Eine Frau in dunkler Nacht, im Zoo. Erzählung

von Birgit v. Criegern

Dass die Leute in der deutschen Lebenskultur so sehr tierliebend seien, wird bekanntermaßen behauptet. Nur eine kurze Anmerkung, bitte! Meine Bekannte Anne aus Frankreich äußerte `mal zu diesem Thema: „Ach was, nicht nur in Deutschland, auch in meinem Land halten sich viele Leute Hunde. Aber nur in Deutschland seh ich oft Leute, die gleich zwei oder drei Hunde ausführen, und noch dazu so mordsmäßig große Gestelle, dass so ein Spaziergang zur Exerzierübung geraten muss! Zum Bummeln keine Chance!“ Wie diese Leute, manche von ihnen noch ganz jung, beim Trainieren und „Pfui! Weg da!“ Schreien noch Zeit fänden, sich mit Menschen zu unterhalten, die so viel mehr Aufmerksamkeit brauchen für ihre Schrullen, das wär ihr schon ein Rätsel, meinte Anne.
Aber die Leute haben womöglich ihre jeweiligen Motive für ihr Tierhalten. Ilse liebte Tiere . Und sie hatte zeitlebens ihre Gründe. Und eine Tages nahm sie, Ilse, geboren im Raum Hannover, Zuflucht zu den Tieren in einer Art, die mich an eine moderne Mowgli-Frau, eine Verlorene im Dschungel deutscher Verhältnisse, denken ließ. Eine bemerkenswerte Episode aus dem kalten Land. Ich will sie hier wiedergeben, auch wenn sie lange zurück liegt.

Heute lebte Ilse, schon fast betagt, mit einer Katze in ihrer Wohnung zurückgezogen. Als frühere Krankpflegerin verzehrt sie eine magere Rente, von der sie sich nicht mal eine Kino-Karte im Monat, über normales Essen und Leben hinaus, leisten kann. Von Mädchenzeit her liebte Ilse die Vierbeiner. Und je älter sie wurde, desto mehr redete sie mit diesen, und desto weniger mit den Zweibeinern. Ein Versuch, in der Familie zu reden und die Stiefmutter nach längerer Zeit wiederzusehen, scheiterte. Die Rede mit der Familie war Desaster, die Rede mit den Bekannten war trocken und trist. Nur endlos ebbten und fluteten ihre Reden mit dem Schnurri-Freund, nachdenklich und zart. Genauso ausufernd wie zuvor ihre Reden mit Johnny-Hundi und mit Betsy-Stute und Bolero-Pferd am befreundeten Gestüt…Da gingen Worte einfach und wohlig ins Tiergesicht hinein, da wogte das Fell freundschaftsversprechend, und zitterten die Barthaare vertrauenerweckend…
Vielleicht lag das Talent in ihren weichen Händen, die behüten und streicheln wollten, oder in ihrer genetischen Anlage? Und dann erfuhr Ilse auch wenig Zusprache von den Leuten, von den Erwachsenen – den rätselhaften Großen mit ihren rauen Händen, fetten Stimmen, die vor allem anderen nur kommandieren konnten.
Neunjährig, durfte sie sich erstmals einen Hamster namens Micki halten, später wendete sie sich den Pferden zu, tröstlich gut, traumhaft erlaubt für ihre mädchenhafte Rollenzuschreibung in jener Zeit. In Hannover geboren in der Zeit des Marshall-Plans, lebte Ilse mit den zwei Brüdern und den Eltern in einer Wohnung. In dem kleinen Einfamilienhaus eines alten Paares bewohnte die Familie nur das enge Obergeschoss zur Miete. Ein karger Garten hinter dem Haus durfte von den Kindern genutzt werden zum Sandkuchenbacken, und um Ostereier unter dem Haselbusch zu suchen.

Galt damals nicht das Großziehen von Kindern als unkomplizierte Sache? Sache von Arbeit, ja natürlich, aber bloß Strenge und Ordnung, materieller Organisierung? Ja, sicherlich war es so bei der Familie Ebbinghöfer. Und war damals wenige Jahre nach dem Krieg nicht ausgemacht, dass es die armen, gebeutelten Deutschen schon schaffen würden mit ihrem alten Pflichtbewusstsein, wenn nur der Vater ordentlich arbeiten ging, die Mutter kochte und adrett gekleidet war nach der Hausfrauenzeitschrift, und man mit bescheidenem Wohlstand wieder „Ruhe“ bekommen könnte? Das sind meine eigenen Vermutungen. Denn Ilse erzählte nur urteilslos in kleinen trockenen Worten von damals. Ob Härten oder keine, sie redete mit leiser Stimme von Einzelheiten, und in dem breiten kantigen Gesicht lag ein bewegungsloses freundliches Lächeln. Es überschauderte mich dann irgendwann, an einem Punkt ihrer Rede. In diesem trockenen Flussbett kleiner Kiesel, in dieser gleichmäßigen Rede zeigte sich mir etwas, das mich ängstigte. Aber ich will ihre Geschichte, die in Wahrheit keine simple Kieselgrube ist, ein wenig anders wiedergeben.

War damals nicht die Zeit des Misstrauens? Hatten die deutschen BürgerInnen nicht aus dem
Dritten Reich und dessen Vernichtung, meist „der Krieg“ genannt, so viel gelernt, dass „man sich nicht mit Politik befassen“ sollte (so sagte man oft) – aber bloß mit echten, handfesten Werten, und wenn nicht mit Politik, dann nur mit politischen Bündnissen gegen Unsicherheit? Ich stelle mir vor, dass das allgemeine Glück zunächst im guten Essen lag, dann in dieser und jener Bequemlichkeit, und dann in dem Stolz, als deutsche ArbeiterInnen oder Angestellte für große Firmen wieder Tüchtigkeit beweisen zu können, man wollte doch „nur leben“. Und wollte nur unsichere Faktoren, den Bolschewismus, die Faulheit und die Unordnung bekämpft wissen. Oder ausgemerzt. Den Feind im Innern und den hinter dem Eisernen Vorhang. Die Langhaarigen und die unsicheren Elemente, die neuen Feinde. Das alte Übel. Schon bekamen die deutschen technischen Großfirmen wieder zu tun und hatten die Leute wieder Arbeitsplätze. Wer sich mit Fleiß ins Zeug legte, erntete Erfolg. Nicht alle dachten so, aber derart ging es weiter und derart wurde es so einfach mit der westdeutschen Ordnung. Der Kanzler Adenauer vermeinte dann, dass Deutschland wieder stark werden müsse und es keine Verhandlung mit der DDR geben dürfe. „Klare Verhältnisse“. Kamen Wohlstand und Rüstung wieder, kam Peter Alexander und Fernsehen und NATO-Beitritt. Gegen diesen NATO-Beitritt protestierte jedoch ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerung, es wurden Plakate geklebt, Lieder gesungen in einer sogenannten „Ohne uns“-Bewegung. Doch sollte kein Missverständnis von den Prioritäten aufkommen, und da wurde die deutsche Ordnungspolitik auch brutal. 1952 wurde auf einer Demonstration der „Friedenskarawane der westdeutschen Jugend“ in Essen der junge Eisenbahnarbeiter Philipp Müller erschossen, diese Leute hatten friedlich gegen die Wiederaufrüstung demonstriert. War die Ruhe wiederhergestellt, ging es voran mit dem Aufschwung. Keine Fragen sollten gestellt werden, keine Verzögerung das Wachstum aufhalten. Und die üppigen Schaufenster bewiesen doch fürs Auge, wie glücklich man mit dieser Ordnung war.

Natürlich blickten die kleinen Familien nicht über den Alltag hinaus. Fragen stellen oder gar auf die Straße gehen, das lag denen ferne, die ihre Kinder großziehen wollten, mit der täglichen Organisierung alle Hände voll zu tun. Man schaffte Ordnung, und inmitten dieser Ordnung entstand dann etwas, das merkwürdig chaotisch wucherte. In die Verhältnisse der Familie, der Kinder hinein wuchs etwas Verworrenes und Unklares. Die drei Kinder schliefen im kleinsten Zimmer der Wohnung – mit Eisblumen am Fenster ab November, denn einen Kohleofen hatten nur das elterliche Schlafzimmer, und ein Gasofen war in der Küche. Dennoch fand es Ilse ganz hübsch, mit den Brüdern in dem Kinderzimmer einzuschlafen, solange bis sie ein eigenes Bett in der Abstellkammer bekam. Sie erzählte ihnen manchmal ein Märchen, das sie in der Schule gehört oder gelesen hatte. Hans im Glück mit dem Goldklumpen. Wenn sie eine Einzelheit vergessen hatte, fand sie sich mit einer Idee hinaus. Die Brüder hörten dankbar zu, bis Ilse abrupt endete: „Jetzt mag ich nicht mehr, schlaft jetzt.“ Vielleicht starrte sie dann auch noch gerne in das weiche Dunkel, das violett aussah, und ihr mädchenhaftes Träumen setzte gute Gestalten in dieses Dunkel hinein, öffnete Geheimgänge, die zu einem Palast führten. Dort regierte der Wundermann, ein gütiger alter Mann wie Gott, der alle Menschen bewachte und ihnen Gutes tat. Jemand mußte sich doch um alle kümmern, wenn sie schliefen, die kleinen Babies, die Eltern, die Vögel in ihren Nestern. Oder Ilse dachte sich einen Wald aus, in dem die Feen zusammentrafen und Lieder sangen, sie würden es ihr beibringen, schöne Lieder zu singen und zu schweben wie eine Libelle.

Die folgsame Ilse, die Älteste, stelle ich mir als sauberes kleines Mädchen mit netten Zopfschwänzchen vor. Sie sorgte sich viel und dachte lange Zeit, bevor die Fragen in ihr vertrockneten, über die Lebewesen der Welt nach. Wer kümmerte sich um das alles- die kleinen Insekten, wie lange überlebten die? Wo schliefen sie, damit kein Vogel sie frisst? Was geschah mit den Armen? Tanzten und sangen die denn auch, so wie die normalen Leute es manchmal taten und die Kinder, wenn Weihnachten herankam? Wer behütete die Mama und den Papa vor Krieg, wo es doch vor kurzem noch Krieg gegeben hat, und der war ja so groß, dass er haushoch über den Großen aufragte und gefährlich war. Da mußte man sich schützen, die Ilse hätte am liebsten alle geschützt. Später hörte sie auf, über manches nachzudenken. Reden konnte sie nie über die Fragen. Da die Worte ausblieben, vertrockneten auch die Gedanken. Ilse ging ungerne zur Schule. Aber sie machte sich fleißig und unsichtbar. Ihre Zensuren waren passabel, so wie auch die der Jungens. Zorniges Hochfahren der Lehrer, ein paar Tatzenschläge genügten oft, um Faulheit zu korrigieren. Natürlich spielten und tobten die Jungen gern, zuhaus und auf der Straße. Aber alle fügten sich unter das Vaterkommando.
Als Ilse sehr klein war und der Jüngere noch ein Säugling, war sie übermütig geworden. Sie schüttete ihren Teller mit Haferbrei auf dem Laminatboden aus und spielte Eisrutschen. Dafür bekam sie den Hintern voll. Aber auch mit den Brüdern war der Vater nicht zimperlich.

Hatte Herr Ebbinghöfer Spiellaune, dann schnitt er auch mal nach dem Abendessen Grimassen für die Kinder oder ließ Puppen oder Schachteln auf dem Esstisch tanzen und redete verrücktes Zeug dazu. Wurde er müde, klapste er den Hinterkopf seiner Jungen, „Dummkopf, troll dich!“ oder schlug die Faust knöchelhart auf den Tisch, gereizt von dummem Geplapper der Kinder. Der Vater arbeitete als Grafiker bei einem Zeitschriftenverlag, galt als fleißig, mehr als das: Er galt als gebildet und künstlerisch. Bei gutem Gehalt kurvte Herr Ebbinghöfer zwischen künstlerhafter Extravaganz und biederer Arbeitsmoral hin und her. Wie abenteuerlich sein Leben wirklich war, erfuhren die Kinder erst später. Für sie gab es wenige Abenteuer, auch die Jungens wurden kurz gehalten. Der ältere, Thomas, versuchte sich heimlich im Basteln, zurückgezogen unter der Essbank ließ er dem ersten Küchenmixer der Familie eine genaue Inspektion zuteil werden, so dass das Gerät nur mit Mühe gerettet werden konnte. Dafür bekam er Knüffe und Püffe vom betrübten Vater. Aber zum Basteln war wenig zur Hand, Spielzeug wurde selten gekauft. Eigentlich wäre Thomas auch gerne mit dem Fahrrad herumgerast, die steile Böschung hinunter zum Schrottplatz, wie es die anderen Jungens der Nachbarschaft machten. Das durfte er aber auch nicht, die Mutter verbot es ihm mit sorgenvollen Blicken: kein Fahrrad für die Kinder. Und auch nicht leihweise, viel zu gefährlich, punktum! Der jüngere, Paul, schickte sich ins Träumen bei seinen Teddybären, von denen er eine ganze Sammlung hatte. Und schaute aufmerksam hinter den dicken Brillengläsern, die ihm schon früh verpasst wurden, hervor und beobachtete die Kinder oder die PassantInnen auf der Straße. Er galt als einfaches Kind, bis er die Gitarre lernte und halbwüchsig in den Kellern der Freunde rockte.

Zum Träumen war die Luft ergiebig und dick genug. Die Launen des Vaters regierten das Zuhause, und die Melancholie der Mutter umhüllte dessen Worte und Eskapaden wie eine weiche Baumwolle, eine Charpie. Immer sorgte sich die Mutter. Immer redete sie leise, begütigend! Sie korrigierte Mißstimmung, regelte Essen und Essenszeiten, wendete Gefahren ab. Und sie witterte immer Gefahren. Vorsichtig äugte sie auf die Jungen und sanft billigte sie alles, was Herr Ebbinghöfer ansagte und angab. Er nannte sie „die Frau“, wenn er mit den NachbarInnen plauderte. Er aß ihr Essen, er nahm die von ihr gewaschenen und gebügelten Hemden aus dem Schrank und trug sie auf. Eine Waschmaschine war noch lang nicht im Haus, „die Frau“ wusch alle Kleider und Wäsche mit den Händen am Dachboden. Er teilte ihr, in launisch wechselnder Höhe, das Geld zu. Und weil man sich fast nie miteinander besprach, als Ehegatten, so dachte er sich selbst Beträge aus, mit denen sie hinzukommen hatte. Und weil diese Beträge nur zufallsweise mal ausreichten, hatte sie noch extra Anlass zu Sorgen. Ein klares Widerwort wäre ihr nie zugefallen, eingefallen. Auch nicht ein Widerwort zum Ausbleiben des Gatten, dessen Arbeitszeiten seltsam wackelig waren. Also fragte sie ihn nur vorsichtig aus, sie fragte und forschte. Mal kam er müde um sieben zum Essen heim, mal „schwer geschafft“ um ein Uhr nachts. Hier waren es Überstunden, dort ein Umtrunk „mit den Kollegen, die kennst du nicht alle“. Auch seine Ausflüge in die Stadt am Wochenende blieben nebelhaft. Und dass ihr diese und jene Bekannte zuraunte, sie hätte den Herrn Ebbinghöfer in Begleitung einer interessanten backfischhaften Person im Ratskeller beim Bier gesehen, schluckte Frau Ebbinghöfer bitter hinunter. Der Vati, der war doch ein Herr und ein Künstler. Seine Freiheit brauchte er nun mal, ein besonderer Mensch war er halt. Und schwer arbeitete er doch dazu. Und kränklich war er dann noch, von seiner Zeit im Soldatengraben mit jener Hepatitis. Von damals hatte er sich nie mehr ganz erholt.

Kann sein, dass Ilse deshalb doch manchen Zoff, manches Aufschreien zwischen den Eltern belauschte. „Meine Ruh`will ich!“ brüllte der Alte, wenn ihm das Seufzen und Fragen der Frau auf die Nerven fiel. Was fragte sie denn, was schaffte er denn nicht! Zum Fressen war eins immer genug da, und sie jammerte. Er brauchte seine Freiheit, er war doch wer. Tatsächlich mußte sie ihm nachgeben, weil er doch so einen besonderen, künstlerischen Kopf hatte. Niemand konnte Geschichten beim Kaffeetisch so erzählen wie er, niemand erlebte so Ausgefallenes. Da konnte er sagen: „Stellt euch vor, wie ich da in der Straßenbahn heimfahr, steht da so ein großer alter Herr neben mir, fein im Frack angezogen und hat zwei schwere Koffer. Und er hat einen Papagei auf der Schulter, dass ich meinen Augen nicht trau. Und ich soll ihm helfen, die Koffer hinunterzuwuchten, und er sagt mir, er kommt grad zurück von einer Südamerika-Reise.“ Immer hat er was erlebt, der Vati, was sonst kein anderer erlebt hat. Ein besonderer Mensch ist er, ein Draufgänger!
Die Kinder sind stolz auf ihn, er erzählt so schön Geschichten. Was er wohl macht, den ganzen Tag lang? Die Mutter beobachtet nur immer, und bleibt vorsichtig. Wieso war er da beim Verlagsdirektor zum Kaffee eingeladen, die Frau Scholz hat ihn doch am Marktplatz gesehen? „Lass mich, Frau! Was soll ich dir viel erzählen, das verstehst du doch nicht! Ich krieg keine Luft in dieser Sippschaft! Luft!“ Die Ilse hat schon mal dabeigesessen, da war sie noch klein, als die Eltern so zankten. Und der Vater stöhnte vor Wut und rief „Und wenn ich jetzt geh? Wenn ich einfach geh, Frau, was dann?“, und die Mutter schlug die Stirn gegen die Wand und weinte sich müd. In großer Wut griff er sich dann die Ilse und haute ihr eine herunter, dass sie das Glotzen verlernen sollte. Dann trollte die sich ins Kinderzimmer unter die Bettdecke und weinte.

Die Mutter hatte kaum ein Auge auf Ilse, denn das Mädchen war ja doch brav. Da mußte man sich nicht sorgen. Mit der Ilse sprach kaum wer. Die Mutter arbeitete nur immer, und sie gab zu tun. „Da hilf mir mal mit den Bohnen. Die Hausaufgaben hast du schon gemacht?“ Als die Jungens da sind, hat die Mutter nur noch mit denen zu tun. Und als die Jungens größer sind- die Ilse hat die Babies beide sehr geliebt- da fangen sie an in der Wohnung herumzukrauchen und „ein Aufhebens“ zu machen, da schauen die Eltern nur immer auf die Jungens. Ednlich bekommt die Ilse den Hamster geschenkt, um den sie oft gebettelt hat: hellbraun mit einer weißen Schnauze, so lieb. Mit dem Micki redet sie dann, wie sie vorher mit den Babies geredet hat. Der Micki hört zu und mümmelt bloß, so brav. Und dabei bleibt es, dass die Ilse mit dem Hamster in seiner Kiste spielen und schmusen darf. Wäre der Ilse nie eingefallen, mit dem Fahrrad fahren zu wollen. Sie hätte nur gern öfter mit den anderen Mädchen gespielt oder mal so einen Puppenwagen herumschieben. Dafür ist aber kein Geld. Der Vati muss ein Geld haben für seine Foto-Ausstattung, er hat auch eine Dunkelkammer im Bad eingerichtet. Und sonst ist kein Geld. Der Vati braucht immer Geld, und er wird immer wieder Anschaffungen machen, die unbedingt nötig sind: teure Fotoapparate und Druckplatten, und dann braucht er auch Geld für seine „Geschäftsessen“ in der Stadt. Dann ist kein Geld mehr da, was soll man machen, es ist halt eine große Familie. So sagt der Vati. Die Mutti selber träumt mal von so einer schönen Badeessenz, aber das hätte der Mann nicht gewollt. Sie fragt nie danach. Sie kränkelt, fühlt sich oft so schwach. Als eines Tages ein Hausierer vor der Tür steht, wird sie leichtfertig. Es kommt über sie. Da verkauft der Hausierer so einen schönen Kasten, dunkles Backelit, mit lauter feinen Fläschchen darin, „orientalische Kräuter zum Wohlbefinden“. Es sind Ginseng-Lösungen, die der modernen Hausfrau zu Kräftigung und Luxus-Freuden verhelfen sollen. Und wie die Mutti versuchsweise in der Blechdose nachsieht, findet sie wirklich die nötigen zwanzig Mark und gibt das Geld hin. Später beichtet sie es dem einen Jungen, dem Thomas. Ihr Herz war einfach zu schwer. Der Thomas ist eh lieb und hält zu ihr, weiß sie ja.
Die Ilse hat davon gar nichts gehört, und sie hätte auch nicht geredet. Redet man denn, als Mädchen? Was anderes, als was die Mädchen in der Schule erzählen aus den Romanen oder vom Film, was anderes redet sie doch auch nicht. Träumen halt! Liebhaben und Reden mit den Tieren. Seit sie elf ist, darf die Ilse auch die Pferdeställe ausmisten am Ploching-Gestüt. Himmlisch! Sie weiß sich nicht zu halten vor Glück. Nur hat der Vati es am Anfang nicht richtig mitbekommen, warum sie am ersten Samstag so spät nachause kommt, und haut ihr eine Backpfeife ins Gesicht. Die Mutti muss dann erklären, dass die Ilse ausblieb, weil sie durfte. Dann ist es dem Vati auch egal, diese Spinnerei mit den Pferden. Soll die Urschel doch machen, was sie möchte.

Und dabei kann sie doch nicht, wie sie möchte. Soll sie das alles hinbekommen, die Hausaufgaben, die Pferde, das Streiten der Eltern, das Nachdenken am Abend, und dabei bekommt sie nicht mal ihre Ruhe zum Einschlafen? Da steht der Vati dann oft noch neben ihrem Bett- seit zwei Jahren hat sie ja jetzt ein eigenes Zimmer in der Abstellkammer- und sagt „Ilschen du? Lass mich mal unter die Decke“. Und gibt keine Ruhe, bevor sie ihn nicht läßt. Und er kuschelt da so mit ihr und betastet sie, wie sie das eigentlich nicht mag. Sie denkt dann, er versöhnt sich mit ihr wieder und wird wieder lieb. Aber warum kann er nicht am Tag lieb sein und normal sein, in der Küche und wenn die Familie beisammen ist? Die Ilse hält still und sagt nichts, und sie weiß nicht, ob es ihr gefällt. Jahre später weiß sie, dass es ihr nicht gefällt, aber dann denkt sie nicht drüber nach. Sie denkt dann schnell an etwas anderes.
Tags, wenn sie am Küchentisch sitzt, schaut sie zur Mutter rüber, und die Mutter sieht nur müde aus und sagt auch nichts. Die Ilse denkt manchmal, die Mutter muss es doch merken, aber die Ilse wird sie nicht fragen. Und die Mutter schaut nicht, und sie sagt auch nichts.
Und nach einigen Jahren, da geht die Ilse dann aus dem Haus. Da ist sie siebzehn und mit der zehnten Klasse fertig, und das genügt, sagen die Eltern. Die Ilse will Tierpflegerin werden, sie hat jetzt schon einen guten Freund im Zoo und kann mit den Seelöwen und den Antilopen umgehen. Aber die Eltern lehnen es ab, „papperlapap“, sagt der Vati und die Ilse lernt Dekorateurin für Schaufenster. Das ist ihr auch recht, denn jetzt bekommt sie ein Geld und sie geht aus dem Haus und wohnt bei einer Freundin, billig zur Untermiete.

Die Eltern leben weiter in der kleinen Wohnung, und während die Jungen größer werden und Thomas sich nach dem Radfahren sehnt, heimlich nur mit den Freudnen zum Schrottplatz hinter der Böschung hinuntersteigt, verschämt und bescheiden übermütig, währenddessen tummelt sich der Vati in der Stadt. Der Jüngste fängt an, auf der Gitarre zu spielen. Den Thomas packt Neugierde für alle Apparate und Geräte, er sammelt auch Schrottteile und bastelt sich einen Transistor. Davon, was die Jungens umtreibt und beschäftigt, da weiß der Vati fast gar nichts. „Spinner!“ sagt er nur manchmal beim Mittagessen und dann trollt er sich wieder.
Man sieht ihn kaum noch, er ist zu einer Druckerei in einer anderen Zeitung gewechselt und noch dazu Pförtner in einem Pflegeheim geworden, weiß der Himmel weshalb! Später erfahren die Kinder, dass der Vater mit wechselnden Liebschaften unterwegs ist und auch noch eine Kammer im Pflegeheim für Schäferstündchen nutzt. Manchmal wird er auch in der „Josephusklause“ gesehen, wo er am Stammtisch die interessantesten Geschichten erzählt. Für die Söhne hat er kaum Zeit, nur dass er an den Weihnachstagen mit ihnen Eisenbahn spielt. Doch danach wird die Eisenbahn in den Schrank verschlossen fürs ganze Jahr. Einmal nahm der Vater aus Laune heraus den einen Bub, den Thomas, und zog ihm ein altes Köhlerkleid an und schmierte ihm Ruß ins Gesicht. Und so ging er mit ihm in die Kneipe und stellte den Knaben vor. Was ihn da wieder geritten hat! Was für Einfälle der Vati hat! Der Thomas schaut sich verschämt um, sieht die belustigten Gesichter und nippt von dem Glas Bier, was der Vater vor ihn hingestellt hat. Thomas versucht zu grinsen, er weiß nicht recht, soll er reden oder einfach nur da sitzen? Komisch ist er, der Vati!

Die Mutti kränkelt sehr, und dann stirbt sie mit einmal. Die Jungens sind eben noch zur Schule gegangen, da hat die Mutti Schnee geschippt. Und wie Thomas nachhause kommt, da sagt ihm die alte Frau Hierzhals, die Vermieterin, dass sie die Mutti ins Krankenhaus gebracht haben. Sie wär zusammengebrochen. Und wie der Junge am nächsten Morgen zum Krankenhaus will, da kommt ein Anruf, sie sei gestorben. Es war eine Lungenentzündung.
Sie treffen den Vati dann erst am späten Abend an, wortkarg ist er, als er die Nachricht erfährt. Dann zieht er sich ins Herrenzimmer zurück und telefoniert, weiß der Himmel mit wem. Mit den Liebschaften? Mit dem Krankenhaus? Mit den Kollegen?
Wer sagt die Nachricht aber der Ilse? Der Vati tut es bestimmt nicht. Und so zieht sich Thomas am andern Tag die Jacke an und fährt mit der Straßenbahn zur Ilse zum anderen Ende der Stadt, und überbringt ihr die Nachricht, dass die Mutti gestorben ist. Sie weinen beide und halten sich ungeschickt an den Armen fest. Und dann verabreden sie, die Ilse soll am nächsten Mittag heimkommen, und dann fährt Thomas wieder heim.
Sie bekommen die Mutter aber nicht mehr zu sehen, sondern sehen erst den Sarg, den geschlossenen dunkelbraunen, bei der Trauerfeier! Da sitzen sie dann beisammen mit den Nachbarn und den Verwandten, und ein Geistlicher redet feierlich, und die Kinder starren wie hypnotisiert auf den Sarg, keiner hat daran gedacht, ob sie die Mutti noch mal sehen wollen. Und der Sarg ist schon zu!
Und als die Trauerfeier vorbei ist und die Kinder sich aus der bedrückenden Runde mit den Verwandten verabschiedet haben, da hören sie nichts von der Beisetzung. Der Sarg wird weggetragen und sie wissen nicht, wie es weitergeht- bis sie Wochen später hören, dass die Mutti jetzt beerdigt ist.
Der Vater hat wieder telefoniert und organisiert, und hat die Mutti beerdigen lassen an einem der nächsten Tage, ohne Feier. Er hat es den Kindern nicht gesagt, und die beraten sich untereinander, was er denn wohl getan hat und wohin der Sarg gekommen ist. Von jetzt an schweigt der Vati von der Mutter, mundfaul grummelig, noch selbstherrlicher denn je. Und er wird ärgerlich, wenn die Kinder nach ihr fragen, als wenn´s die größte Zumutung wär. Jahre sollen vergehen, ehe Herr Ebbinghöfer bereit ist, ihnen die Grabstelle zu nennen. Die Ilse geht dann dort hin: Das Grab liegt da, fast überwuchert von Kraut und Brennesseln, bescheiden verschattet, passend zum Mutter-Charakter. Nur eine unbekannte Person hat Begonien da hingesetzt, der Vati war es bestimmt nicht.
Der Vati redet nicht viel. Schon Tage später erwähnt er die Mutti gar nicht mehr, redet nur noch von der „vielen Arbeit“ und von „dem Essen, was jetzt rangeschafft werden muss“. Da sind die Jungens zwölf und sechzehn Jahre alt, die Ilse ist zwanzig.

So war die Kindheit von Ilse. Wenig wurde geredet, und das meiste, was sie reden wollte, teilte sie den Tieren mit. Die Mutti entschwand ihr dann, als die Ilse sich wenige Jahre außer Haus befand. Was hätte sie mit ihr noch geredet, die Ilse weiß auch nicht. Sie hätte die Mutti gerne länger gehabt, das ist alles was sie weiß. So rettete sie sich aus der Enge und wechselte hinüber zum Pferdegestüt und dann zum Zoo. Als sie ihre Ausbildung zur Dekorateurin fertighatte, da hat sie kaum ein Jahr gearbeitet für Schaufenster-Dekorationen bei Hertie und bei Feinkost Lohse und Boutique Kronmeyer, da macht sie dann doch noch eine Ausbildung als Tierpflegerin hinterdrein. Muss aber die Ausbildung abbrechen, weil ihr das Geld nicht reicht. Vom Vati hat sie nie Geld bekommen.

Der Vater hat sich, zwei Monate nach dem Tod der Mutti, eine neue Frau genommen. Sie heißt Waltraud und kommt aus guten, anständigen Kreisen. Sie trägt einen glatten Bubikopf mit Prinz-Eisenherz-Schnitt über den Augen, und darunter sieht man eine große runde Brille, hinter der treuherzige anständige Augen blicken. Ihr Vater war Lehrer und sie hatte von klein auf gelernt, was sich gehört. Als eine tugendreiche Tochter ging sie bei dem eigenen Vater in die Schulklasse. Grammtisch korrektes Reden und Benimm sind ihr auf den Leib geschrieben bis zum heutigen Tag. Immer sauber und fleißig, ohne Tändelei mit den Herren lebte sie lange nach der backfischzeit noch. Und eine verantwortungsvolle Aufgabe hatte sie im Krieg, entschlüsselte bei der Spionage Funkbotschaften für das Reich. Nachher dann also, als „alles wieder besser wurde“, studierte sie und wurde sie Allgemeinärztin, ohne Herrengeschichten immer noch. Solange, bis ihr Vater starb. Dann lernte sie den Herrn Ebbinghöfer kennen, einen feinen Herrn mit extravaganten Manieren. Nein so gebildet! Sie lauschte seinen Verbreitungen über die Welt, bewunderungsvoll-beglänzt! mit ein. Zusammen betrachteten sie die Welt, schwärmten sie von Kunst und Sittsamkeit. Das war ein Mann von Welt, die Waltraud hatte ihn gleich erkannt! Sie trafen einander öfter, da waren die Jungens noch klein und die Ilse noch im Haus. Vielleicht sieben Jahre, bevor die Mutti starb, hatte der Herr Ebbinghöfer die Waltraud getroffen und mit ihr eine Plauder-Liebschaft begonnen, während er zahlreiche andere erotische Liebschaften weiterführte. Und irgendwann war er dann wohl auch mit der Waltraud in die Betten gegangen, und es ward innig-ernst für sie, dies Verhältnis! Schmerzlich nur, diese vereinzelten Stunden, dunkel-verschämt! Immer wieder zog er los in seine Abgeschiedenheit…Und irgendwann eröffnete er der Waltraud dann, dass er Kinder habe, sagte ihr vorsichtig diese Worte: „Es gibt da einen Jungen, zu dem ich eine besondere Beziehung habe…“. Und es sollte noch länger dauern, eh Waltraud sich eingestehen mußte: sie pflegte, wenngleich innig-ernst, ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann…Aber wenn er doch ein Mann von Welt war! Und so unverstanden!

Lange Zeit wähnte Waltraud, Herr Ebbinghöfer sei unverheiratet. Jedoch niemals wähnte sie, dass er auch noch weitere Liebschaften parallel unterhielt. Die Ehefrau Ebbinghöfer wähnte lange Zeit, ihr Gatte habe nur wechselnde Liebschaften, und nie erfuhr sie von Waltraud. Das ganze, komplizierte Ensemble aber, die Ehefrau, die langjährige Plauder-Freundin und die zahlreichen wechselnden erotischen Freundinnen und die spätere erotische Hauptfreundin Karla, alles verwaltete Herr Ebbinghöfer mit meisterlicher Erzählkunst! Beweglich-taktisch! Erst viele Jahre später, nach seinem Tod, sollten seine Kinder die Fragmente seiner Existenz zusammenstellen. Waltraud, die nun bei ihnen zuhause einzog, wurde ihnen für die Wahrheit keine Leuchte. Sie himmelte den Vati an, „der geht so schwer arbeiten“. Und sie rügte die halbwüchsigen Jungen und Ilse, dass sie ihm Unordnung und Schmutz beschwerten. In diesem Haus, fand Waltraud, lebte Hans Schludrian, und müsste eine fähige Frauenhand Anstand und Sitte einführen.
Während sie versucht, predigend und staubwischend die Hausmutter zu verwirklichen, wird der Vati hinter ihrem Rücken die nächsten Abenteuer suchen, abgeschirmt und behäbig. Er findet dann eine solide Zweitfrau für Bettgeplauder, erlebt verschiedene hitzige Liebesakte mit Gespusis aus dem Wirtshaus, die er ins Pflegeheim zum Rendezvous einlädt. Diese neuen Parallelbekanntschaften wird Waltraud erst Jahrzehnte später erahnen.

Die Jungen sehen Waltraud ernst ins Gesicht. Verwahrlost sollen sie sein? Paul schluckt hinter seinen dicken Brillengläsern. Thomas beißt die Zähne aufeinander. Er wird sich aus ihrer Nähe fernhalten, beschließt er. Sie rückt ihm zu Leibe, so gut sie es in ihrer vertrockneten Art vermag. „Sei ein guter Sohn, bring deine Socken runter zum Waschen, und dann hilf mir beim Bügeln.“ Thomas stellt sich taub, und in einem unbeobachteten Moment klaubt er seine Socken aus dem Schrank, nimmt alle und vergräbt sie im Garten. Des Abends löchert ihn die Stiefmutter wieder wegen der Wäsche, und er sagt ihr, „grab sie doch aus“, er zeigt auf den Garten. Waltraud reißt die Augen hinter der runden Brille auf und holt Luft. „Das ist ja unglaublich, hanebüchen!“ Sie schreit und wackelt mit den Knieen dabei: „Ein Augiasstall ist hier, das kann ich nicht aushalten!Neinnein!“ Sie schreit und gerät so sehr außer Atem, dass die Jungen sich mit Mühe das Lachen verbeißen.
Waltraud nimmt den Jüngsten unter ihre Fittiche. Er soll gute Manieren lernen, er soll sich pflegen und bilden. Paul läßt es geschehen. Er soll gerade sitzen, wenn er isst. Den Rücken gerade, und den Stuhl anständig rangerückt. Waltraud liebt die rechten Winkel. Sie zuppelt an Paul herum, sie korrigiert und ordnet…Und nicht reden während des Essens! Paul läßt es geschehen und vergräbt seine Sehnsucht nach Mutter unter träumerischen Spielen, wenn er am Tisch sitzt, oder wenn er aus dem Fenster sieht. Und er hört Musik, vom Radio, so oft er kann. Wenige Jahre später wird er die Flucht in die Eckkneipen antreten, und sich mit der Gitarre Freiheit und Beliebtheit verschaffen.

Thomas liegt jetzt, abends, lange Stunden wach. Er denkt an Mutter, die ganz einfach verschwunden ist. Und wie die Großen nicht mehr von ihr sprechen, das kann er nicht begreifen. Und wie er sich vor der neuen Mitbewohnerin schützen soll, das will jetzt gut überlegt sein. Auch tagsüber denkt er immer noch an Mutter. Die Gedanken schlüpfen einfach alle fort, und zurück in die Vergangenheit! Was soll er mit den Schulbüchern, den Heften? Er kann nicht mehr weiterlernen, das Curriculum rattert einfach so weiter. In der Schulbank denkt er schon ungut an Zuhause, wo die neue Mitbewohnerin herumwirtschaftet. Und an die NachbarInnen, die ihn und die Geschwister immer so mitleidig anschauen. Dann ruckt ihn der Lehrer wach mit General Blücher, Ebbinghöfer resümier bitte für uns noch mal den wichtigsten Feldzug! Thomas sieht dem Lehrer aufmerksam ins Gesicht, sieht die verärgerten Augen- der ist ja immer verärgert. „Nichts weißt du! Eine Niete, wieder mal!“ Der Geschichtslehrer schimpft und zieht vom Leder. Das geschieht jetzt jeden Tag. Und schon nach kurzer Zeit ist Thomas im Lehrplan ganz abgehängt. Die LehrerInnen sind beleidigt von seiner uninteressierten Art. Ja, manchmal schwänzt er sogar und lebt unbekümmert in den blauen Tag hinein! Keiner erinnert sich mehr, dass Thomas früher in etlichen Fächern gut war, dass er wache Fragen stellte. Und es dauert nicht lange, da erklärt der Klassenlehrer den Thomas zum Schulabgänger. So ein fauler Strick! Der Klassenlehrer, der zugleich Rektor ist, wird den Thomas vor der versammelten Aula als schlechtes Vorbild vorführen- und ihn dabei verabschieden. Es folgt ein kurzes, trockenes Gespräch mit dem Vater. Der Vater zuckt mit den Achseln, ja wenn das so ist, soll der Junge halt mit einer Lehre anfangen. Thomas schluckt und hält still. Das Abitur hätte er gerne versucht. Aber was kann er jetzt noch ausrichten?

Kam Ilse noch zurück ins Elternhaus, so wurde sie von Waltraud durch die Brillengläser hindurch beäugt. „Kommt die Madam`auch mal nachhaus? Willst du gar etwas vom Vati? Der ist nicht da!“ Die Ilse will nur Gutentag sagen und die Brüder sehen, die Waltraud wittert Unordnung durch das schlampige Mädchen, das von der Mutter nichts Gutes gelernt hat. Keinen Anstand, keine Zucht. „Was soll das überhaupt, sag`s nur gleich, dein Herumhängen mit diesem Tierpfleger?“ –“Ach Mutti, wo ich ihn doch schon so lange kenn“, sagt die Ilse, traurig-zahm. Der Guntram war der erste, der ihr geduldig das Antilopen-Füttern zeigte, und der sich ebenso gern wie sie über Tiere unterhielt. „Der ist doch schon verheiratet, oder nicht? Von dir will er nix!“ Die Waltraud blitzt und bebt unter der glatten Frisur. Schon wackelt sie in ihre epileptischen Wutattacken hinein. „Ein Widerwort gibst du mir, deiner neuen Mutter? Den Dickkopf kehrst du mir heraus“, hochdeutscht sie. Und sieht die Ilse wütend-hilflos an. Dann wirft sie das Küchenhandtuch hin. „Ich will-endlich-eine-Ruhe-haben hier im-Haus!“ Sie stampft mit dem Fuß und schreit rhythmisch. „“Keiner will-mir-den-Respekt-erweisen! Alle seid ihr zu verwöhnt und verwahrlost, unter diesem Dach!“ Die Ilse kann sich unter den Angriffen der Stiefmutter nur winden und abwarten. Dann, in einer Sekunde, schlüpft sie hinaus, wenn sie den Tritt von einem der Brüder hört von dort auf dem Gang. Und sie unterhält sich mit dem Bruder heimlich, abgerückt-weggerückt in eine Sitznische, in einen Winkel. Und sie geht schnell wieder. Grußlos für die Stiefmutter. Manchmal beklagt sich die Stiefmutter, wenn die Ilse sie nicht grüßt. Manchmal beklagt sie sich, wenn die Ilse doch grüßt- weil sie respektlos grüßt, und weil sie überhaupt da ist, weil sie noch sichtbar ist.

Die Ilse erträgt es nicht, bei der Waltraud sichtbar zu sein. Nun bleibt sie wieder außer Sicht für lange Zeit! Sie lernt einen jungen Mann kennen, beim Mittagessen im Gasthof, und bleibt wochenlang mit dem Mann, Hannes. Sie überlegt, ob sie zu ihm zieht. Aber er wird locker-unlustig, und bald geht er schon fremd mit einer anderen, sagt es ihr nicht. Ilse weint und ist sehr verletzt. Als sie ihn mit Vorwürfen konfrontiert, beschimpft er sie. In jener Zeit beginnen bei ihr auch Geldsorgen, und sie fängt noch mal mit Dekorationen und Innenausstattung an. Eine langweilige Arbeit, dieses Herumwerken mit Katalogen für die Stoffe, Holz und Blechverkleidungen. Zu trocken-untergiebig. Sie möchte mit Lebewesen arbeiten, doch beim Zoo haben sie keine Stelle frei, und auch als sie die Zeitungen durchforstet nach einer Gestüts-Arbeit, wird sie nicht fündig. Einmal fragt sie den Vati nach dem Geld von ihrem Sparguthaben, das die Eltern für die Kinder angelegt haben. Der Vati sagt ihr: „Ach ja, euer Sparguthaben, Ilschen! Ja, euer Sparguthaben. Das ist noch da.“ Sie vereinbart mit ihm, dass er ihr ihren Anteil davon jetzt auszahlen soll und es vorbeibringen am Wochenende. Und am Wochenende kommt der Vati wirklich zu ihr nachhause zum Kaffee, aber er hat kein Geld dabei. „Stell dir vor, Ilse, was da passiert ist…Da geh ich mit dem Geld los und setz mich im Stadtpark ein bisschen hin in die Sonne. Und da kommt ein Landstreicher, so ein richtiger Vagabund mit langen Haaren und einer Sackpfeife, hast du nicht gesehn. Und ich red so mit dem Landstreicher, und er erzählt mir von seinen Reisen in Italien und Spanien. Ein interessanter Typ, denk ich noch. Und wie ich dann in die Straßenbahn einsteig, merk ich, dass das Geld weg ist! Kannst du das glauben, Ilse? Können die Leute so unanständig sein? Ja, es tut mir leid, mein Herzchen.“ Und die Ilse sieht den Vati bedauernd an und weiß, was passiert ist. Sie hat es schon geahnt, was passiert ist. Und sie hat es auch fasdt nicht geglaubt, dass der Vati hr Geld geben würde. Das wäre, überhaupt, das erste Mal im Leben gewesen. Später hört sie von den Jungs, dass die auch keine Mark von dem Sparkonto gesehen haben- aber sie erzählen andere Geschichten als die Landstreicher-Version. Beim Vati gibt es immer eine Fülle von Geschichten. Fabelhaft-erstaunlich!

Endlich fängt sie die Altenpflege-Ausbildung an, das dauert zwei Jahre. Sie lernt Lutz kennen, einen Reitlehrer, der auf dem Gestüt herumläuft, wo sie gut Freund ist mit den alten Bekannten. Ein schneidiger Kerl, der sich mit den Pferden auskennt. Und er erklärt der Ilse alles so gut, sie kann immer nur lauschen. Sie fangen eine Beziehung an. Und sie zieht mit ihm in eine geräumige Ein-Zimmer-Wohnung am Stadtrand. Und dann heiraten sie, damit es auch alles seine Ordnung hat. Geld kann die Ilse auch jetzt nicht zur Hochzeit erwarten, stattdessen tischt ihr der Vati wieder eine Geschichte auf. Die tausend Mark, die er ihr eigentlich schenken wollte, die mußte er einem kranken Kollegen geben, der grade erwischt worden wäre von der Gürtelrose! Und jetzt hätte er so viel Arbeitsausfall, dass er ernsthaft in Geldnöte gekommen wäre. Da wäre er der Vati die letzte Hoffnung gewesen, und wie konnte er den Kollegen, einen herzigen Freund und Mitarbeiter, denn enttäuschen! Der Vati sitzt da feist und gemütlich, und erklärt die Sachlage. Die anderen alten Leute sind gerührt, insbesondere die Waltraud. Die Ilse schaut nur und ist gekränkt. Und dann wechselt sie das Thema.
Zur Hochzeit kommen alle zusammen nach der Trauung. Die Eltern von Lutz und die Eltern von Ilse sitzen beisammen in dem großen Esszimmer in der neuen Wohnung, und schauen einander säuerlich-nett über die Likörgläser hinüber an. Und die Eltern von Lutz sagen der Ilse barsch „Jetzt rühr dich mal und bring den Kuchen!, und die Eltern von Ilse sagen der Ilse frech: „Deinen dünnen Kaffee, hast du den aus der Regenrinne?“ Und der Vati will außerdem mit einem guten Scherz glänzen und fragt die Ilse, ob sie denn das weiße Brautkleid überhaupt tragen dürfte. Und die Ilse wird rot, und Waltraud hackt mit ihrer pingeligen Sprache nach, und sagt: „Das möchte ich nur zu gern glauben, und beim Glauben wollen wir`s bewenden lassen.“ Ob hier in diesem Hause Anstand herrschte, ginge sie Waltraud ja nun gar nichts an, da kehre jeder vor seiner eigenen Türe. Und später, als die jeweiligen Eltern und die Handvoll Bekannte gegangen sind, seufzt die Ilse auf, erleichtert-breit. Aber noch später, als sie den Abwasch macht, heult sie doch noch, hilflos, schwächlich.
In dem Zuhause fühlt sie sich manchmal wie verloren, so klein-hoffnungslos…Da gibt es viel Platz, und der Lutz erwartet von ihr, dass sie alles erfüllt mit perfekter Hausfraulichkeit und kunstreicher Gemütlichkeit. Die Ilse kennt sich da gar nicht aus. Sie sucht Möbel aus dem Katalog zusammen, und dann putzt sie die Möbel gewissenhaft zweimal die Woche, abends, lustlos-trostlos. Und sie kocht für den Lutz, aber kann es ihm nicht recht machen, er fängt rasch an zu stänkern und zu maulen. „Hab Geduld mit mir“, sagt sie ihm, die Hausfrauenrolle wäre noch neu für sie. Zuhause hätte sie der Mutter zwar geholfen, aber sie wurde doch nie recht ernst genommen. Dann kommt der Junge zur Welt, der Manuel. Nun hat sie zur Hausfraulichkeit noch die Erziehungsarbeit dazu, denn der Lutz verdrückt sich gerne zum Bier in die Essecke. Manchmal bleibt er auch weg zum Darts-Spielen mit den Kumpels. Ilse nimmt das Kind ins Wohnzimmer mit, schaltet den Fernseher ein, legt eine Decke auf den Boden. Setzt sich mit dem Kind auf die Decke vor dem Fernseher. Dann schaut sie dem Jungen zu, der in seinen Windeln aufsteht und wieder hinfällt, den Hintern hochhebt und wieder zu Boden plumpsen läßt. Ihm muss geholfen sein! Ilse versucht, dem Jungen zu helfen, hoch-runter, hoch-runter. Bald wird ihr langweilig. Wann kann sie zu kochen anfangen? Es ist noch nicht soweit. Wider „hilft“ sie dem Jungen. Hoch.runter, hoch-runter. Der Manuel schaut ihr ins Gesicht und lacht, öffnet den Mund, innen ist er ganz rosa. Sie schaut den Jungen mit dem offenen Mund an und streichelt seinen Kopf. Im Fernsehen zeigen sie eine Sendung über Rennfahrer, und Ilse hört dem Reporter zu. Der Manuel drängelt in ihren Armen, wieselnd-kraftvoll, er drängelt weg von ihr und schlüpft ihr aus den Armen. „Was willst du denn? He, Bub, was willst du denn?“ Die Ilse hält ihn zurück und passt auf ihn auf. Manuel fängt zu weinen an. Wie schnell der immer weint. Was der immer will. Die Ilse ist unglücklich mit dem Kind. Sie sitzt bei ihm und streichelt seinen Kopf. Nach fünfzehn Minuten steht sie auf, um das Abendessen vorzubereiten.

Ilse verbringt viel Zeit mit dem Kind, sorgt für ihn und passt auf. Sie füllt die Zeit aus mit „hoch-runter“, und mit Fragen und Zuschauen, und mit Aufpassen. Sie macht die Zeit tot, die bis zum Essen bleibt. Sie möchte lieber mit Tieren reden, ihnen das Fell streicheln und das Futter bringen. Sie kann dieses wieselnde, eigensinnige Kind nicht begreifen. Vor allen Dingen weiß sie, dass sie mit ihm reden sollte. Aber was soll sie eigentlich mit ihm reden?
Der Manuel wird heranwachsen zu einem eigensinnigen, verschlossenen Jungen. Er wird sich später an den Vater halten, als er älter ist. Und er wird zum Vater halten, selbst dann, als der Lutz grob wird zu ihr. Der Lutz, der kann immer so schön von seiner Arbeit erzählen, und so schön referieren von den Pferden und von der österreichischen Gräfin, die bei ihm das reiten lernt. Und er redet mit der Ilse, als ob sie gar keine Ahnung hätte von den Pferden. Er wird geradezu der Meister und der Herrgott vor der Ilse. Er macht sich sehr dicke. Und das tut ihr weh, wo sie jetzt doch bloß gelernte Altenpflegerin ist und stumpfe Hausfrau. Wie sie ihm so widerspricht, und ihm sagt: „Das kenn ich schon alles, deine Geschichten!,“ da wird er grob. Und einmal gibt er ihr eine Kopfnuss, weil sie so frech ist. Er ist ein grober Mann, ein schlechter Mann!
Ilse hält geduldig in der Ehe aus, mit grauem Gesicht und gläsern-starrer Miene. Um die Ehe zu entlasten, geht sie bald wieder arbeiten, als der Junge größer ist. Sie lernt nun auch noch Krankenschwester, denn Geld ist genug da, solange bis sie richtig anfangen kann als Schwester zu arbeiten. Sie bleibt jetzt gewissenhaft im Krankenhaus zur Arbeit, lernt gewissenhaft für den Abschluss. Der Junge macht keine Probleme in der Schule, aber trollt sich viel herum. Keiner kann ihm in den Kopf sehen, diesen länglichen Kopf mit den Wuschelhaaren und den blitzenden Augen. Er bekommt einen Schlüssel um den Hals gehängt. Er kuckt misstrauisch-ärgerlich, wenn die Mami abends nachhause kommt. Dies Wegbleiben nimmt er ihr sehr übel, bemerkt sie bald. Und in der Ehe kracht es nur noch, zwischen dem Lutz und ihr. Solange, bis sie es nicht mehr schafft. Und sie will die Scheidung. Lutz sträubt sich zuerst, aber dann willigt er auch ein.
Die Eltern, der Vati und die Stiefmutti, haben es schon immer gewusst. Vor allen Dingen Waltraud hat es schon immer geahnt, und sie hat der Ilse schon immer Erziehungshinweise gegeben, wenn die Ilse noch greifbar gewesen war- was aber nicht mehr oft vorkam. Die Waltraud hat gleich gesehen, dass der Manuel immer so vernachlässigt herumlief, und dass er keine saubere Kleidung hatte und kein gutes Taschentuch, und so weiter in Ewigkeitamen. Die Ilse hat sich nur immer zornig weggewendet, und hat der Waltraud nicht mehr zugehört, und sie wollte auch nicht, dass Manuel zur Waltraud ging. Aber der Manuel, seit der acht Jahre war, ist doch manchmal heimlich zur Oma gefahren, wenn er sich einsam fühlte. Und die Waltraud hat es der Ilse dann aufs Brot geschmiert, dass der Junge bei ihr auf der Schwelle stand. Ein verlassenes Kind, um Hilfe bettelnd! War doch sie, die Waltraud, die einzige Person, die ihm Solidität und Anstand geben konnte!
Als die Ilse sich nun scheiden läßt und auch nachgibt, dass Manuel beim Vater bleiben soll, da redet sie nicht mehr drüber. Sie nimmt sich eine andere Wohnung in Döppel und arbeitet in Hamburg. So, da ist sie jetzt weit weg von der früheren Sippe. Es ist wohl auch ganz gut so.
Sie geht auch lange Zeit nicht mehr zu den Eltern. Sie telefoniert manchmal mit Paul, dem jüngeren Bruder, der jetzt auch außer Haus wohnt. Er hat die Schule mit der Mittleren Reife beendet und dann versucht, im Musikhandel seinen musischen Vorlieben Genüge zu tun. Aber über eine kurzfristige Vertretung kam er nicht hinaus und hat dann als Hausierer Kunstblumen und Kaffeetassen verkauft. Auch abends hat er im „Plüschcafé“, der schmierigsten Kneipe am Ort, Gitarrenkonzerte gegeben und manche Deals gemacht, so dass er sehr gut über die Runden kam. Und noch später hausierte er mit Tiernahrung, und hat noch später einen Laden für Tiernahrung eröffnet.
Der andere Bruder, Thomas, hat sich rasch aus der Familie verabschiedet. Seit der Lehre bei einem Techniker hat er sich ein Zimmer zur Untermiete gesucht, und ist da hin gewechselt. Er spricht mit der Stiefmutter immer noch per „Sie“. Der Thomas, sensibel-aufmerkend, hat seine eigenen Bedingungen geschaffen, um mit der verrückten Familie zu verkehren. Zwar hat die Waltraud, dreist-hinterlistig, zu ihm gesagt: „Wenn du mich duzt, dann bekommst du das Geld für den Führerschein!“ Aber er ist nicht drauf eingegangen. Verärgert-dunkel hat er Waltraud aus seinen ernsten blauen Augen angesehen und verweigert. Dann hat er seine alten „Entdecke den Kosmos“-Bände verkauft. Und mit dem Erlös hat er die ersten Fahrstunden finanziert- ohne zu wissen, ob es hinreichen würde. Dann hat es hingereicht.
Mit den anderen Jungs war Thomas jetzt viel auf Achse, machte eine Radtour nach Belgien mit ihnen. Zurückgekehrt, suchte er sich seine erste Stelle als Techniker bei einem Fernsehverkauf. Abends ging er zu den anderen Kumpels zum Abhängen und Gitarrespielen, oder er jobbte und fuhr Zeitungen mit dem Auto aus. Bei den anderen Kumpels, da war auch kein rosarotes Leben, aber sie hatten klare Verhältnisse. Ging da ein Riss durch die Familie, war ein Elternteil gestorben, da konnten sie miteinander doch offen reden, und hat kein stiefmütterliches Tugendwunder, scheinheilig-schimmernd, das Ruder übernommen.
Noch etwas später wird der Thomas seinen Wehrdienst machen müssen, weil ihm zu spät die Idee gekommen ist, nach Berlin abzuhauen. In dem Wehrdienst wird er sich verloren fühlen, alleine unter der aufbegehrenden Moral der Alten, von Vater Staat, Stiefmutter und tugendscharfen alten Säcken. Er wird das Gelöbnis offiziell verweigern, zusammen mit zwei anderen Jungs- es ist offiziell erlaubt, auch wenn man zum Wehrdienst da bleiben muss. Und so, auffällig geworden, wird er als Einzelkämpfer den Kampf aufnehmen gegen die Vorgesetzten. Er schreibt Eingaben und Beschwerden auf seinem Zimmer, so oft er die Zeit findet.

Als die Ilse endlich geschieden ist, da bleibt sie in ihrer kleineren Wohnung, die sie sich genommen hat, und ringt nach Luft. Und sie geht tagsüber zum Arbeiten ins Gertrauden-Krankenhaus, und setzt sich abends vor den Fernseher. Oder sie beginnt, Glückwunschkarten zu basteln, wunderbare Glitzerkarten mit Herzchen, Steinen und Perlen. Da bastelt sie dann in ihrer Ruhe, in ihrer Abgeschiedenheit. Dann, wenn niemand sie zum Reden zwingt, kommen ihr die besten Gedanken und Träume. Seit langem hat sie nicht mehr so geträumt. Sie legt Herzchen und Perlen, und bastelt Weihnachtskarten. Und beim Anblick von dem Glitzer kommen ihr die besten Gefühle…Wünsche eben, rosa-zögerlich, schwächlich glimmend. Nichts Ernstes und nichts Ehrgeiziges ist es ,was sie so vor sich her träumt. Und dann, endlich, schafft sie sich einen Hund an, den Johnny. Mit dem Johnny kann sie ausgiebig plaudern, sie kommt mit ihm ins beste Einvernehmen. Ja, sie versteht sich mit dem Johnny viel besser als mit dem Bub und dem früheren Mann.
Eines Tages telefoniert die Waltraud dann doch hinter ihr her. Vielleicht, weil Weihnachten kurz zurück liegt, und sie auch eine Karte von der Ilse bekommen hat. Oder vielleicht, weil Waltrauds Familiensinn sich wieder regt und alle wütende Epileptik vergessen machte. Sie möchte doch mal mit allen Leuten aus der Familie telefonieren und eine Versöhnung herbeirufen, sagt Waltraud mit trockener, biederer Stimme. Nicht Anstand sondern Versöhnung, das klingt nun neu, denkt die Ilse. „Was machst du dann so allein?“ fragt treuherzig Waltraud „Geht es dir denn gut, so ohne Mann und Kind herumwirtschaftend, in einer Wohnung, die nach Hundegeruch stinkt? Oh, meingott, wenn ich mir das vorstelle, Kind!“ Die Ilse zwingt sich zur Geduld und sagt der Stiefmutter, nun ist nun mal die Scheidung geschehen und war die beste Lösung für alle. Und nun kommt Manuel jede Woche einmal zu ihr, der Mutter, und fühlt sich dabei wohl und versteht sich mit ihr hervorragend! Waltraud piekst und zweifelt, sie sagt grüblerisch: „Wie das alles so gelaufen ist, das habe ich nun noch gar nicht verstanden. Willst du es mir nicht einmal erzählen?“ Waltraud lädt die Ilse zum Kaffee ein, denn sie bäckt einen Hefezopf für den Tag von Heilig-Drei-König. Und dann wollen sie endlich mal richtig reden. „Soll ich wirklich zu euch hinkommen“, fragt die Ilse. An jenem Wochenende hat sie keine Schicht. Aber sie müsse sich die Zugverbindung mal ansehn, denn sie habe ja jetzt kein Auto mehr. „Mach das, Kind,“ sagt Waltraud. „dann bleibst du einen oder zwei Tage, und fährst wieder ab.“ Ilse hängt den Hörer ein und grübelt vor sich hin. Vielleicht wird alles doch besser werden?

Der Johnny wird von der Nachbarin versorgt, um nicht bei Waltraud einen Aufruhr zu verursachen. Als Ilse fünf Tage später vor der gerillten, alten Milchglastüre steht und klingelt, bleibt es lange still. Sie hat ihre Taschen abgestellt und lugt durch das Fenster hinein. Dann kruschtelt endlich Waltraud hinter der Türe und öffnet langsam. „Ach so, du bist es,“ sagt sie zerstreut. „ja, die Einladung!“ Sie führt die Stieftochter ins Haus hinein und lugt auf die zwei dicken Taschen. „Was hast du so viele Sachen dabei?“ fragt sie kühl. Dass die Ilse eine neue Frisur hat, fällt ihr nicht auf. Sie gehen ins Wohnzimmer, wo noch Teller und ein angeschnittener Hefezopf herumstehen. Waltraud erklärt weitschweifig, dass ihre Damenrunde hier zu Besuch war, und sie hätten sich sehr amüsiert. Sie erklärt, dass die fünf Damen seit einem Jahr regelmäßig zu ihr kämen zum Literaturkreis. Und Waltraud, die sich seit ihrer Jugend mit den grammatisch schönen Versen von Rilke und George befasste, habe den Vorsitz in diesem Kreis, und gebe immer ein Buch zur Anregung vor. „Wir haben uns zusammengesetzt und sehr fruchtbar über den Tod in Rilkes Dichtung diskutiert.“ Sie erklärt des Langen und Breiten, worum es sich ihrer Meinung nach handle. Ilse schält sich aus dem Mantel und wendet sich nach der Garderobe, draußen auf dem Flur. „Hach bist du nervös, Kind, ich kann das nicht ansehn,“ sagt Waltraud gekränkt. Und sie nimmt scheppernd die gebrauchten Teller vom Tisch auf und verschwindet in die Küche. Ilse geht hinter ihr her und will ihr beim Tee helfen. „Ach du lieber Gott, Kind, du nimmst ja nur falschen Tassen, das lass mal bleiben“, sagt Waltraud, so dass Ilse resigniert in der Ecke stehenbleibt. Zahm erzählt Ilse von der Bahnfahrt, und dass sie vom Zigarettenrauch im Abteil fast erstickt wäre, weil bei den Nichtrauchern kein Platz mehr war. Waltraud sucht das gute Besteck für den Vati aus der Schublade. „Nimm das mal, ja? Der Vati kommt auch noch.“ Die Ilse deckt den Tisch im Wohnzimmer neu. Danach darf sie auf dem Sofa sitzen und Kaffee trinken, während Waltraud misstrauisch nach dem Hund fragt, nach der Wohnung und nach dem Manuel.
Ilse sagt ihr die genauen Zeiten, wann der Manuel zu ihr nachhause kommt und sie zusammen kochen und essen. Da kruschtelt es an der Wohnungstüre, auch der Vati ist heimgekommen. „Hallo Waltraud. Tag, Ilschen!“ Er hat den Mantel abgelegt und läßt sich in den Sessel fallen. „Bist jetzt da, Ilse? Hast du schon von Waltrauds gutem Hefezopf probiert?“ Die Ilse hat davon noch nichts bekommen, und selbst nehmen hat sie sich nicht getraut.

„Was machst du denn dann mit deinem Sohn? Ist er gesund? Hat er keinen Kalziummangel?“
Nein, sagt Ilse, er habe bestimmt keinen Kalziummangel. „Hast du dich darum gekümmert?“ fragt Waltraud weiter. „Hat er gute Zähne? Keine Flecken auf den Fingernägeln?“ „Ach Mutti, das weiß ich nicht, ob er Flecken auf den Fingernägeln hat.“ „Aber du solltest sichergehen,“ trumpft Waltraud auf. „Du solltest nachsehen! Eine gute Mutter weiß so etwas ja.“ „Ich habe nicht nachgesehn, Mutti!“ „Da siehst du. Und Obst essen, du weißt, fünf Hände voll!“- „Ja, Mutti, das weiß ich.“- „Weil ich es dir gesagt habe“, sagt Waltraud, „weil ich es im Gesundheitskurier der Ärzteschaft gelesen habe! Aber du hast es nicht gewusst!“ –“Hat jemand von euch die Ergebnisse der schwedischen Skimeisterschaft gehört“, fragt Vati. „Ach Vati, die weiß hier keiner,“ murmelt Waltraud. Fragt Vati die Ilse: „Wie lange warst du jetzt mit der Bahn unterwegs?“ Und Ilse erzählt noch mal von der Bahnfahrt. „Und der Lutz ist recht fleißig, ja? Pflegt er noch Kontakt mit dieser Gräfin?“ „Das weiß ich nicht, Mutti,“ erwidert Ilse, die sich im Zaum hält: „Für seine Arbeit interessier ich mich nicht mehr so! Ich seh ihn auch nicht mehr, dies Kapitel ist jetzt beendet.“ Schmollend sieht Waltraud sie an: „Wieso beendet,“ fragt sie: „Du kannst doch nicht alles abbrechen mit ihm. Er ist der Vater deines Sohnes, und er hat dir außerdem geholfen in deiner verlotterten Situation.“- Ilse schluckt ihren Hefezopf hinunter und hebt die Augen nicht mehr vom Teller. „Seh ich anders, Mutti,“ haucht Ilse. „Nein, das kann ich nicht verstehen, “ sagt Waltraud, „das ist mir nachgerade ein Rätsel, wie du den Lutz wegwerfen kannst. Er hat dir doch geholfen, als du
in diesen windigen Arbeitsverhältnissen warst und wenig Geld hattest!“ Ilse ärgerte sich nun doch, „Ich und wegwerfen? Also ich weiß nicht, wie du dazu kommst, Mutti, wirklich…“ „Ja, Ilse, aber das ist doch die Wahrheit. Erstens ist der Bund der Ehe keine Kleinigkeit, damit spielt man nicht. Und dann auch noch der Lutz, ein so fähiger, kultivierter Mann! Sieh dich doch an, was er für eine große Welt mitbrachte. Und was hast du jetzt, wo du alleine dastehst- den Hund und dein Krankenhaus. Eine schöne Welt.“ Die Ilse möchte Waltraud jetzt am liebsten auf den Kopf hauen, oder sie mit Knopfdruck endlich dazu bringen, ihre Klappe zu halten. „Nein, wirklich, Mutti,“ sagt sie verärgert und weiß nicht mehr weiter. „Und dann noch, dieser lockere Umgang mit der Ehe, heutzutage,“ ruft Waltraud aus. „Du und die jungen Flittchen von heute, ihr habt doch keine Art und kein Verständnis mehr davon. Die Frau hat beim Mann zu bleiben, der Mann ist ein Felsen, der…“ Ilse ruft nochmals: „Nein, Mutti, nein, es reicht. Ich kann das nicht verstehen, ich..“ Und Vati zündet sich ein Zigarillo an und sagt behäbig eine Redewendung zum Thema Ehe mit den Worten Töpfchen und Pfröpfchen, einen hässlichen Spruch, dass man ihn hier nicht wiedergeben kann.
„Widerworte gibst du noch? Lass dich besser belehren“ ruft Waltraud aus, und springt hoch. Nun beginnt der Fuß zu stampfen, Waltraud bebt: „Un-dankbar und un-belehrbar, so bist du immer gewesen!“- Ilse ihrerseits begehrt auf und springt hoch. „Wie kommst du dazu, Mutti!“- „Un-be-lehrbar, und das mir, uns, den guten Eltern! Es ist ha- ne-büchen!“ Sie stampft und schreit im Rhythmus, während Ilse fassungslos zusieht. „Ha-ne-büchen! Ich kann das nicht mit ansehen, wie ein Teil meiner Familie so verlottert und alles mit Füßen tritt- ah- ah- aallles!“ Für Waltraud ist wieder kein Halten mehr, und die anderen zwei beobachten, wie sie zuckend ihren Abscheu kundtut. „A-a-aaah! Rüdiger, hilf mir doch!“ Und schon dreht sie sich um und verschwindet im Badezimmer, wo sie die Türe verschließt und recht effektvoll dagegen trommelt. Ein epileptischer Moralanfall, wie ihn die Familie schon von ihr kennt. Ilse und der Vati sehen einander schweigend an. Er rührt weiter in seinem Kaffee, während Ilse nun pflichtbewusst zur Badezimmertüre hin geht und klopft: „Mutti, lass doch das sein! Mutti, mach doch auf!“ „A-A-Aaach!“, ruft Waltraud. „Ihr alle tretet mich mit Füßen, ihr alle!“ und Ilse muss abwarten, und dem Schimpfen weiter zuhören. Später geht sie hinüber zum Vati, deckt schweigend den Tisch ab.
Als Waltraud aus ihrem Gehäuse hervorkommt, sieht die Ilse sich geduckt nach ihr um. Vati ist jetzt aufgestanden aus seinem Sessel und versucht Waltraud zu besänftigen. „Ach, ich kann es nicht ertragen, nein.“ hört die Ilse nur, und sie duckt sich weiter. Endlich bleibt die Waltraud vor ihr stehen, reckt sich hoch und sagt ihr: „Deine Lebensführung, Kind, versteh ich nicht. Aber ich kann dich und deine Widerworte nicht ertragen. Gute Nacht!“ Und sie macht klar, dass Ilse gleich wieder gehen kann mitsamt ihrem Gepäck. Als sich Waltraud nach oben ins Schlafzimmer verzieht, ist für den Vati klar, er soll die Ilse jetzt aus den Augen Waltrauds schaffen. Von drüben, vom unbeleuchteten Korridor her, schaut der Vati zu ihr rüber: „Gott, du weißt ja, Ilschen, wie die Stiefmutti ist.“- „Vati, das ist nicht richtig von ihr.“ Dann steht er ratlos. Soll die Ilse jetzt einfach weggehen? Wo soll sie hin, welcher Zug fährt jetzt noch zurück? Und die Ilse erträgt das Schweigen nicht und sie gibt ihm einen Rat. „Fahr mich zum Zoo, Vati. Wenn der Guntram noch da ist, wie früher, dann kann ich doch dort bleiben.“ Und er nickt und zuckt gleichgültig mit den Schultern: „Also, gehn wir.“

So kommt es ,dass die Ilse ihre Taschen wieder nimmt, wenige Stunden nachdem sie im alten Elternhaus angekommen war. Und so kommt es, dass sie, die ihre Stiefmutter und ihren Vater zum Familiengespräch treffen wollte, jetzt zum Zoo hinfährt, um sich unsichtbar zu machen. Sie setzt sich mit dem Vati ins Auto und dann fahren sie in die Nacht hinaus, durch die schon einsamen Straßen, zum Zoo. „Sonst ist sie ja tüchtig, die Waltraud, mit ihrer Klinik,“ sagt einmal der Vati. Aber Ilse schweigt und hätte am liebsten geweint. Beim Zoo angekommen, hebt sie die Taschen hinaus und sucht das alte Klingelportal neben dem PassantInnen-Eingang. Sie findet die Klingel für die Wärter, und der Vati wartet im Auto. Tatsächlich rührt sich was, und um die Ecke erscheint ein Wärter beim Portal und redet die Ilse an. Es ist nicht der Guntram, aber ein guter Bekannter von ihm. Die Ilse dreht sich nach Vati um und winkt. Der Vati winkt zurück, und dann setzt er sich zufrieden wieder ins Auto und läßt schon den Motor anrollen. In einer Minute ist er weggefahren.
„Ich war eine Freundin vom Guntram und hab hier auch gearbeitet“, sagt Ilse. „Ja, wirklich? Und was machst du denn hier jetzt?“ Ilse versucht zu erklären. Es kommt ihr nicht so einfach vor. „Ich müsste hier übernachten. Da war doch das Zimmer, wo die Auszubildenden auch schlafen. Habt ihr noch Platz, ich meine, für heute?“ Der Wärter, ein baumlanger Mann, schaut sie reglos an. Er verwundert sich nicht dermaßen, wie sie befürchtet hat. Er sagt nüchtern: „Mh, es könnte recht unordentlich sein, das Zimmer.“ Und er öffnet einfach das Portal und läßt die Ilse hinein, die nun so viele Jahre nicht mehr hier war. Sie geht hinter ihm hinein und erkundigt sich nach dem Guntram. Der habe geheiratet, sei nach Baden-Württemberg gezogen, immer noch Tierpfleger. „Na so was, da bist du eine Kollegin“, sagt der Lange, und er sieht sie freundlich an. Er macht die nächtliche Runde bei den großen Tieren. Er führt die Ilse zu dem Wärterhaus, wo es hinter dem erleuchteten Korridor die Kochnische mit dem Tisch und dem Kühlschrank gibt, und wo das alte Zimmer geöffnet ist.

Ich stelle mir vor, wie Ilse mit einem vertrauten Empfinden die Wege zwischen den Tierkäfigen entlanggeht und den scharfen Geruch in die Nase bekommt- eine Stunde nachdem sie mit den Eltern am Kaffeetisch saß. Vielleicht kam ihr das ganz einfach und praktisch vor, jetzt und heute hier zu sein! Und wie sie in dem Dunkel einige Tierstimmen hört aus dem Gebüsch, aus den unerleuchteten Käfigen, hinter den Wassergräben. Vielleicht hört sie, wie eine Hyäne jammert, ein Büffel rauschend das Wasser läßt. In dieser sonderbaren Friedlichkeit möchte sie vielleicht gern eine Begrüßung hören, die ihr gilt. Aber immerhin denkt sie sich vielleicht, es ist Frieden. Dort ist das Gehege der Antilopen, dort drüben die Löwen…Hier hat sie gearbeitet vor Jahren, und sich mit dem Guntram, der sanft und gutmütig war, über die Tier unterhalten. Selten auch mal haben sie über ihre Familien geplaudert. Vielleicht ruft Ilse diese angenehme Erinnerung an ihre alte Stadt wach. Ich denke mir, dass Ilse mit schlummerhaft-nebligem Gefühl in dieser Finsternis tappt und vielleicht aufatmet,
als sie das Wärterhaus erreicht neben dem Affenkäfig. Das Zimmer ist schlecht geheizt, sie dreht die Heizung auf und muss warten.
Sie sagt sich vielleicht zögerlich, nachhause zu kommen. Und lauscht dem Gebrüll der Affen, die hier noch lang ausscheren und lachend, springend, keine Ruhe geben. Die Taschen abgestellt, kann sie sich hier dieses Bett vorbereiten in der einsamen Nacht neben dem Affenkäfig- es ist noch frische Bettwäsche da, und sie darf sich auch Tee kochen in der kleinen Küche. Der lange Wärter, der Volker heißt, redet noch einige Takte mir ihr. Das tut ihr jetzt gut, und sie kommt wirklich noch mal ins Plaudern über ihre Vergangenheit, über den Guntram und die Arbeit. Der Volker zeigt sich als ein praktischer und freundlicher Mensch. Er verabschiedet sich dann und geht wieder seine Runde. Und Ilse macht sich zum Schlafen bereit. Wie schlief sie dann in dieser Nacht, nach der Einladung in ihr Elternhaus, wo der stiefmütterliche Wutanfall sie vertrieb in die Kälte?
Nach diesem Vorfall hat sie die Stiefmutter jahrelang nicht gesehen. Und in dem Kontaktabbruch führte Ilse ihr eigenes Leben fort, sie traf ihren Sohn wöchentlich und sie arbeitete. Für Reisen hatte sie nie die Energie und auch kaum Geld übrig. Dann arbeitete die Ilse, soweit ich weiß, vierzig Jahre lang, ohne eine längere Pause einzulegen und ohne sich außerordentlich zu beurlauben. Sie lebte gleichsam in einem ruhigeren Takt und vergaß vieles, ihre frühere Ehe, ihre Jugend, und die Beschimpfungen und Kränkungen durch beinahe jeden in ihrer Kindheit, in der Atmosphäre dieser sittsamen Familie. Sie wurde unempfindlich und ruhig.
Auch noch bei der Arbeit wirkte diese Unempfindlichkeit, schlecht bezahlt und körperlich beansprucht als Krankenschwester, harrte sie aus. Lohnkürzungen und jede Änderung nahm sie hin, was hatte sie mitzureden? Als Waltraud starb, dreißig Jahre später, machte sich Ilse nochmals auf, um sie zu besuchen. Wieder fuhr sie mit der Bahn in die alte Stadt, und dort nahm sie den Bus, um zum Krankenhaus zu fahren. Dort lag Waltraud, hochbetagt, im Bett mit einem plötzlich festgestellten Nierenkrebs. Sie hatte innerhalb von Tagen ihr scharfes Bewusstsein eingebüßt.
Aber sie erkannte Ilse noch, als diese das Zimmer betrat. „Was willst du hier? Geh wieder!“ rief Waltraud erbost, und Ilse wartete ab, ob sie sich beruhigen würde. „Was willst du? Also gut, ich verzeihe dir, ich verzeihe dir!“ rief Waltraud. Und Ilse zuckte mit den Schultern und machte ein unklares Geräusch mit den Lippen. Sie legte die Blumen auf den Tisch, die sie mitgebracht hatte. Und unter weiteren empörten Rufen von Waltraud entfernte sie sich dann.
Ilse erlebte in dieser Zeit erstmals ihre Rentenzeit und genoss es, länger ausschlafen zu können. Sie verbrachte ihre Zeit erstmals damit, viele Kurse der Volkshochschule zu besuchen, trainierte Englisch, lernte Computerbedienen. Sie sagt, sie wäre zufrieden, auch wenn das Geld kaum mehr war als staatliche Grundsicherung- es reichte gerade hin, um das Katzenfutter zu bezahlen.