gebracht, die seit Oktober in Berlin-Neukölln aufgeführt wird. Das hat etwas Groteskes an sich. Neukölln ist ein Berliner Bezirk mit hohem Migrantenanteil, und offenbar glaubt die Bühne, einen für Neuköllner Lebenswirklichkeit relevanten Stoff zu inszenieren. Aber die Bühne Heimathafen, bislang bekannt durch interkulturelle Theateraufführungen von teils satirischem, teils ernstem Inhalt, der auch Straßenrealität zum Bühnenwerk verarbeitete, irrt hier und greift in ein Arsenal von blonden Pferdeschwänzen, Wurst-Frühstücken und Truppenübungen.

Der Roman hat keinen interkulturellen Gehalt. Denn er birgt leider inhaltlich, was der Titel verspricht: Eine Bundeswehrgeschichte, in der die Kriegführung der Bundeswehr in Afghanistan ausgeschmückt und illustriert wird mit emotionaler Besetzung des Soldatentums. Nicht erwähnt werden die wirtschaftlichen Motive des deutschen Kriegseinsatzes am Hindukusch, bruchlos akzeptiert ist hingegen die politische Begründung von einem »humanitären Einsatz« gegen die Taliban, wie sie uns von Anfang an vom Bundestag geliefert wurde. Die Thematik der afghanischen Flüchtlinge, die in Deutschland in miserablen Lagern und Wohnheimen ausharren müssen und von Abschiebung bedroht sind, klammert Kurbjuweit völlig aus. Lautstarkes Schweigen! Jedoch müßte, für kein geringeres Unterfangen als dieses, den Afghanistankrieg in einen Roman zu bringen, die Stimme der afghanischen Opfer der Militärgewalt transportiert werden anstelle eines Fiktionsromans deutscher Stimme. Die Mitteilungen der Überlebenden müßten interessieren, falls wir noch des Interesses fähig sind.

Angenehm für die politische Ordnung dürfte jedoch die Figur der Esther als Identifikationsangebot sein. Esther, die hier vermeintlich einem Irrtum unterlag, stellt den guten Glauben der SoldatInnen unter Beweis und steht damit für Aufrichtigkeit und Treue, Eigenschaften, mit denen sich die Bundeswehr in ihrer Propaganda täglich schmückt. Und mit der apolitischen Darstellung eines politisch brachial durchgesetzten und durchgehaltenen Krieges wird die verlogene Bundeswehrwerbung für Jugendliche in keiner Weise angeprangert. Wirbt diese heute doch an Schulen und selbst in der Teenie-Zeitschrift Bravo mit vermeintlichen Beach-Parties und Sportvergnügen. Kurbjuweits Schilderung verharmlost die Bundeswehr durch Verschweigen.

Nein, erzählerisch oder packend sind sie nicht, die Illustratoren der »großen« Politik. Kurbjuweit zeigt das Bestreben, Bundeswehr und Afghanistankrieg in eine lineare und seichte Handlung einzubetten, die wesentlich durch Plaudereien gekennzeichnet ist, und damit den Krieg faßbar zu machen. So viel Fassung macht mich fassungslos. Das Unfaßbare muß unsere schlafenden Sinne beunruhigen. Es geht nicht darum, daß wir uns den Krieg gut vorstellen können sollten, sondern unser Weniges an Vorstellung vor dem Phänomen Gewalt sollte uns aufdämmern. Das wäre viel. Im Ergebnis gelangen wir dann hoffentlich, endlich, zur einzigen Forderung: Schluß mit diesem Militäreinsatz, und nie wieder Krieg!        ——-

Re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland.

Birgit vn Criegern

(Trend-onliniezeitung, www.Trend.infopartisan.net 10, 2008)

Wenn rechtspopulistische Kundgebungen, wie neulich in Köln, scheitern, ist das erfreulich, aber natürlich kein Grund zum Zurücklehnen, vor allem, wenn man/ frau sich bewusst macht, dass der eigentliche Motor für den rechten Chauvinismus alltäglich wieder neu politisch angeheizt wird.

Dass rassistische Ausgrenzungen im medialen und politischen Konsens, und in der sozialen Situation in der BRD weiterhin an der Tagesordnung sind, zeigen die Autorinnen und Autoren des Buches „re/visionen“ (Herausgeber: Kien Nghi Ha, Nicole Laure al-Samarai, Sheila Mysorekar) im Unrast-Verlag, 2007. Mit den „postkolonialen Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland“ haben sie ein umfassendes Dokument von Rassifizierungen und „kolonialem Wohlwollen“ sowie von Selbstorganisation und Selbstermächtigung der betreffenden afro-deutschen und/ oder migrantischen Bürger/innen und Communities gegen die repressiven Entwicklungen in der deutschen Gegenwart vorgelegt.

Hintergründe zum herrschenden Konsens werden in den zahlreichen Beiträgen auf gender- und kulturwissenschaftlicher wie sozialpolitischer Ebene geliefert. Dabei geht es um weitaus mehr, als Brand-Sätze anzuprangern. Rassistische Arbeitsmarktpolitik und europäische Aufklärungs-Allüren werden ebenso erörtert wie Selbst- und Fremddefinitionen in der Kultur, die oft mit Sprechverhalten und Rollenaufteilungen sowie mit Konstruktionen von Schwarz-Sein, Deutsch-und-Weiß-Sein, Migrantin/ Migrant, ablaufen. Mit den Essays über Entstehung und Tätigkeit der Bewegungen „The Voice Refugee Forum“ und „Karawane für die Rechte der Migrantinnen und Migranten“, die sich seit den neunziger Jahren formierten, ist das Buch zudem wichtiges Grundlagenwerk zum Stand der Organisierungsprozesse gegen die rassistische Migrationspolitik heute.

Beispielsweise im medialen Mainstream ist neuer Biedermeier und, weitaus schlimmer, ein Rückschritt in Richtung Volksgemeinschaft schwer zu übersehen seit der blond-blauäugigen „Du-bist-Deutschland“- Beschwörung der ganz großen Kanäle mit Hilfe von Mediengigant Bertelsmann. Auch die Lage des langjährigen Berliner Radiosenders Multikulti, der nun dem Rotstift des Senats zum Opfer fällt, zeigt, dass Kulturvielfalt in den öffentlichen Institutionen nichts Gesichertes ist. Siehe: http://www.multikulti.de/presse/pressemitteilungen/radiomultikulti_endet.file.pdf

Übrigens regte der rechtskonservative Innenminister Brandenburgs Jörg Schönbohm vor Jahren an, eben diesen Sender in „Radio Schwarz-Rot-Gold“ umzubenennen, und tat damit seinen Missfallen gegen die Intention des Senders kund. Gewissermaßen zeitgeistgemäß. Die neue Welle von „Integrations“-Forderungen und „Leitkultur“ seit 2004, bei der sogenannte „Parallelgesellschaften“ als Bedrohung angeführt wurden, erörtert der Kultur- und Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha in „re/visionen“ als ein Modell von „Stigmatisieren und Strafen“ am Objekt der migrantisch geprägten und/ oder Schwarzen Deutschen. „Merkwürdige Formen des Realitätsverlustes und der Amnesie“ hätten sich in 2004 in der Presse breitgemacht, wobei die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh den Anlass gab, „obwohl dieses Ereignis in keinem unmittelbaren Zusammenhang zur Einwanderungssituation in Deutschland stand“(S. 121). Der Multi-Kulti-Ansatz in der Gesellschaft wäre gescheitert, die „Tücken der Toleranz“ hätten sich gezeigt, wurde damals schwadroniert. So untermauerte man die politisch geforderte „Leitkultur“. Die „Integrationsverordnung“ diene einem neuen „Dualismus von innen und außen, Subjekt und Objekt, gut und böse“, so Ha (S. 122), der das entsprechende Kapitel „Deutsche Integrationspolitik als koloniale Praxis“ übertitelt.

Seit Has Kritik an der „Integrationsverordnung“, seit Erscheinen des Buches haben sich die Verhältnisse nicht gebessert. So forderte in diesem Jahr der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln Heinz Buschkowsky im Tagesspiegel-Interview„mehr Repression“ für seinen Stadtteil mit hohem migrantischem Anteil, und benannte etwa Trägerinnen des Ganzkörperschleiers und Schwarze auf der Straße in einem Zusammenhang mit „Verwahrlosung“.

Die genderwissenschaftlichen Beiträge im Buch, kaum zu überschätzen, geben Aufschluss von der machtfeindlichen und emanzipativen Kraft, die sich unter dem rassistischen Zwang entwickelt, und die in den nächsten Jahren noch mehr zum Ausdruck kommen könnte. Ohne einem vormals in den 70-er Jahren praktizierten Fehler der Linken von rascher Identifizierung von Frau-Sein mit Schwarz-Sein und mit Kolonialisiert-Sein zu verfallen, lassen sich aus den Beiträgen unübersehbar Strategien der Selbstermächtigung im Angesicht von Herrschaft sammeln, die – und das bezeichnet die Nähe des Antirassismus zum Antisexismus – wortlos ausgeübt wird, und die ihre Benennung braucht. So geht es etwa im Essay von Maureen Maisha Eggers um „Kritische Überschreitungen“ von als selbstverständlich erlebten Grenzen durch die täglich vorgeführten Machtstrukturen, und um Dekonstruktionsarbeit am verinnerlichten eigenen Handeln. Mit der Arbeit „gegen die eigene Selbst-Unterwerfung“ ruft die Genderwissenschaftlerin einen wichtigen Punkt in Erinnerung, der Befreiungstheoretikern möglicherweise schon aus dem Blickfeld geraten ist. Natürlich geht es einerseits immer noch darum, verlogene Kategorien der herrschenden Klasse, so die tendenziöse Wortdenkmäler „China und Menschenrechte“, oder „Afrika und Menschenrechte“, mit den ihnen  innewohnenden kolonialen Projektionen anzuprangern. Aber Eggers weist auch, damit ist sie subversiv, ohne es herauszukehren, von solchen politischen Gegebenheiten fort und zeigt an, was an eigener Entschlossenheit, an Strategien des Eigensinns zu tun ist, weil „gesellschaftliche Strukturen mit unseren subjektiven Taten als Unterworfene verbunden bleiben“, und führt zum Beispiel den Film „Moolaadé“  des senegalesischen Autors und Regisseurs Ousmane Sembéne an. In dem Film ist die Beschneidung in einem afrikanischen Dorf ein Zeichen der „Unterwerfung aller“ unter die gesellschaftliche Verordnung. Daraus bricht die Figur der Collé Gallo Sy aus, die sich weigert, ihre Töchter beschneiden zu lassen – nicht weil sie eine Heldin sei, sondern „aus Reflexion der eigenen Erfahrungen“. Erst daraufhin folgen ihr andere Dorfbewohner/innen nach. Eigensinnige Handlung eröffne die Möglichkeit kollektiver Widerständigkeit. Den Bogen, den Eggers schlägt, muss erstmal eine arrangierte bürgerliche Autorin unter dem Konsens von freiheitlicher westlicher Kultur wagen: Eggers fordert letztlich zu ebensolchem Eigensinn von People of Color im rassistischen deutschen Alltag auf, wobei es natürlich nicht um Beschneidung, sondern um andere Formen der Unterwerfung geht. Zu der Befreiung aus „Verstrickungen“ gehören bewusste Entgegnungen vor primitivsten Beschimpfungen im Alltag, wie auch noch vor rassistischen Festschreibungen in Wissenschaftskreisen. Dass das nicht von heute auf morgen geschafft wird, ist in Eggers`Aufsatz eine eher ermutigende Feststellung, denn es geht hier nicht um Sieges-Beschwörungen, sondern um handfeste Anregungen.

Jeder der zahlreichen Essays ist für sich unverzichtbar, weil er am Konsens Weißer Lebensart einen Teil der medialen Verleugnungsstrategien bezüglich der Realität abträgt. Pure Logik wendet etwa im kulturellen Bereich Julio Mendívil auf die deutsche Gesellschaft an, und da kann man/ frau leicht auf Granit stoßen. Im Essay „Das zivilisierte Denken“ berichtet er von einem Versuch ethnologischer Feldforschungen über die deutsche Kultur. Zunächst als traditioneller Musiker in Peru tätig, wandte sich Mendívil in Deutschland auch der Musikethnologie zu und arbeitet als Dozent in Köln. „In Deutschland mutierte ich bei meiner Ankunft zum Indianer“. Wie er zeigt, war das ethnologische Arbeiten über deutsche Kultur, speziell: ihre Volksmusik, nicht einfach. Anders als frühere westliche Feldforscher bekam er in der hiesigen Stammeskultur „keinen besonderen Platz zugewiesen“. Denn der Westen, der „das Zivilisierte (repräsentiert)“, wolle nicht als Objekt betrachtet werden. Was sich für Mendìvil, der auf Konzerten Schlagerfreaks anredete, oder TV-Produzenten anschrieb, in der Sprödigkeit der Antworten zeigte. Überspitzt gesagt: „Weder 10-Euro-Scheine noch Glasperlen halfen mir, Heino oder Dieter Thomas Heck zu einem Interview zu überreden“ (S. 142). Selbstbewußt-deutsch wollten sich Angeredete mit Persönlichkeitsrechten gegen jegliches wissenschaftliche Zitieren rüsten. So geht es bei Mendívils Bericht gar nicht mal um eine rassistische Tendenz der Schlagerkreise an sich – bei einem Schunkel-Erlebnis stellte er gar fest, dass es da keinen Hautfarben-Rassismus gebe, nur die Trennung „Schlagerfreund- ja oder nein“. Es geht um das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft, die eine Objektivierung rundum ablehnt. Doch zugleich wurde der Autor, so sein Statement, auch kritischer zur Tätigkeit der Ethnologie, die das Objekt des „Anderen“ zu Grunde legt.

Rassifizierte Arbeitsteilung ist ein ausführlich behandeltes Thema des Buches in der Gliederung „Rassismus und Politik“. Und es zeigt, dass heute, nach Ankündigung des Projekts „Zirkuläre Migration“ durch die EU-Kommission, sich Verhältnisse nicht gebessert haben, sondern vielmehr altbekannte Fehler und Verwertungsmechanismen am Objekt migrantischer Arbeiter/innen wieder ins Haus stehen. „Nach Schätzungen des Migrationsforschers Friedrich Heckmann konnten während der 60-er und 70-er Jahre etwa 2,7 Millionen Deutsche in der BRD durch die gezielte Benachteiligung der Migrant/innen sozial aufsteigen“, schreibt Ha im Beitrag „Arbeitspolitik in Imperial Germany“ (S. 70). Ein Beispiel dafür liefert Maggi W. H. Leung in ihrem Kapitel über die chinesischen Einwanderer/innen „Warum sind die so chinesisch? Dekonstruktionen von Chinesisch-Sein in Deutschland“. Chines/innen wurden und werden als „Chop-Souey-Meister“ eingestuft, und seit jeher hierzulande zur Aufnahme eines gastronomischen Betriebes in Deutschland genötigt, da sich die allgemeine Arbeitslosigkeit sowie mögliche Diskriminierungen der Arbeitgeber zugleich begrenzend auf die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze für chinesische Studierende auswirkten.

Auch die drei Kapitel über die koreanischen Krankenschwestern in Deutschland liefern ein Zeugnis über den öffentlich marginalisierten bis totgeschwiegenen Sachverhalt der Bevormundungen per Arbeitsmarktpolitik: Seit den 60-er Jahren waren rund 18 000 Krankenschwestern sowie Bergarbeiter für die Arbeit in Deutschland angeworben worden – immer wieder mit Fehlinformationen über den niedrigen Stand ihrer Tätigkeiten, die ihre Qualifikation unterschritt. So mussten die koreanischen Schwesternschülerinnen vor allem Spül- und Putzarbeiten übernehmen. Anwerbebriefe, wie der vom Stolberger Betlehem-Krankenhaus, die nach Korea gingen, waren irreführend. Die Frauen erfuhren außerdem erst bei ihrer Ankunft, dass der deutsche Krankenpflegeabschluss in vielen Ländern, darunter Korea, nicht anerkannt wurde. Und das, während die Behörden sie zur Rückkehr nach Verlauf einiger Jahre ihrer Tätigkeit verpflichteten. 1978 gründeten die Betroffenen die Koreanische Frauengruppe. Schrittweise entschieden sich immer mehr von ihnen in der koreanischen Community zur Selbstorganisation, und widersetzten sich den dirigierenden Anweisungen der Behörden zur Rückkehr: „Wir kamen, weil deutsche Krankenhäuser Personal benötigten, und wir haben Deutschland geholfen. Wir sind keine Handelsware. Wir gehen zurück, wann wir wollen.“ (S. 361)  (Heike Berner und Sun-ju Choi, „Koreanische Krankenschwestern in Deutschland“) Dabei mussten sie es ebenso mit den patriarchalischen Rollenvorschreibungen in der eigenen Ehe aufnehmen, als auch mit der als diskriminierend und abweisend erlebten deutschen Gesellschaft. Die Selbstermächtigung sicherte vielen von ihnen das Dasein und das erwünschte Studium in Deutschland, und war der einzig richtige Ausweg, der im Buch, u. a. in der zwanglosen Gesprächsform, erinnert wird. Es ist wohl unerlässlich, diese Ansätze für die Zukunft zu dokumentieren, wenn sich in der EU-Politik wieder der Wille ankündigt, über Migrant/innen mit der Zuweisung von Arbeit zu verfügen. Geht es nach dem politischen Konzept „Zirkuläre Migration“, das in diesem Jahr von den Innenministern vorgestellt wurde, ist die Zuweisung von Arbeit gemäß dem Bedarf der EU-Länder an Migrant/innen aus „Drittstaaten“ vorgesehen, wobei „die Rückführung gesichert sein muss“ – die Chancen für ein selbstbestimmtes Dasein, Familiengründung und Studium in Europa müssten sich für die Einwanderer/innen demnach noch verschlechtern.

Die Stimmlosigkeit von People of Color, das erläutert Gaston Ebua von „The Voice Refugee Forum“  im Beitrag „Selbstorganisation braucht ein tiefes, kritisches Selbstverständnis“, sei bereits machtbedingte rassistische Strategie. Andererseits werde sprachlich mit den Begriffskonstruktionen von den „universellen Menschenrechten“ oder etwa dem „Wohlfahrtsstaat“ Deutschland Einwanderer/innen sowie Flüchtlingen ihre Position zugewiesen, und eine koloniale Machtstruktur befestigt (S. 392). So wird die Sachlage der rassistischen Lagergesetzgebung in Deutschland euphemistisch verdeckt, und die Objekte dieser Politik werden mundtot gemacht. Ebuas Bericht eröffnet das ganze Gebiet der kolonialen Gewalt, deren Opfer nie offiziell anerkannt wurden, und die sich bis heute innenpolitisch fortzieht, so mit der Gesetzgebung der „Residenzpflicht“ in Deutschland, die Migrant/innen die Bewegungsfreiheit versagt. Ohne Worte, gedeckt vom öffentlichen Konsens wird Diskriminierung zudem mit der Vergabe von Essensmarken, und mit der systematischen Abgrenzung der Migrant/innen vom Rest der Gesellschaft in menschenunwürdigen Lagern praktiziert. So geht es laut Ebua und „The Voice“ darum, während und trotz ihrer täglichen Existenzkämpfe ein „people`s commitment“ zu finden, um eine anklagende Instanz und Bewegung gegenüber dem inländischen Weißen Stillschweigen befestigen zu können. Zusätzlich zu Ebuas Bericht dokumentieren weitere Beiträge, so der über die Entstehung der „Karawane“, die rassistische Polizeigewalt gegen Flüchtlinge, und die Protestkundgebungen gegen die alltägliche Gewalt und Administration – das sind wohl die Kapitel über die drängendsten Mißstände und menschenrechtlichen Verbrechen im Innern dieses Landes als administrative Vorgänge im Innern der Festung Europa. Die Anlässe zum Protest der Betroffenen sowie der Antirassist/innen mit deutschem Paß auf dieser Ebene reißen nicht ab. Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar (Hg.), re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Unrast-Verlag 2007.

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 Erst am Hals. Wie Flüchtlinge leben müssen: zwei Filme auf der Globale

von Birgit v. Criegern

(Junge Welt, Juli 2007)

Ein klein wenig Menschlichkeit sollten sie nur zeigen, die Verantwortlichen in der europäischen Regierung«, sagt die Frau frontal in Großaufnahme. »Wir Sans-Papiers sind Menschen wie sie; es geht darum, ein Ende mit der Sklaverei zu machen, mit der Prostitution in unseren Ländern!« Fünf Minuten lang spricht die Immigrantin Fatumata Traore aus Mali, in dem 15-minütigen Film „Paroles des Sans-Papiers» von Patrick Watkins, der auf der Berliner »Globale 07» lief. Es werden drei Gesichter gezeigt. Jedes bekommt fünf Minuten Gehör: politisch anklagend, empört, ruhig berichtend.

Passend dazu wurde »Die Unerwünschten« von Sarah Moll präsentiert. Die Regisseurin von der Filmakademie Ludwigsburg drehte ihren Diplomfilm im Abschiebeknast Rottenburg: sechs Migranten in der JVA, gehalten in Containern. Huan aus China wurde inhaftiert, weil er den Bezirk seines Asylbewerberheims verließ. Jetzt droht ihm die Abschiebung. »Ich weiß, daß man kämpfen muß. Aber ich kann nicht einmal deutsch. Wie soll ich da kämpfen? Alles, was ich tun kann, ist am Fenster stehen und rauchen wie verrückt.« Ali aus Ägypten: »Straftäter wissen, wie lange sie im Gefängnis bleiben müssen. Als Flüchtling wirst du schlimmer behandelt. Du weißt nicht, was mit dir geschehen wird.«

Der kurdische Flüchtling Kemal erzählt seinem Nachbarn durch ein kleines Sichtfenster in der Zellentür: »Sie wollten mich abschieben. Um das zu verhindern, habe ich mich mit der Rasierklinge aufgeschnitten: Erst am Hals, dann die Pulsadern. Jetzt haben sie mich fürs erste hierher zurückgebracht.« Der Vollzugsbeamte kommt zu Wort – auf schwäbisch: »Es ist eine Verwaltungstätigkeit wie jede andere auch, was wir hier machen.«

Die Drehgenehmigung bekam Sarah Moll von der JVA nur unter der Auflage, daß diese das Material freigeben darf. Sie sagt: »Ab einem bestimmten Zeitpunkt ging dann nichts mehr, wir durften nur noch im Besuchsraum drehen.« Das war bei einer solidarischen Protestaktion der Häftlinge gegen eine Abschiebung. Die Anstaltsleitung verlangte, daß dieser Teil herausgeschnitten wurde. Das kann man im Film nicht sehen, nur lesen: Als die kurdischen Häftlinge das Gespräch mit einem Vertreter der Ausländerbehörde wollten, kamen mehrere von ihnen in Isolation und wurden bald abgeschoben – auch Kemal wurde ein zweites mal abgeschoben.

»Paroles des Sans-Papiers«, Regie: Patrick Watkins, Frankreich 2006, 15 Minuten; »Die Unerwünschten«, Regie: Sarah Moll, BRD 2005, 55 Minuten

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War es einhörnig oder zweihörnig?.
Theatergruppe »Die Ratten 07« bringen Ionescos »Nashörner« auf die Bühne (Neues Deutschland, Juni 2007)

Birgit v. Criegern

Aufruhr auf dem Marktplatz einer Kleinstadt: Ein Nashorn stolziert durch das friedliche Treiben und zertrampelt dabei eine Katze! Der Gemüsehändler, die Kaffeehausbesucherinnen und die Freunde Hans und Behringer schrecken hoch, Empörung kommt auf. Wo steckt der Besitzer des Tiers? Und: Ist es ein afrikanisches oder ein asiatisches Nashorn?
Im Theater des RAW-Tempel zeigen die »Ratten 07« das Stück »Nashörner« von Eugène Ionesco. In einer fiktiven Gesellschaft verwandeln sich die Menschen in Nashörner.
Ionesco schrieb das Stück unter dem Eindruck des französischen Algerienkrieges, eine Parabel auf die Funktionsmechanismen von Patriotismus und Rassismus innerhalb einer Gesellschaft. Den Klassiker des französischen absurden Dramas der 50er Jahre hat die Truppe in den Rahmen hiesiger Alltagsidylle gestellt: Marktplatz und Büro. Auch der Alltag ohne Nashorn zeigt sich monströs. Im Arbeitsalltag sieht der Alkoholiker Behringer wenig Sinn, und der Erfolgsmensch Hans versucht, ihn auf Wienerisch, zu bekehren: »A jeder muss sane Pflicht erfülln. A jeder muss halt ins Büro.« Nachdem das Tier diese Ruhe stört, herrscht Streit um die zoologische Zuordnung – »war es einhörnig oder zweihörnig?«. Beratung im Büro, wo die Angestellten in ihren rollbaren Arbeitsgehäusen sitzen und der Chef auf seinem medizinischen Sitzball auf- und abhüpft.
Ein Nashorn, so etwas gehört an die Leine genommen, finden die einen. Andere zweifeln am Wahrheitsgehalt des Vorfalls. Und alle vereint der Arbeitstakt per Metronom. Über die Attitüden der einzelnen Leute hinweg nimmt das Unfassbare seinen Lauf. Alles rund um den Taugenichts Behringer wird nashörnig, bis zur Tapete. »Das Humane ist überholt« – so einfach geht das mit dem Arrangement. Gespenstisch paradieren die neu verwandelten Gesellschaftsmitglieder vor Behringer mit den Worten: »Sie sehen Probleme, wo keine sind.«
Wie das von der Maskerade gelöst wurde, soll nicht verraten werden. Der Urheber des Aufruhrs, das Nashorn, ist ein Augenschmaus. Die Regisseurin Christine Köstermann und die Truppe »Ratten 07« haben der Sachzwang-Gesellschaft eine turbulente Inszenierung beschert.
Ambulatorium des RAW-Tempels, Revaler Str. 99, am 15., 22., 29. Juni und 4. Juli, 20 Uhr.

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Wider die Selbstverwirklichungslümmel. Claudia Pinl entlarvte das Biedermeier-Denken in den Medien

B.v.Criegern

(Neues Deutschland, 16.08.2007)

 Alarmsignale hat die Journalistin Claudia Pinl in den Debatten der großen Medien erkannt und ihnen mit ihrem neuen Buch „Das Biedermeier-Komplott. Wie Neokonservative Deutschland retten wollen“ eine Analyse gewidmet. Der Konkret Literatur Verlag brachte das Buch kürzlich heraus; im Rahmen der Linken Buchtage wurde es von Pinl im Mehringhof vorgestellt. Ihre Entdeckung: bekannte Publizisten sorgen derzeit für eine Wiederbelebung konservativer Denkmuster. Wenn die Sprecher in den großen Medienportalen, u a. Matthias Matussek, Frank Schirrmacher oder Eva Herman, zur „Rettung Deutschlands“ argumentieren und schwadronieren, geht es vor allem darum, dass Bewegung in die Wiege kommt. Die neuen Kleinkarierten sind um nationale Geburtensteigerung und Familientradition besorgt, doch auch Religion und autoritäre Erziehung werden (wieder) hochgehalten, und natürlich gehört der Nationalstolz zur „bürgerlichen Gesittung“ (Udo di Fabio) ihres Geschmacks. Während die Rentenreform für Unmut sorgt, werden der Frau wieder die drei K: Kinder, Kirche und Küche, ans Herz gelegt. Bei der Hetze gegen berufstätige Frauen und gegen Kinderlose sieht Autorin Pinl die bedenkliche „Rolle rückwärts in ein vermeintlich sicheres Biedermeier“. Bedauerlich nur, dass Pinl selbst bei ihrer Sammlung des Unsäglichen aus der deutschen Werteküche von Matussek und Co keine ganzen Schlüsse zieht. Denn auch sie verschmäht nicht den Ausgangspunkt der Neokonservativen, die über moralische Werte im Land nachsinnen: die Standortwirtschaft. Pinls im flotten Sprachstil gebrachte Kritik am neuen Mackertum, wie es in den Äußerungen von Matussek („Die vaterlose Gesellschaft“) und z. B. Udo di Fabio aufscheint, bleibt eben auch einer „Rettung Deutschlands“ verpflichtet. Gewiß, sie pariert die Familien-Plädoyers, wie es nottut. Etwa, wenn Spiegel- Redakteur Matussek über einen „Zeugungs- und Gebärstreik egoistischer Selbstverwirklichungslümmel“ wettert, und Paul Kirchhof der Frau wieder die Familie zur Selbstentfaltung anheim stellt. Erhöhtes Kindergeld ging auf den Anstoß von Kirchhof, Politiker und Medienakteur, zurück. Christlich-konservativ verbrämt, ist dieser Lösungsweg jedoch zu simpel. Niemand, stellt Pinl bodenständig fest, bekomme Kinder, einfach weil dafür pekuniäre Anreize geschaffen würden. Auch die dumpf- mystischen Betrachtungen über den Wert der Familie, diese „Urverfassung der menschlichen Natur“ (so Frank Schirrmacher), werden da nichts fruchten. Ganz groß kam bekanntermaßen auch die Fernseh- Blondine Eva Herman mit ihrem Hausfrauenappell heraus. „Mein Gott, Eva!“ sagt Pinl trocken, und: „Frauenemanzipation als Kern allen Übels zu entlarven, gehört zur unverzichtbaren Grundausstattung konservativen und rechten Denkens.“ Doch sieht Pinl die Gebär- Aufrufe nicht etwa als Armutszeugnis des puren Ökonomismus in Staat und Wirtschaft. Damit Wirtschaft boomt, rät Pinl der Regierung, anstelle des Kindergeldes wieder mehr in Betreuungsinfrastruktur und Kitas zu investieren, und bietet das Problem für die Lösung an. Hat sich der Staat doch kontinuierlich aus der Finanzierung der sozialen und öffentlichen Daseinsvorsorge zurückgezogen, und Ein-Euro-Jobber, die in Kitas Babys wickeln, sind schon lange etablierte „Hilfskräfte“. Pinl hofft noch auf geneigte Politiker. Was die Unternehmeransprüche auf völlige Flexibilität ihrer Beschäftigten angeht, sind sie für die Autorin heiligmäßig zu bewahren.

Der wichtigen Beobachtungen von Pinl sind jedoch viele – so verweist sie auf den neuen „Wohlfühlpatriotismus“ der Deutschen, dank WM in bequemer Offenheit. Nach dem Startschuss ging es für Medienbeauftragte „weiter auf der Suche nach Deutschtum an und für sich. Dabei entdeckt Reporter Matussek die deutsche Sprache und bedauert, dass es in Discos und auf Schulhöfen als ‚uncool‘ gilt, sie zu sprechen.“ (S. 94). Er räsonierte über die neuen alten Vorzüge der Nation, und fand heraus: „Wir Germanen waren geschätzte Krieger(…) Wir können stolz sein auf unsere große Geschichte.“ Und mehr solcher üblen Verlautbarungen der Medien-Grauröcke, die deutsche faschistische Vergangenheit endgültig wegreden möchten. Nationalismus und das Loblied auf Autorität, Recht und Ordnung, so Pinl, sei vom Stammtisch in die Gesellschaft hineingelangt. Und wiederum erstaunlich: Da hofft die Autorin auf staatliche einschreitende Korrektur am deutschtümelnden Denken und Tönen. Das ist blauäugig zu nennen. Sie verkennt die Kräfteverhältnisse – so als sei rechtes Gedankengut niemals Sache der Eliten, sondern stets nur des ungebildeten Pöbels. So merkt sie bloß am Rande an, die „Du-bist-Deutschland“- Kampagne hätte „noch dazu beigetragen“, Minderheiten auszugrenzen: Um keynesianische Hoffnungen nicht zu stören, verharmlost sie die unsägliche Lobby-Kampagne aus Staat und Wirtschaft. Also ruft ihr Lösungsvorschlag das Parlament auf den Plan: Das möge zur Mündigkeit der Bürger doch wieder beitragen, und über Kampagnen das Demokratieverständnis in der Bevölkerung fördern. So ist Pinls Plädoyer ganz klar an den Staat gerichtet, und nicht etwa ein Aufruf an Bürgerinnen und an Beschäftigte, gegen dreiste Unternehmeransprüche und gegen aufrüstende Regierungspolitiker auf die Straße zu gehen.

 Claudia Pinl: Das Biedermeier-Komplott. Wie Neokonservative Deutschland retten wollen, Konkret-Literatur- Verlag, 15 Euro.

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Ein Tropfen ins Faß. Die Rapper von Schlagzeiln haben ihr erstes Album herausgebracht

B.v.Criegern

(Junge Welt vom 05.12.2007)

Und die Bild erklärt dir, was der schwarze Block ist/Und alle wissen, wer den Knüppel schwingen darf!« Die Rapper von »Schlagzeiln« waren schon ein Jahr lang live in Clubs unterwegs, bevor sie ihr erstes Album »Berliner Melange« produzierten, das im September erschien. Darauf haben sie unter anderem einen Text vertont, in dem es um erlebte G-8-Repressionen geht. Agitprop könnte man dazu sagen – oder: Texten dicht an der Realität. »Es ist ein Tag nach der Demo in Rostock gegen G 8; (…) ich bin eher entspannt, les die Lügen in der Bild am Sonntag: amüsantes Gestotter über die Schande für Deutschland.« Der Rapper Refpolk erzählt, wie er mit Freunden zum G-8-Protest fuhr. Dabei machten sie einen Umweg, um Freunde bei einer Kundgebung vor einer JVA zu unterstützen. Bei einer Personalienkontrolle wurden sie von der Polizei überwältigt, geschlagen und kurzerhand festgenommen, der Grund: »Auf den Transparenten rufen wir nun mal zu Straftaten auf: zur Gefangenenbefreiung – ziemlich illegal. Denn auf den Transparenten steht: Freedom for Prisoners!« Daraufhin wurden Refpolk und sein Freund in die käfigartige Gefangenensammelstelle der Kavala und danach in eine JVA überführt, wo sie fünf Tage lang inhaftiert blieben: »In Meck-Pomm in so ’nen Ex-Stasi-Knast/wo dich die Wärter anschrein und du ohne Ende Nazis hast (…) Und ich kann mir sogar denken, was die Wärter dachten:/Man muß uns hart behandeln, weil wir sonst nur Ärger machen«. Nüchternes Resümee: »Ich kenn die Relationen, mir geht es wunderbar./Andre sitzen Jahre, Oury Jalloh wurde umgebracht (…) Ich hab Angst vor Staatsgewalt, doch ich habe keinen Respekt/und ich weiß, auf wen ich zähl’n kann, halt den Kopf hoch bis zuletzt« (»Nur Angst, kein Respekt«).

Das Album von »Schlagzeiln« bietet sehr viel Inhalt zu eingängigen Beats. Jemand bezeichnete die Gruppe als »Öko-Gangsta-Rapper« – das halten sie für »ebenso überzogen wie treffend«. In ihren Texten geht es viel um den Berliner Alltag, dennoch wollen sie keinen depressiven Conscious-Rap machen. Politische und persönliche Themen kommen zusammen – Offensivität überwiegt. MisterMo liefert die Beats, die Texter Kobito und Refpolk den Rap, unterstützt durch DJ KaiKani. Ihre Tracks geben sich musikalisch weniger abgebrüht als etwa der Elektro-HipHop von »Bruder und Kronstädta«, mehr melodiös. Und manchmal sogar melancholisch, etwa mit dem Beitrag der Opernsängerin Juliane Gabriel »You keep on fading«. Den Inhalt bieten die Köpi-Unterstützer mit Texten vom Dasein unter Gleichgültigkeit und Leistungswahn, dem »gleichen harten Standard«, wobei sie eher selten sarkastisch werden: »Und die Armut steigt/und der Bürger weint:/Das ist: alle freuen sich über den neuen Bürgersteig« (»Das ist«). Anregend ist für die Gruppe »Schlagzeiln« ebenso der amerikanische ernsthafte Rap von »Dead Prez« wie prolliger Gangsta-Rap. Aufbereitet werden ihre Songs teilweise mit flapsigen Effekten wie Actionfilmsoundtracks. Vor Selbstironie haben sie offenbar keine Angst. Zur Revolutionskraftmeierei haben sie wenig Talent, eher sind sie realistisch wie zähe Underdogs. »Mit dem Kopf an der Box und du spürst, was passiert:/Noch ein Tropfen ins Faß, bis es dann explodiert.«

Junge Welt vom 05.12.2007

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Schlechte Zensur für Bildungspolitik .Freerk Huisken kritisiert deutsches Schulsystem

(Neues Deutschland vom 08.06.07) Birgit von Criegern

Welche Perspektive haben Hauptschüler in der heutigen Gesellschaft? Keine – zu diesem Schluss kommt der emeritierte Pädagogik-Professor Freerk Huisken in seinem neuen Buch.

Über die deutsche Schulpolitik und den Umgang mit Schulkonflikten hat Freerk Huisken in dem Buch »Über die Unregierbarkeit des Schulvolks« ein vernichtendes Urteil gefällt. Der Wissenschaftler besah sich die vermeintlichen »Terrorschüler« und ihr soziales Umfeld genauer. Strikt würden per Prüfungen und dreigliedrigem System Schüler »vorsortiert«. Für Huisken ist die ökonomisch beabsichtigte Erhaltung von Klassengegensätzen, »nicht nach Herkunft, sondern nach Anpassungsleistungen«, offensichtlich: »Sieger in der Konkurrenz sollen herausgefiltert werden«, es gehe um die Bereitschaft der Unterordnung unter das Vergleichssystem. Die Zensurbesten erlangen dann die Hoffnung auf eine Ausbildung. In Hauptschulen versuche man dagegen, jungen Leuten das Sich-Abfinden mit der Lohn- und Bildungshierarchie einzutrichtern.
Dies treffe vor allem Schüler nichtdeutscher Herkunft, seitdem Deutschkenntnisse zugleich zu schulischem und ausländerpolitischem Druckmittel geraten. Kein Wunder also, so Huisken, wenn Hauptschüler in Konfliktbereitschaft lebten: Pöbeln, »Jacken zocken« und auch schwerwiegende Gewalttaten gehörten zum Ausdruckmittel dieser Jugendlichen, das in der öffentlichen Debatte allerdings lediglich mit dem Schlagwort »Jugendgewalt« beschrieben werde. Huisken sieht in dem Verhalten der Jugendlichen jedoch mehr, nämlich das Ergebnis einer Gesellschaft, die Geltungssucht und Leistungsvergleich kultiviert hat.
Huisken stellt damit ähnliche Überlegungen an wie Brigitte Pick, die 23 Jahre lang die Rütli-Schule in Berlin-Neukölln leitete. Nach dem durch einen Offenen Brief ihrer ehemaligen Kollegen ausgelösten Disput über die Zukunft der Hauptschule schrieb sie ein Buch (»Kopfnüsse«), in dem sie Einblicke in die Situation der Schüler gibt, die öffentlich zu Lernverweigerern und Chaoten abgestempelt werden. Bei einer von einer Gruppe »Kritischer LehrerInnen« kürzlich organisierten Veranstaltung sprach sie vom politischen Faktor des Problems, zu dem die SPD mit ihrer Ablehnung der Gesamtschule in den 80er und 90er Jahren maßgeblich beigetragen habe. Hauptschulen trügen angesichts der Arbeitsmarkt- und Ausbildungssituation »den Stempel der Hoffnungslosigkeit«. Darauf reagierten Hauptschüler, »deren Selbstbild überhaupt nicht positiv ist«, eben mit »Tumult und Chaos«.

Freerk Huisken: »Über die Unregierbarkeit des Schulvolks. Rütli-Schulen, Erfurt, Emsdetten, usw.«, VSA- Verlag 2007, 12,80 Euro.

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Schicksal und Qual. Krokodilstränen marsch, marsch: In Berlin läuft »The King of Love«, ein Musical über das Leben von Martin Luther King

(Junge Welt vom 24.02.2007) B.von Criegern

Antirassismus als Geschäftsidee. In Berlin läuft bis zum Ende des Monats ein Musical über Martin Luther King: »The King of Love«. Es wird von der S&G GmbH in der Passionskirche am Marheinekeplatz aufgeführt. Anschließend geht es auf bundesweite Kirchentournee.

Der US-Bürgerrechtler und Baptistenpastor King, der im April 1968 in Memphis, Tennessee erschossen wurde, wird vom TV-Entertainer Ron Williams gespielt und gesungen. »Hautnah sind wir dem King of Love, wenn er, über die Bürgerrechtsbewegung hinaus, auch gegen den Vietnamkrieg zu Felde zieht«, verspricht die Werbung. Produzent Michael Rohrhuber versteht sich als Idealist: »Unterhaltung soll mit Haltung zu tun haben«. Früher arbeitete er für Microsoft.

Antirassistischer Widerstand, stellt man hier fest, macht Spaß und verführt zum Mitklatschen. »Die Lüge schreckt vor der Tragik nicht zurück«, schrieb Adorno über die US-amerikanische Kulturindustrie, »wie die totale Gesellschaft das Leiden ihrer Angehörigen nicht abschafft, aber registriert und plant, so verfährt Massenkultur mit der Tragik. Darum die hartnäckigen Anleihen bei der Kunst. Sie liefert die tragische Substanz, die das pure Amusement von sich aus nicht beistellen kann.« Geboten wird eine Premiumsausgabe der Kulturindustrie. Die Darsteller befleißigen sich eines eingängig-rhythmischen Gospelgesangs (»Marching for freedom« u.a.), die Stimmkraft beispielsweise von Deborah Woodson ist umwerfend. Im Wechsel zwischen satten Soulklängen und dem Sprechtext wird die Lebengeschichte von King entfaltet; da predigt er erst von der Kanzel und verfällt dann im nächsten Moment in Gesang. Beeindruckendes Soul-Preaching, auch wenn das dem realen King nicht eigen war. Wenn Musik die Antwort sein soll, bleiben keine Fragen offen.

Zwischen den Predigten gibt es den Montgomery-Bus-Boykott, die Demonstrationen gegen Rassismus und gegen den Vietnamkrieg, Kings Gefängnisaufenthalte in Florida. Da folgt beispielsweise dem Song »Rosa Parks sat down« nachdrücklich-erläuternd eine hölzerne Gerichtsszene mit der Angeklagten Rosa Parks und ihren hohnlachenden Richtern. Einfache Kulissengestaltung mit wenigen Versatzstücken ermöglicht rasche Szenenwechsel, vom Demonstrationszug geht es gleich in den Gerichtssaal. Zwischen Altar und Kirchengängen predigt King »hautnah«, für Bühnendarsteller wie Zuschauer gleichermaßen. Eine betont ausgewogene Darstellung: Der Lebensbericht des schwarzen Bürgerrechtlers ist perfekt arrangiert, mit deutscher Gewissenhaftigkeit aufbereitet.

Die Vermarktung von Kings Leben paßt in die gegenwärtige, von Melodramen heimgesuchte Unterhaltungslandschaft. Jeder Musicalproduzent ist idealerweise in der Lage, jedes beliebige Sujet in das Schema »Musikalisch – menschlich – mitreißend« zu pressen. Egal ob die Vorlage von Disney (»Der König der Löwen«), aus der Weltliteratur (»Die Drei Musketiere«; »Les Misérables«) oder aus der Musikgeschichte (»Ray Charles«) stammt.

Seit 20 Jahren brummt die bundesdeutsche Musicalindustrie. Die Erfolgsgeschichte begann 1986 mit »Cats« in Hamburg. Vorangetrieben von der Stella Musical GmbH im Kontext der Privatisierungswelle von städtischen Großarealen. So baute die Stadt Bochum 1988 mit Kostenbeteiligung des Landes die riesige »Starlight-Halle« für den Pächter Stella; eine 1996 extra für den Konzern errichtete Musicalhalle in Duisburg wurde drei Jahre mit »Les Misérables« bespielt und anschließend wegen schwacher Nachfrage aufgegeben. Ende der 90er Jahre geriet Stella in finanzielle Schwierigkeiten, als der größte deutsche Immobilienfonds, der Stuttgarter Dreiländerfonds, an dem die Firma beteiligt war, platzte. Die Geschäfts­idee, in Musicals, beziehungsweise in den Bau von deren Spielstätten, die dann teuer gemietet werden müssen, zu investieren, scheiterte an überhöhten Baukosten und einer Fehlprognose der Spieleinnahmen.

2002 übernahm der niederländische Konzern Stage Entertainment die meisten Häuser von der insolventen Stella GmbH – und verfügt heute dank beharrlicher Staatssubventionen über ein Imperium von Erlebniswelten und Spielstätten, das ihm hierzulande einen Jahresumsatz von 330 Millionen Euro beschert.

Das Musical ist das Medium der Krokodilstränen. Mit mindestens 30 Euro Eintrittsgebühr bietet es die Pop­unterhaltung für den etwas »besser ausgebildeten und besser verdienenden Bürger als der Bundesdurchschnitt« (Hochschule der Medien, Stuttgart) und gilt als Höhepunkt des Stadttourismus. Dafür geben die Kommunen gerne Geld. Schließlich sind für Stage Entertainment die Gesänge und akrobatischen Sperenzchen des »Königs der Löwen« nichts Geringeres als »Theater«, auch wenn es sich hier bestenfalls um Operette handelt. Große Dimensionen entschädigen für kargen Inhalt; »mitreißende« Musik hat sämtlichen Gefühlswert zu akkumulieren.

Beim christlichen Singspiel »The King of Love« geraten die historischen Sequenzen zu Gleichnissen für »Liebe« und für »Haß«. Da hotten die südstaatlichen rechten Anhänger von FBI-Chef J. Edgar Hoover zu Country-Klängen putzig durch die Kirchengänge. Bekanntlich hat der Reaktionär Hoover die Ermordung von King als persönlichen Erfolg verbucht. Gespielt von Dirk Michaelis verfügt er im Stück über ein eigenes Liedschema: »King of Love/Ich bin dein Schicksal/deine Qual/denn ich bin Hoover/ich kann nicht anders«. Heutzutage soll alles nach wie auch immer verkürzter oder verfälschter Anschaulichkeit drängen. Nachdem der linksmilitante Malcolm X (Colin Rich) zwei kurze Auftritte hatte und von King als Haßprediger etikettiert wurde, besteht an der unternehmerischen Botschaft kein Zweifel mehr: »Laß Gutherzigkeit den Haß überwinden«. Man soll Geschichte machen, nicht singen.

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